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Keine Ruhe nach dem Sturm

Eine Woche lang wurde Griechenland von Unruhen erschüttert. Die Straßenschlachten sind vorbei, der soziale Protest dauert an

Von Harald Neuber, Thessaloniki *

Auf den ersten Blick scheint von der größten Protestbewegung seit dem Ende der Militärdiktatur in Griechenland 1974 nur wenig geblieben. Nach dem gewaltsamen Tod des 15-jährigen Schülers Alexandros Grigoropoulos durch eine Polizeikugel in der Nacht zum 7. Dezember waren im ganzen Land Unruhen ausgebrochen. Aus spontanen Protesten gegen den mutmaßlichen Mord in Athen entwickelte sich binnen weniger Tage eine landesweite Protestbewegung mit sozialen Forderungen.

In der zweiten Woche nach der Bluttat hat sich die Lage in dem Mittelmeerstaat scheinbar beruhigt. Auf der Platía Aristotelous, dem Aristoteles-Platz im Herzen von Thessaloniki, treffen sich junge Frauen nach dem Einkaufsbummel auf einen Kaffee, in der nahen Egnatía-Straße läuft das Weihnachtsgeschäft wie eh und je.

Doch der Aufruhr ist auch an dieser zweitgrößten Stadt Griechenlands nicht spurlos vorbeigegangen. »Arbeit, Shoppen und dann nach Hause. Das ist nicht unser Leben« -- hastig wurde diese Parole auf die Wand neben einer Filiale der Nobelmarke Gucci gesprüht. »Die Banken dem Volk« ist in schwarzen Lettern auf der gläsernen Schwingtür einer Vertretung der Ethnikí Trapeza, der Nationalbank, zu lesen.

Auf den zweiten Blick, so wird klar, ist die Normalität in Griechenland nur oberflächlich wieder eingekehrt. Darunter gären die Proteste weiter.

Eingestellt auf lange Auseinandersetzung

Einen Häuserblock von der Platía Aristotelous entfernt halten Studenten die Journalistik-Fakultät der städtischen Universität besetzt. »Katálipsi 11« steht auf dem Transparent über der Eingangstür des klassizistischen Baus -- »Besetzung Nummer elf«. Allein in Thessaloniki sind rund 20 Einrichtungen der Hochschule von den Demonstranten eingenommen worden. Im ganzen Land setzten sich solche Proteste gegen die Bildungsmisere und den Mangel an Perspektiven für die Jugend in rund 150 Universitäten fort, über 600 Schulen sind besetzt. Schüler und Studenten haben sich auf eine lange Auseinandersetzung eingestellt. In den Medien findet dieser Protest bislang nur wenig Widerhall. Die Besetzungen der Lehreinrichtungen und die friedlichen Demonstrationen liefern offenbar zu wenig spektakuläre Bilder.

Für Jannis Bakaloudis hat der wirkliche Widerstand gegen Misswirtschaft und Korruption im Staatsapparat erst begonnen. Der junge Mann gehört zu einer Gruppe Jugendlicher und Dozenten, die im Foyer der Journalistik-Fakultät einen Streikposten errichtet haben. »In ganz Griechenland haben sich Studenten und Schüler dieser Bewegung angeschlossen«, sagt er. In Thessaloniki und anderen Städten sind die Besetzungen von den Studentenparlamenten beschlossen worden. »Das ist wichtig«, betont Bakaloudis, »weil es belegt, dass wir Teil einer demokratisch legitimierten Massenbewegung sind.« Hinter dem Eingang zum Gebäude stapeln sich die Flugblätter für die kommenden Straßenproteste. Die Studenten sitzen bei Kaffee zusammen, diskutieren.

»Die Stimmung ist deutlich entschlossener als in den vergangenen Jahren«, sagt Bakaloudis, »denn uns allen ist klar: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird es unserer Generation schlechter gehen als den vorherigen.« Diese Erkenntnis macht Angst, sagt er. Sie mobilisiert aber auch.

Während selbst Akademiker wie Bakaloudis unsicherer Zukunft entgegensehen, wechseln in der Staatsführung die Korruptions-skandale einander ab. Siemens hat in Athen Staatsbedienstete bestochen, Gelder aus der kargen Rentenkasse wurden für Spekulationsgeschäfte verwendet und zuletzt kam ein betrügerischer Grundstückshandel zwischen dem Vatopedi-Kloster auf dem Berg Athos und dem Finanzministerium ans Licht. »Wenn man all das erlebt und zugleich die Verfehlungen in der Bildungs- und Sozialpolitik zu spüren bekommt, fühlt man sich mehr als hilflos«, sagt Bakaloudis.

Erste Forderung: Weg mit der Staatsführung

Die Studenten haben inzwischen konkrete Forderungen aufgestellt: An erster Stelle steht der Rücktritt der konservativen Staatsführung von Kostas Karamanlis, »der schlechtesten Regierung in der jüngeren Geschichte dieses Landes«, wie der Journalistikstudent bekräftigt. In Thessaloniki und Athen treten die jungen Leute zudem für eine Bildungsreform sowie mehr Staatsgelder für Schulen und Universitäten ein. Derzeit sind in Griechenland 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung vorgesehen -- so wenig wie in keinem anderen der 29 Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Als diese Woche in der Hauptstadt erneut Tausende Schüler und Studenten auf die Straße gingen, forderten sie zudem die Auflösung der Spezialkräfte der Polizei zur Aufstandsbekämpfung. Die sogenannten MAT-Einheiten hatten in den vergangenen Tagen wiederholt friedliche Demonstrationen mit Knüppeln und Tränengas attackiert.

Die Todesschüsse auf den Schüler in Athen waren »der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat«, sagt auch Zachos Kamenídis. Gemeinsam mit einem Schwager führt er eine Klempnerfirma in der Vorstadt Evosmos nahe Thessaloniki. Sein jüngerer Bruder Christodoulos ist in das Geschäft eingestiegen, nachdem er unlängst aus einem technischen Betrieb entlassen wurde. »Eine Folge der Wirtschaftskrise«, wie er meint. Wie viele andere verweist auch sein Bruder Zachos auf die verschleppten sozialen Probleme. »Die meisten Leute hier schlagen sich mit 600 oder 700 Euro durch«, sagt er. Vom Staat sei wenig zu erwarten. Für seine drei kleinen Kinder bekommt er im Monat gerade einmal 250 Euro Unterstützung. Als seine Frau zuletzt schwanger war, musste sie allein für eine Ultraschalluntersuchung in einer Privatpraxis 140 Euro bezahlen. In einem der staatlichen Krankenhäuser Thessalonikis war eine solche Untersuchung nicht zu haben. »Viele Ärzte bieten dort nur eine Minimalversorgung, um einen dann am Nachmittag gegen Bares in ihre eigene Praxis zu bestellen«, sagt Zachos Kamenídis.

Es sind solche Erfahrungen, aus denen sich in Griechenland die Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse speist. Laut einer Umfrage sehen 60 Prozent der Bevölkerung in den massiven Protesten nach dem mutmaßlichen Mord an Alexandros Grigoropoulos eine »soziale Erhebung«. Die konservative Regierungspartei Nea Dimokratía (Neue Demokratie) hat zugleich erheblich an Rückhalt verloren -- selbst unter den eigenen Wählern. Nach jüngsten Umfragen liegt sie inzwischen bis zu sechs Prozentpunkte hinter der linksliberalen PASOK, der zweiten großen Partei des Landes. Allerdings betrifft der Vertrauensverlust das gesamte politische System. Nach einer weiteren Umfrage der Zeitungen »Proto Thema« und »Real News« sind 37 Prozent der Griechen unentschlossen, wem sie im Fall der derzeit viel geforderten Neuwahlen ihre Stimme geben würden. Ein Rekordwert seit dem Sturz der Militärjunta 1974.

Für Studenten wie Jannis Bakaloudis liegt die Perspektive deswegen in den sozialen Bewegungen. Er erinnert an den Aufstand der Studenten im Polytechnion, der Nationalen Technischen Universität Athen, mit dem im November 1973 das Ende der Militärdiktatur eingeleitet wurde. »Heute haben wir viele Polytechnions geschaffen«, sagt er, als er über die derzeit besetzen Universitäten spricht. Nicht ohne Stolz verweist der Journalistikstudent auf vergangene Erfolge der Jugendproteste. Als sich die Regierung von Kostas Karamanlis nach Amtsantritt im März 2004 daran machte, das staatliche Bildungssystem noch weiter zu privatisieren, hatte es schon einmal einen Aufstand der Schüler und Hochschüler gegeben. Heute ist das Vorhaben vom Tisch.

Jugendliche sind stark politisiert

Nun geht es den Jugendlichen in Griechenland um weiterführende Reformen. Bakaloudis jedenfalls ist zuversichtlich. Ende vergangener Woche habe er am Rande einer Demonstration in Thessaloniki für einen kurzen Film Interviews mit Schülern gemacht. »Das Niveau der Politisierung bei diesen 14- und 15-jährigen war unglaublich«, erinnert er sich. Das zeige, dass die Regierenden nun vor der Wahl stehen. »Entweder sie geben uns eine Zukunft oder wir nehmen diese Aufgabe in die eigenen Hände.«

* Aus: Neues Deutschland, 19. Dezember 2008


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