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"Die Mehrheit findet den Arbeitskampf gerecht"

Seit über elf Wochen werden in Athen fast täglich die öffentlichen Verkehrsmittel bestreikt. Ein Gespräch mit Giannis Kiousis


Giannis Kiousis vertritt die kommunistisch orientierte Gewerkschaftsfront PAME in der Gewerkschaft der Busfahrer Athens, EThEL.

Seit dem 10. Dezember 2010 wird im griechischen Nahverkehr gestreikt. Worum geht es?

Wir wehren uns vor allem dagegen, daß nach dem Willen der Regierung und der EU Teile des öffentlichen Nahverkehrs privatisiert werden sollen.

Aber ist der öffentliche Nahverkehr nicht ohnehin schon teilweise privatisiert?

Nein, Teile des öffentlichen Nahverkehrs, die Metro oder die Tram z. B., arbeiten zwar wie privatwirtschaftliche Unternehmen, gehören aber dem Staat. Mit dem neuen Gesetz sollen diese und andere Teile des öffentlichen Nahverkehrs nun an Private gehen.

Verkauft werden sollen die gewinnbringenden Teile, wie Bau und Wartung oder profitable Strecken, so etwa die Buslinie zum Flughafen. Die hat einen teureren Tarif hat das übrige Netz.

Was fordert die PAME?

Der öffentliche Nahverkehr gehört unter staatliche Kontrolle, nicht nur in Athen, sondern im ganzen Land. Gleichzeitig könnten wir mit einer anderen, nichtkapitalistischen Form von Wachstum unsere eigenen Bahnen, Schienen, Busse und Wagons bauen, die von einem ebenfalls staatlichen Energiesektor mit billigem Treibstoff versorgt werden. Alles würde von Arbeitern mit sicheren Arbeitsplätzen, menschenwürdigen Löhnen und Rechten geschaffen. Unsere Forderungen bewegen sich also genau in die entgegengesetzte Richtung zu EU und griechischer Regierung. Die sagen: Das interessiert uns nicht, ob du mobil bist, es interessiert mich nicht, ob dein Ticket teuer ist, ich will gewinnbringendes privates Kapital.

Das sehen aber nicht alle in den Gewerkschaften des öffentlichen Nahverkehrs so ...

Nein, leider gibt es in allen Gewerkschaften regierungsnahe Vertreter, die genau diese Politik umsetzten helfen. Im öffentlichen Nahverkehr haben wir insgesamt 19 Einzelgewerkschaften, von denen unsere, die der Busfahrer, mit 5 200 Mitgliedern die größte ist. Die kleinsten haben dagegen nur 20 bis 30 Mitglieder. Überall dort, wo die Fraktionen von liberal-konservativen Nea Dimokratia und der sozialdemokratischen PASOK die Mehrheit stellen, wird versucht, das neue »Gesetz zur Reform des öffentlichen Nahverkehrs« so reibungslos wie möglich durchzusetzen. Aber die wachsende Wut an der Basis setzt auch die regierungsnahen Gewerkschaftsvertreter unter Druck.

Die Mobilisierungen haben aber das von den Medien weidlich ausgenutzte Problem, daß Streiks im Nahverkehr die Bevölkerung treffen.

Klar will jemand, der morgens zur Arbeit muß, den Bus, die Bahn, die Metro zur Verfügung haben. Uns ist klar, daß wir hier Probleme verursachen. Aber die stammen nicht von uns. Mit den Streiks wehren wir uns gegen einen Angriff der Regierungspolitik an allen Fronten. Überdies versuchen wir möglichst verantwortungsbewußt zu agieren, indem wir, abgesehen von den ganztägigen Ausständen, vor allem in den Mittagsstunden die Verkehrsmittel lahmlegen.

Andererseits sollten die Leute wissen, daß die Regierung bereits jetzt Fahrten und ganze Linien gestrichen hat. Die Busse fahren weniger häufig, auf weniger Linien und zu teurerem Ticketpreis.

Dagegen wehren wir uns und deswegen haben wir auch kein schlechtes Gewissen zu streiken. Das verstehen wohl auch die Menschen hier, denn nach von der Regierung selbst in Auftrag gegebenen Umfragen findet die Mehrheit der Befragten unseren Arbeitskampf gerecht. Auch wenn sie gleichzeitig natürlich angeben, daß sie dadurch Unannehmlichkeiten haben.

Das Gesetz ist inzwischen verabschiedet. Was nun?

Die Abstimmung über die Reform ist ein Schritt, jetzt kommt es darauf an, ihre Umsetzung zu verhindern. Hindernisse zu errichten, gegen die Aushebelung des Achtstundentages. Wir wollen verhindern, daß in den staatlichen Betrieben Jugendliche für 740 Euro brutto ohne geregelte Arbeitszeiten und ohne Recht auf Urlaub eingestellt werden. All diese Regelungen müssen wir bekämpfen. Die Gesetze mögen vielleicht von der Regierung und ihren Steigbügelhaltern durchgestimmt worden sein, aber in der Praxis können wir sie durchaus ausbremsen.

Interview: Heike Schrader, Athen

* Aus: junge Welt, 8. März 2011


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