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Aufruf zum Widerstand

Proteste in Griechenland nach öffentlichem Selbstmord

Von Heike Schrader, Athen *

Nach dem öffentlichen Selbstmord von Dimitris Christoulas am Mittwoch (4. April) in der griechischen Hauptstadt wurde für Freitag abend (6. April) im Internet erneut zu Protesten aufgerufen. Bereits am Mittwoch, aber auch am Donnerstag hatten am Syntagmaplatz Demonstranten gegen diesen »Mord durch Staat der Gläubiger« protestiert. Dabei ging die griechische Bereitschaftspolizei brutal gegen alle vor, die sich dem Parlament nähern wollten. Unter anderem wurde der Vorsitzende der Vereinigung griechischer Fotoreporter, Marios Lolos, durch Knüppelschläge schwer verletzt und muß wegen Schädelbruchs operiert werden. Gegen die brutale Polizeigewalt demonstrierten am Freitag mittag Journalisten, Fotoreporter und Techniker vor dem Ministerium für öffentliche Ordnung in Athen.

Der 77jährige Rentner hatte sich aus Protest gegen die Austeritätspolitik am Mittwoch nachmittag auf dem Syntagmaplatz direkt vor dem griechischen Parlament in Athen erschossen. Er wolle weder seinen Kindern Schulden hinterlassen, noch gezwungen sein, »im Müll nach Essen zu suchen«, heißt es in seinem Abschiedsbrief. Die neue Kollaborateursregierung habe jedoch ein würdiges Leben aufgrund einer Rente, für die er 35 Jahre ohne jede staatliche Unterstützung Beiträge gezahlt habe, mit ihrer Kürzungspolitik zunichte gemacht. Entgegen den Berichten in- und ausländischer Medien war Christoulas weder verschuldet, noch verübte er aus Verzweiflung Selbstmord. Er wähle diesen »würdigen Abgang«, weil ihm in seinem Alter die Kraft für einen bewaffneten Widerstand fehle, schrieb Christoulas in seinem Abschiedsbrief, auch wenn er nicht ausschließen wolle, daß er der zweite gewesen wäre, »wenn ein Grieche die Kalaschnikow ergriffen hätte«. »Ich glaube, daß die Jugendlichen ohne Zukunft eines Tages zu den Waffen greifen und die Verräter an der Nation auf dem Syntagmaplatz an den Füßen aufhängen werden, wie es die Italiener 1945 mit Mussolini taten«, heißt es weiter. Christoulas gehörte zu den linken Aktivisten der »griechischen Empörten« vom Sommer vergangenen Jahres und war bis zu seinem Freitod in den daraus entstandenen Stadtteilversammlungen aktiv.

Ihr Vater sei »sein ganzes Leben ein linker Aktivist, ein selbstloser Utopist« gewesen, erklärte die Tochter des Verstorbenen auch angesichts des von den Medien zur Verzweiflungstat verdrehten Freitods. »Seine konkrete Art aus dem Leben zu scheiden ist eine bewußte politische Aktion, vollständig im Einklang mit allem, was er geglaubt und getan hat, solange er lebte.«

Hunderte von Kerzen, Blumen und Botschaften wurden unterdessen bereits in den letzten Tagen am Syntagmaplatz niedergelegt. »Der Name des Toten ist Demokratie, wir Überlebenden sind elf Millionen, und unser Name ist Widerstand«, heißt es auf einer von ihnen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 7. April 2012


Menetekel am Syntagma-Platz

Demonstranten lasten Suizid eines Rentners der griechischen Regierung an

Von Ingolf Bossenz **


Nach dem Suizid eines wegen seiner sozialen Lage verzweifelten Rentners ist es in Athen zu Massenprotesten gegen die Sparpolitik der Regierung gekommen.

Dimitris Chrystoulas (77) hatte am Mittwoch um 9 Uhr seinem Leben ein Ende gesetzt. Mitten in Athen, auf dem Syntagma-Platz, schoss er sich in den Kopf.

Der ehemalige Apotheker hatte in einem Abschiedsbrief erklärt, er »finde keine andere Lösung als die eines würdevollen Endes, bevor ich anfange, im Müll zu suchen, um mich zu ernähren«. Grund für seine Notlage, so Chrystoulas, sei, dass sein »Überleben, das durch eine würdevolle Rente gesichert sein sollte, die ich selbst (ohne staatliche Hilfe) über 35 Jahre eingezahlt habe«, bedroht sei. Er soll zudem an einer Krebserkrankung gelitten haben.

Die spektakuläre Tat bringt zugleich die hohe Suizidrate Griechenlands in die mediale Öffentlichkeit. Wegen der schweren Wirtschaftskrise ist in den vergangenen beiden Jahren ein Anstieg der Selbsttötungen um 40 Prozent zu verzeichnen gewesen.

Es habe sich nicht um einen Freitod, sondern um einen »vom Staat verübten Mord« gehandelt, riefen denn auch Demonstranten, die sich auf dem Syntagma-Platz versammelt hatten, um gegen die Sozialabbau-Politik der Regierung zu protestieren. Mehrere tausend Menschen kamen zu dem Ort, an dem sich auch das Gebäude des Parlaments befindet. Die Situation eskalierte, als aus der Menge heraus Brandsätze auf Polizisten geworfen wurden und diese Tränengas einsetzten.

Den Kontrast zu den Zusammenstößen bildete indes die stille Trauer vieler Athener, die des Rentners gedachten. Am Fuß der Zypresse, vor der sich Chrystoulas erschossen hatte, legten sie immer neue Blumen, Kerzen und Trauerbotschaften nieder. Zu lesen war dort: »Getötet durch die Diktatur der Gläubiger« oder »Sein Blut auf euren Händen, Ihr Verräter«.

In Sachen Kampf gegen Diktatur hatte der Syntagma-Platz am 10. Mai 1974 Geschichte gemacht. Damals kettete sich Günter Wallraff als Delegierter des »Ausschusses Griechenland-Solidarität« dort an einen Laternenmast und verteilte Flugblätter gegen die herrschende Militärjunta. Die daraufhin gegen ihn verhängte mehrmonatige Haft beschrieb er in »Griechenland gestern - ein Lehrstück für morgen«.

Dass ein weiteres solches »Lehrstück« derzeit in dem Land am südlichen Ende des Balkans abläuft, haben die Ereignisse um den Tod des verzweifelten Rentners Chrystoulas auf dem Syntagma-Platz erneut deutlich gemacht.

Doch während viele Hellenen längst nicht mehr wissen, wie sie demnächst noch Miete, Essen oder gar »Luxus« wie Urlaub und Auto bezahlen sollen, werden andere von diametralen Kümmernissen umgetrieben. So suchen sich wohlhabende Griechen, die ihr Geld bislang auf Schweizer Konten bunkerten, offenbar als sicherer empfundene Steuerparadiese. Griechenland erhielt 2010 rund sechs Millionen Euro an Steuern, die eidgenössische Behörden auf Zinsgewinne von Griechen in der Schweiz erhoben hatten, wie das Finanzministerium in Athen am Freitag mitteilte. Im Jahr zuvor sei es noch ein doppelt so hoher Betrag gewesen. »Das zeigt eine Tendenz auf, die Depots in Ländern oder Territorien anzulegen, die sich der Anwendung des Gemeinschaftsrechts entziehen«, konstatierte das Ministerium lakonisch.

Athen und Bern verhandeln derzeit über ein Steuerabkommen, das jenen ähneln soll, die die Schweiz mit Deutschland und Großbritannien schloss. Finanzminister Philippos Sachinidis will dafür sorgen, in der Schweiz angelegtes Geld griechischer Staatsbürger besser zu besteuern.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 7. April 2012


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