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Streiken bis nichts mehr geht

Branchenübergreifend sind sich die Griechen einig, keine weiteren Kürzungen mehr hinzunehmen

Von Anke Stefan, Athen *

»Wir schließen für einen Tag, damit wir nicht endgültig dicht machen müssen«, heißt es auf den Plakaten des griechischen Einzelhandelsverbandes. Und tatsächlich blieben am Mittwoch erstmalig auch die Mehrheit der aus kleinen Familienbetrieben bestehenden Läden bei einem Generalstreik geschlossen. Bereits die vergangenen Maßnahmenpakete hatten Griechenland nicht etwa aus der Schuldenkrise heraus-, sondern in eine Wirtschaftskrise sondergleichen hineingeführt.

Unzählige Läden sind bereits in Konkurs gegangen, die Arbeitslosenquote ist landesweit seit Ende 2009 um sieben auf 16,6 Prozent gestiegen. Nun sind die Griechen aufgefordert, ein weiteres Mal ihren längst im letzten Loch angekommen Gürtel enger zu schnallen: Mit einer am Donnerstag verabschiedeten Gesetzessammlung werden Löhne und Renten erneut beschnitten, der Steuerfreibetrag unter die Armutsgrenze auf 5000 Euro gesenkt und mehrere zehntausend Staatsbedienstete entlassen. Dagegen setzten sich Millionen von Menschen in einem zweitägigen Generalstreik am Mittwoch und Donnerstag zur Wehr.

Ausstände häufen sich seit Krisenbeginn

Es war der zwölfte Generalstreik insgesamt seit Verhängung der ersten Sparmaßnahmen im Frühjahr 2010 und bereits der zweite zweitägige Ausstand in diesem Jahr. Doch auch die Wochen davor waren von einer beispiellosen neuen Welle des Widerstands gekennzeichnet. Seit Beginn des Monats besetzen öffentliche Angestellte fast jeden Tag Rathäuser, die Gebäude von Ministerien und Behörden. Neben den neu verabschiedeten Kürzungen werden den Staatsbediensteten nun bis zum Jahresende rückwirkend auch die bisher beschlossenen Gehaltsstreichungen abgezogen, so dass vielen buchstäblich nicht einmal mehr genug für eine Mahlzeit am Tag übrig bleibt.

Aufgebrachte Staatsbedienstete schwenken ihre Gehaltsabrechnungen vor den laufenden Fernsehkameras. »Fünfzig Euro«, schreit ein Beamter wütend, »das ist alles, was mir vom Oktobergehalt ausgezahlt wird. Wie soll ich davon leben?« Andere werden überhaupt nicht mehr bezahlt. »Das Oktobergehalt habe ich noch bekommen«, meint Evi, die bei der öffentlich finanzierten Drogenhilfe KETHEA arbeitet. »Doch jetzt hat der Staat uns komplett die Mittel gestrichen. Niemand weiß, wie es weitergehen soll.« Trotzdem ginge es ihr besser als Angestellten bei anderen staatlichen Sozialeinrichtungen. »Ich habe Kollegen, die bereits seit Monaten kein Geld mehr gesehen haben.« Hoffnung auf Besserung hat Evi nicht. »Wenn schon bei den Wählern derart gnadenlos gekürzt wird, gibt der Staat sicher erst recht kein Geld mehr für Obdachlose oder Drogenabhängige aus.« Widerstandslos hinnehmen will sie dies aber nicht. Mit Kollegen war sie deshalb auch bei vorherigen Streikdemonstrationen dabei.

Bereits seit Monaten vergeht in Griechenland kein Tag mehr, an dem nicht irgendeine Berufsgruppe die Arbeit niederlegt. Derzeit sind es aber nicht eine oder zwei Branchen, sondern eine Vielzahl von Berufen, die täglich im Ausstand sind. Auch an Dauer und Heftigkeit haben die Streiks zugenommen. So sorgte ein mehr als zweiwöchiger Streik der Gemeindearbeiter in Verbindung mit Besetzungen von Müllhalden und Betriebshöfen für meterhohe Müllberge in den Straßen der Städte. Selbst der Versuch, die Müllabfuhr durch die Drohung der Vergabe der Arbeit an private Firmen und der Entlassung der Müllarbeiter zur Aufgabe zu bewegen, scheiterte. Ende letzter Woche räumten private Müllunternehmen unter Polizeischutz die Straßen Athens, während Sondereinheiten der Polizei in der Nacht zum vergangenen Sonntag gewaltsam die Barrikaden der Streikenden an der Müllhalde der Hauptstadt durchbrachen. Am Dienstag schließlich wurden die Müllfahrer per Regierungserlass zum Dienst verpflichtet. Demokratie sieht anders aus.

Reihenweise geben denn auch Gewerkschafter ihre Parteiausweise zurück. Mitte Oktober verließ die bisher der Regierung nahestehende Gewerkschaftsfraktion PASK bei der griechischen Eisenbahn geschlossen die sozialdemokratische Regierungspartei PASOK. Die konservative Oppositionspartei Nea Dimokratia dagegen schloss kürzlich einen ihrer Spitzenfunktionäre aus. Nach anfänglicher Unterstützung der Streiks der Taxifahrer, war Parteichef Antonis Samaras deren Militanz und die Radikalität des Vorsitzenden der Athener Taxifahrerinnung, Thimios Lyberopoulos, unheimlich geworden. Dieser hatte gedroht, man werde sich alle Parlamentarier vornehmen, die es wagten, der geplanten Liberalisierung des Taxistandes zuzustimmen. Solche Drohungen sind durchaus ernst zu nehmen. Aus Angst vor Beschimpfungen, Eier- und Joghurtwürfen, aber auch tätlichen Angriffen, wagt es bereits seit Monaten kaum ein Politiker mehr, ohne Polizeischutz in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Auch die Anzahl der Massendemonstrationen ist beeindruckend. Insgesamt hat die Polizei mehr als 1000 Demonstrationen seit Beginn des Jahres gezählt, seit Anfang Oktober ziehen täglich mehrere Demonstrationszüge durch die Straßen Athens. Die neue Welle hat viele derjenigen auf die Straße zurückgeholt, die nach den riesigen aber erfolglosen Protestmärschen im vergangenen Jahr frustriert weggeblieben waren. Doch einfach ist die Entscheidung zur Teilnahme am Streik oder einer Demonstration für den Einzelnen nicht. Maria, die beim letzten Generalstreik vor zwei Wochen noch dabei war, ist diesmal doch zur Arbeit angetreten. »Einen Tageslohn habe ich diesen Monat schon verloren, noch einmal kann ich mir das nicht leisten«, meint sie. Sicherlich seien letztendlich die Kosten der verhängten Maßnahmen wesentlich höher als jeder Einsatz für den Widerstand, gibt sie zu. »Aber momentan brauche ich den anderen Fünfziger einfach dringend, damit ich die laufenden Rechnungen bezahlen kann.« Wie Maria denken viele und wer nicht beim Staat sondern in der privaten Wirtschaft arbeitet, muss neben dem Verlust seines Tageslohns auch um den Arbeitsplatz bangen.

Andere suchen ihr Auskommen gleich woanders. Besonders junge Leute, die Enkel der Gastarbeiter aus den 60er Jahren, sind entschlossen, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Im Gegensatz zu ihren Großeltern, die größtenteils als ungelernte Arbeitskräfte in die Fremde gingen, verlassen heute die gut Ausgebildeten in der jungen Generation das Land. Eine von ihnen ist Konstantina, die plant, nach Afrika oder Australien zu gehen. »Da werden Geologen gesucht und gut bezahlt«, meint die junge, kurz vor dem Examen stehende Geologiestudentin. »Hier gibt es doch sowieso keine Arbeit und das wird sich auch so schnell nicht ändern.« Nach Angaben des europäischen Portals für Arbeitsmigration innerhalb der EU, Europass, haben sich allein im September diesen Jahres 12 500 Griechen für Arbeit in einem anderen EU-Land beworben. Insgesamt sind bei Europass in den ersten neun Monaten des Jahres bereits eingegangen, über 20 000 mehr als im gesamten Vorjahr.

Auch die Jüngsten beteiligen sich

Selbst die, die für Auswanderpläne noch viel zu jung sind, nehmen am Kampf um die eigene und die Zukunft des Landes teil. Besetzungen der Mittel- und Oberschulen wegen unzureichender Mittel oder fehlender Bücher hat es auch in anderen Jahren gegeben. Diesmal aber halten die Schüler seit Mitte September gleich mehrere hundert Bildungseinrichtungen besetzt. Denn mit den neuen Plänen der Bildungsministerin sind überall Schulen zusammengelegt und Fördereinrichtungen gestrichen worden. Mit dem Ergebnis, dass gerade in finanziell schwachen Gegenden eine Klassenstärke von über 30 Kindern zur Regel geworden und jede Fördermaßnahme für sprachschwache, behinderte oder anderweitig auf besondere Unterstützung angewiesene Kinder entfallen ist. Hilfe erhalten die Schüler vom eigenen Lehrpersonal, dem gleichzeitig die Bezüge drastisch beschnitten wurden. Lag das Einstellungsgehalt für einen Mittel- oder Oberstufenlehrer im Dezember 2009 noch bei 1099 Euro netto, hat sein neueingestellter Kollege heute nur noch 681 Euro monatlich in der Tasche.

»Ich habe in meinem Leben nie Schulden gemacht und nun soll ich plötzlich kein Auskommen mehr haben?«, meint Angeliki, die zusammen mit den Kollegen bei der Gemeinde Korydallos an der Generalstreikdemonstration am Mittwoch teilnahm. Ihr Sohn hat die Aufnahmeprüfung für die Fachhochschule geschafft, aber nun wird das Geld nicht mehr reichen, um ihn auch dort studieren zu lassen. »Deswegen legen wir jetzt für zwei Tage alles lahm«, meint Angeliki hoffnungsvoll. »Mal sehen, was wir damit erreichen können.«

* Aus: neues deutschland, 22. Oktober 2011


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