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Proteste in Griechenland reißen nicht ab

Aktuelle Berichte und Interviews - Zu den Hintergründen der Protestwelle



Dauerrevolte in Athen

Von Rüdiger Göbel *

Wer geglaubt oder gehofft hat, die Protestbewegung gegen Polizeigewalt und Wirtschaftskrise in Griechenland kommt allmählich zum Erliegen, der irrt. Fast eine Woche nach den tödlichen Polizeischüssen auf den 15jährigen Schüler Alexis Grigoropoulos gingen auch am Freitag (12. Dez.) in Athen, Thessaloniki und anderen Städten Tausende auf die Straßen. An der Spitze des Zuges zum Syntagma-Platz, dem Sitz des Parlaments in der griechischen Kapitale, wurde ein großes Transparent mit der Aufschrift »Mörderstaat« getragen.

Mit täglichen Demonstrationen wollen Studentengruppen und Linksparteien eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik und den Rücktritt von Regierungschef Konstantinos Karamanlis erreichen. Außerdem fordern sie die Freilassung aller bei den gewaltsamen Ausschreitungen seit vergangenen Samstag festgenommenen Personen. Die Rebellion soll zukünftig organisierter verlaufen. Brennende Autos und eingeworfene Schaufensterscheiben sollen nicht mehr die Bilder der Protestbewegung prägen.

»Was als ein Ausbruch der Empörung über die Tötung von Alexis begann ist jetzt eine mehr organisierte Form des Protests«, sagte Petros Constantinou, einer der Organisatoren der Freitagsdemonstration und Mitglied der sozialdemokratischen PASOK. Neben ihrer Präsenz auf der Straße besuchten Demonstranten vorübergehend einen privaten Athener Radiosender und verlasen eine Erklärung. In der nordwestgriechischen Stadt Ioannina wurde nach Behördenangaben ein Verwaltungsgebäude kurzzeitig besetzt. In der Hafenstadt Thessaloniki flogen ein paar Steine und Tomaten auf ein Polizeikommissariat. Alles in allem gab es am Freitag – bis jW-Redaktionsschluß – kaum Auseinandersetzungen zwischen Polizei und jugendlichen Aktivisten.

Babis Angourakis, Mitglied des Zentralkomitees der KKE, gab sich gegenüber junge Welt zuversichtlich: »Die Proteste gegen die Regierungspolitik verlaufen immer organisierter – was sich auch wieder bei der Demonstration am Freitag zeigte, an der Tausende junge Leute teilgenommen haben.« Und: »Wir werden in den nächsten Tagen noch so manche kämpferische Aktion erleben. Es geht dabei nicht nur um das Eintreten für die Demokratie und gegen die Polizeiwillkür – die Bildungsmisere wird im Vordergrund stehen.« Nur eine massenhafte, organisierte militante Bewegung werde politische Veränderungen erreichen.

Längst strahlen die Proteste der Griechen aus. In mehreren europäi­schen Ländern gebe es Solidaritätsbekundungen, konstatierte AP am Freitag (12. Dez.). »Damit wächst die Sorge, die Proteste in Griechenland könnten für Globalisierungsgegner und von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit betroffene Jugendliche in ganz Europa zum Beginn einer Rebellion werden.« Es deute einiges darauf hin, warnte die Agentur, daß die Rezession in Europa eine Massenbewegung gegen Sparmaßnahmen und andere von Politik und Wirtschaft eingeleitete Gegenmaßnahmen auslösen könnte. »Das hat es in dieser Form jahrelang nicht mehr gegeben, die Durchschnittsbevölkerung hat die ihr auferlegten Bürden bislang getragen.«

* Aus: junge Welt, 13. Dezember 2008


Hellas in der Krise

Hinter der Jugendrevolte in Griechenland stehen Armutslöhne, hohe Arbeitslosigkeit, Korruption und die Entzauberung eines künstlichen Wirtschaftswachstums

Von Raoul Rigault **


Das britische Wirtschaftsmagazin The Economist findet die militante Jugendrevolte in Griechenland »bizarr und beängstigend«. Über die Ursachen macht es sich allerdings keine Illusionen: Die ernsten, »vielfach chronischen« Leiden des Landes seien »zum Teil durch leichtes Geld maskiert« worden. Eine führende Rolle spielten dabei üppige EU-Subventionen, die Sonderkonjunktur in der Schiffahrtsbranche und der Bauboom im Vorfeld der Olympischen Spiele von 2004. »Mit der weltweiten Rezession fällt die Maske, und Griechenlands Politiker stehen vor einem Dilemma.«

Tatsächlich ist die Lage alles andere alles rosig. Ende November erklärten bei einer Umfrage sechs von zehn griechischen Unternehmern, daß sie die heraufziehende Krise bereits spürten. 40 Prozent schlossen Entlassungen nicht aus. Nach Wachstumsraten, die seit dem Jahr 2000 (mit Ausnahme einer kleinen Delle 2005) stets zwischen 3,8 Prozent und 5,1 Prozent lagen, geht Finanzminister Giorgos Alogoskouphis für das kommende Jahr nur noch von 2,7 Prozent aus. Tatsächlich wird es wohl noch weniger sein, denn Griechenlands Wirtschaft basiert in hohem Maße auf den Sektoren Schiffahrt und Tourismus, die beide von der Flaute im Welthandel und dem Konsumverzicht vieler Verbraucher besonders betroffen sind.

»Griechische Reeder in schwerer See«, titelte das Handelsblatt bereits am 25. November. Die Branche schippere in »eine tiefe Rezession«. Die Erlöse seien »drastisch eingebrochen«. Während im Juli ein Massengutfrachter der Capesize-Klasse mit mehr als 100000 Tonnen Tragfähigkeit noch Charterraten von 95000 Dollar pro Tag erzielte, seien es zur Zeit bestenfalls 5000. »Diese Krise übersteigt alles, was wir bisher erlebt haben«, sagt Giorgos Xiradakis von der Logistikberatungsagentur XRTC.

Handel, Gastgewerbe, Transport und Kommunikation tragen 32,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt des Landes bei, sonstige Dienstleistungen weitere 27,2 Prozent, die Industrie hingegen nur magere 13,5 Prozent. Während der gesamte Dienstleistungssektor 2007 um acht Prozent und Finanzdienstleistungen plus Immobilien sogar um 9,7 Prozent wuchsen, kam die Industrie lediglich auf 0,6 Prozent. Die Bereiche Textil und Bekleidung (–10 Prozent), Metallproduktion (–9,1), Unterhaltungselektronik (–22,3) und Schiffbau (–18,1) erlitten sogar massive Einbrüche. Ein untrüglicher Indikator für die stark nachlassende Attraktivität des »Standorts Griechenland« waren auch die ausländischen Direktinvestitionen, deren Bestand von 31,3 Milliarden Euro 2006 auf 4,6 Milliarden im letzten Jahr fiel. Einen ähnlichen Absturz erlebte der Athener Aktienindex ASE General, der sich seit Jahresbeginn von 5000 auf aktuell unter 1900 Punkte reduzierte.

Chronisch in den roten Zahlen ist die Leistungsbilanz, deren Minus Ende 2008 nicht weniger als 16,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) betrug. Dahinter verbirgt sich ein Außenhandelsdefizit, das von 27,6 Milliarden Euro 2005 auf 41,5 Milliarden Euro 2007 angewachsen ist. Auch in anderer Hinsicht bestehen deutliche Parallelen zur angeschlagenen US-Ökonomie: Die Staatsverschuldung wird, trotz massiver Privatisierungen und Kürzungen im Sozialbereich, mit 94 Prozent des BIP in der Eurozone nur noch von Italien überboten. Parallel hat sich die Verschuldung der privaten Haushalte in den letzten sieben Jahren von 16,8 auf 93,3 Milliarden Euro mehr als verfünffacht. Und die griechischen Reeder stehen mit 50 Milliarden Euro in der Kreide – Darlehen, die sie zum Ausbau ihrer Flotte aufgenommen haben. Analysten von Merrill Lynch schätzen, daß in den kommenden Monaten jeder zehnte Schiffskredit nicht mehr bedient werden kann. Die Risiken der einheimischen Banken belaufen sich allein in diesem Sektor auf gut acht Milliarden Euro. Um den Banken unter die Arme zu greifen, beschloß die Regierung von Konstantinos Karamanlis Mitte Oktober ein Hilfspaket von 28 Milliarden Euro, obwohl diese angeblich mit »toxischen Produkten« kaum etwas zu tun hätten und sich »in einer gesunden Verfassung« befänden.

Die Masse der elf Millionen Griechen kann von solchen Wohltaten nur träumen. Die meisten Schüler werden in heruntergekommenen Klassenräumen unterrichtet und müssen privaten Nachhilfeunterricht nehmen, um die rigorosen Prüfungen zu bestehen. Der Abschluß bringt dennoch wenig. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 21,4 Prozent und wird in der EU nur von Spanien (25 Prozent) übertroffen. »Für Jugendliche mit Energie und Talent, aber ohne Geld oder Beziehungen ist das Leben hart«, gesteht selbst der Economist ein. Findet sich dann doch irgendwann ein Job, so ist die Bezahlung mehr als prekär. 789 Euro beträgt der Durchschnittslohn derzeit – das ist kaum mehr als in Polen (785 Euro) und deutlich weniger als in Portugal (1080 Euro).

** Aus: junge Welt, 13. Dezember 2008


"Der Mord in Athen hat das Faß zum Überlaufen gebracht"

Welle von Demonstrationen überzieht Griechenland. Aktionen gegen Polizeiwillkür und schlechte Wirtschaftslage.
Ein Gespräch mit Babis Angourakis
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Babis Angourakis ist Mitglied des Zentralkomitees der KP Griechenlands (KKE) und Verantwortlicher des Parteikomitees für internationale Beziehungen.

Seit der Ermordung von Alexis Grigoropoulos durch die Polizei gibt es in griechischen Städten Protestdemonstrationen und und Zusamenstöße mit der Polizei. In dieser Situation hatten die Gewerkschaften für Mittwoch zu einem Generalstreik aufgerufen. Am Freitag fand in Athen außerdem eine große Demonstration von Schülern und Studenten statt. Wie ist die Bilanz dieser Aktionen aus Sicht der KKE?

Der Generalstreik war ein sehr großer Erfolg, der vor allem der kommunistischen Gewerkschaft PAME zu verdanken ist. Die offizielle Führung des griechischen Gewerkschaftsbundes unternimmt schon seit längerer Zeit überhaupt nichts mehr – und ob ein Streik zum Erfolg wird, hängt eben davon ab, was die Kommunisten und ihre Sympathisanten unternehmen. Der Generalstreik hat das Land so gut wie stillgelegt: Der Luftraum war gesperrt, in vielen Betrieben wurde nicht gearbeitet, Busse und Bahnen standen still – unsere Aktionen haben insgesamt 63 Städte erfaßt. Die Proteste gegen die Regierungspolitik verlaufen immer organisierter – was sich auch wieder bei der Demonstration am Freitag zeigte, an der Tausende junge Leute teilgenommen haben.

Korrespondenten berichteten von bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Welche Haltung nimmt die KKE dazu ein?

Bürgerkrieg? Das ist maßlos übertrieben – es ist ja nicht so, daß sich zwei Gruppen der Bevölkerung in diesem Konflikt gegenüberstünden. Der Grund für die Unruhen ist, daß die Mehrheit der Bevölkerung über die Wirtschaftspolitik der Regierung aufgebracht ist. Schon vor der Finanzkrise hatte es bei uns umfangreiche Streiks und Proteste der Schüler und Studenten gegeben. Hinzu kommt, daß vier von fünf Griechen Angst haben, daß es im kommenden Jahr noch schlimmer kommt. Und als jetzt die Polizei den 15jährigen Schüler Alexis Grigoropoulos erschossen hat, hat das das Faß zum Überlaufen gebracht. Viele Brände wurden von Maskierten gelegt. Meine Partei distanziert sich davon, weil wir meinen, daß solche Aktionen nicht dazu beitragen, eine radikale Politik gegen das Kapital zu organisieren. Wir beobachten seit Jahren, daß obskure Gruppen immer dann aktiv werden, wenn es zu massivem Widerstand gegen die Regierung kommt. Das war schon im Jahr 2000 bei den Demonstrationen gegen den Besuch von US-Präsident Clinton der Fall, das erleben wir auch regelmäßig bei den traditionellen Anti-NATO-Demonstrationen. Das alles führt uns zum Schluß, daß solche Aktionen planmäßig inszeniert werden – aus dem Inland heraus, aber auch aus dem Ausland. Absicht ist, die Menschen einzuschüchtern und den Protest zu diffamieren. Und weil wir Kommunisten uns von jeglicher Provokation absetzen, schließen sich uns viele Menschen an – sie wissen, daß sie keine Gefahr laufen, wenn sie mit uns demonstrieren.

Bürgerliche Medien berichten, bei den Brandstiftungen seien vorwiegend kleinere Läden und Sparkassenfilialen in Flammen aufgegangen, Niederlassungen großer Konzerne seien weitgehend verschont geblieben. Unter den Brandstiftern seien auch Zivilpolizisten gewesen.

Zunächst einmal: Die Empörung der Schüler und Jugendlichen ist voll gerechtfertigt – die hat jedoch wenig mit Brandstiftungen und Verwüstungen zu tun. Wir haben Beweise dafür, daß Provokateure am Werk waren. Die Polizei hat in vielen Fällen überhaupt nichts dagegen unternommen, weil das durchaus ihrer Strategie entspricht. Nach offiziellen Angaben wurden 365 Läden und Sparkassenfilialen zerstört, 2 500 Werktätigen droht der Verlust des Jobs. Die Banken haben jedenfalls keine großen Verluste erlitten, die stecken das locker weg. Betroffen sind kleine und mittlere Betriebe, die sowieso schon unter der Krise leiden. Viele der Besitzer und Beschäftigten hatten gehofft, durch das Weihnachtsgeschäft noch einmal über die Runden zu kommen – das können sie sich jetzt abschminken. Das kommerzielle Zentrum von Athen ist jedenfalls fast total zerstört. Und das Dumme ist, daß sich jetzt der rechte Oberbürgermeister von Athen und die Regierung als diejenigen aufspielen können, die den Geschädigten zur Hilfe kommen. Auch in dieser Hinsicht haben die Provokateure den Rechten wirkungsvoll zugearbeitet.

Der Regierung ist die Lage offenbar aus den Händen geglitten. Sie hat mit allen Parteien versucht, ins Gespräch zu kommen – auch mit der KKE?

Daß die Regierung die Lage nicht unter Kontrolle hatte, trifft lediglich auf das vergangene Wochenende zu. Am Montag hat sie Gespräche mit den Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien geführt – also mit der sozialdemokratischen PASOK, der sozialistischen Synaspismos sowie mit der KKE. Wir sind immerhin drittstärkste Partei im Lande – sie konnten uns nicht übergehen. Wir haben bei dem Gespräch klargemacht, daß die Regierung die volle Verantwortung übernehmen muß. Dabei standen für uns drei Dinge im Vordergrund: Die soziale und wirtschaftliche Lage, das Auftreten der Polizei und die Übernahme undemokratischer Regelungen der EU. PASOK und Synaspismos haben Neuwahlen verlangt – was wir mit Skepsis sehen, weil die Regierung jetzt erst einmal politisch bezahlen sollte.

Und wie sollte die Regierung politisch bezahlen?

Dadurch, daß der Widerstand gegen sie noch größer wird. Für vergangenen Montag (8. Dez.) hatten wir schon eine große Demonstration in Athen organisiert, und wir wollen weiterhin möglichst viele Leute auf die Straße bringen. Der kommunistische Jugendverband, die KNE, hat ihre Aktivitäten in Schulen und Universitäten vervielfacht – der Generalstreik war keineswegs der Schlußstrich unter unsere Proteste. Wir werden in den nächsten Tagen noch so manche kämpferische Aktion erleben. Es geht dabei nicht nur um das Eintreten für die Demokratie und gegen die Polizeiwillkür – die Bildungsmisere wird im Vordergrund stehen.

Interview: Peter Wolter

*** Aus: junge Welt, 13. Dezember 2008


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