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Griechenland ohne Säulen

Korruption ist Norm / Warum die Jungen so gewaltig zürnen

Von Hansgeorg Hermann *

In Athen begannen am Donnerstag (11. Dez.) Aufräumungsarbeiten nach den Auseinandersetzungen der vergangenen Tage. Für Freitag (12. Dez.) sind allerdings neue Protestkundgebungen angekündigt.

Zwei Szenen, die das Fernsehen an einem Tag in die flammend rote Athener Nacht sendete, zeigten in eindrucksvoller Schlichtheit, woran die Griechen leiden und warum sie in diesen Tagen am Abgrund stehen. Drinnen im Parlament der wohlgenährte konservative Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis, der vor Kameras nichts erklärt außer diesem: »Wir werden aufräumen mit den Feinden unserer Demokratie.« Draußen auf dem Syntagma-Platz drei 16 Jahre alte zierliche Mädchen, Demonstrantinnen, die – als der Reporter sie fragt, ob sie denn keine Angst hätten in diesem Inferno – mutig antworten: »Nein, es geht schließlich darum, die Demokratie zu retten.«

Denn es sind nicht die Steine und Brandsätze der zornigen Kinder, die den sozialen Konsens jenes Staates bedrohen, der vor 40 Jahren in die Hände einer brutalen Militärdiktatur fiel, aus denen er sich – auch dank seiner Kinder – erst sieben Jahre später wieder befreien konnte. Es sind Korruption und Nepotismus, die seit Jahrzehnten an den Festen der hellenischen »Dimokratia« nagen und sie erneut zum Einsturz zu bringen drohen.

Zwischen Thessaloniki und Heraklion hat sich seit langem eine »Klientel-Gesellschaft« eingerichtet, wie es der Mannheimer Historiker und Griechenlandexperte Heinz Richter ausdrückt. Ihren Regeln zufolge kann in diesem Land niemand aufsteigen, ob in der Politik, im Staatsdienst oder in der Wirtschaft, der keinen »Koumparos« hat, keinen einflussreichen »Paten« oder zumindest einen der Familie verpflichteten Freund. Und niemand wird jemals etwas zu sagen haben, der es – mit Hilfe eben jenes Paten oder guten Freundes – nicht mindestens zum Abgeordneten, Bankdirektor, Polizeichef oder Bischof gebracht hat. Nicht Leistung zählt, sondern Beziehungen. Das war immer so, sagen die Alten. Und so soll es wohl auch bleiben.

Seit Jahrzehnten bestimmen im wesentlichen drei Großbürgerfamilien das politische Leben des Landes. Ganz am Anfang der alte Eleftherios Venizelos, später seine Nachkommen Konstantinos Mitsotakis (früherer Ministerpräsident), dessen Tochter Dora Bakogiannis (derzeit Außenministerin) und Sohn Kyriakos Mitsotakis (Abgeordneter) für die »Nea Dimokratia« (ND). Ebenfalls für die ND der verstorbene ehemalige Premier und Staatspräsident Konstantinos Karamanlis sowie sein gleichnamiger Neffe, der jetzige Ministerpräsident. Schließlich im Lager der sozialdemokratischen PASOK der Papandreou-Clan (Georgios, Sohn Andreas und Enkel Georgios, jetzt Oppositionsführer), der Partei- oder Regierungsvorsitz gleichsam in Erbfolge ausübt.

Seit fünf Tagen schreien die jungen Menschen in die Welt hinaus, dass sie kein Mitspracherecht haben in dieser »Gerontokratie« (Richter). Dass das Schulsystem ungeniert die Kinder Wohlhabender bevorzugt. Dass Baulöwen und Immobilienhaie Athen und die Provinzhauptstädte fest im Griff haben. Dass kein Schulabgänger die Tore einer Universität durchschreiten wird, der nicht sein halbes oder ganzes Schülerleben lang ein kostenpflichtiges »Frontistirio« besucht hat – eine der privaten Nachhilfeschulen, die das öffentliche Bildungssystem ad absurdum führen. Und dass die Orthodoxe Kirche das alles nicht nur duldet, sondern tragendes Element des Systems ist, wie der Staatsrechtler Nikos Alivizatos klagt.

Verkehrs- statt Bildungspolitik – so gewinnen oder behalten griechische Abgeordnete ihre Wahlkreise. Weil die Gesellschaft auf Großfamilien fußt, weil die Clanchefs bis heute bestimmen, für welche Partei und welchen Kandidaten zum Wohl der Verwandtschaft, des Dorfes oder des Betriebs gestimmt werden muss, bleibt das Wahlvolk in der Regel berechenbar. Der Kandidat verspricht keine Schulen, er verspricht im unwegsamen Land der Schafhirten und Olivenbauern den Bau einer Straße. Dass bei solchen Händeln auch Geld die Besitzer wechselt, scheint folgerichtig.

Korruption lässt sich an Beispielen festmachen. Fast täglich berichten Zeitungen, was nur noch die revoltierenden Jugendlichen aufregt: Der Kulturstaatssekretär, ein Intimus des Ministerpräsidenten, stürzt sich aus dem Fenster seines Büros, weil er im Rahmen eines Sex- und Bestechungsskandals gefilmt und danach erpresst wird. Die Wälder auf der Peloponnes werden in Brand gesteckt, wahrscheinlich um Bauland »vorzubereiten«, wobei 70 Menschen sterben und die Heiligtümer des antiken Olympia erst in letzter Minute vor der Vernichtung bewahrt werden. Die laut Verfassung »staatstragende« Kirche verdient im Zuge der Olympischen Spiele von 2004 einen Haufen Geld mit schmutzigen Grundstücksgeschäften (und entschuldigt sich danach bei den Gläubigen). Oder ein beliebiger kretischer Genossenschaftsbanker prellt die EU um ein paar Millionen Euro Subventionsgelder – und liefert der Polizei seine Subalternen als Täter.

Die Polizei? In diesem Griechenland ohne Säulen ist sie Teil des Klientel-Systems. Beamte, die in Athens Straßen patrouillieren, sind selten nach europäischer Norm ausgebildet. »Die können eventuell Strafzettel ausstellen«, sagt der linke Abgeordnete Periklis Korovessis. Ihr »Job« ist ihnen oft im Rahmen der »Koumparia«, der Paten- und Vetternwirtschaft, von links oder rechts zugeschustert worden. Der 15 Jahre alte Alexandros Grigoropoulos hatte womöglich das Pech, an einen dieser Amateure in Uniform statt an einen Berufspolizisten zu geraten. Und deshalb sterben zu müssen.

Nicht nur Athen

Auch andere europäische Staaten erlebten in den vergangenen Jahren Zornesausbrüche enttäuschter, perspektivloser Jugendlicher.

FRANKREICH – Herbst 2005: Drei Wochen lang werden Vorstädte von Jugendgewalt erschüttert, nachdem zwei Jungen in Clichy-sous-Bois auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformator durch Stromschläge ums Leben kamen. Im November 2007 sterben in Villiers-le-Bel zwei Jugendliche bei einer Kollision ihres Motorrollers mit einem Polizeiauto. Daraufhin gibt es zwei Nächte lang erneut Ausschreitungen.

NIEDERLANDE – Oktober 2007: Im Amsterdamer Vorort Slotervaart eskaliert die Gewalt, nachdem ein junger Marokkaner von Polizisten getötet worden ist. Er hatte die Ordnungshüter mit einem Messer attackiert.

SPANIEN – September 2008: Unruhen unter afrikanischen Einwanderern in einem Armenviertel in Roquetas de Mar (Andalusien), nachdem ein 28-jähriger Senegalese erstochen wurde.

DÄNEMARK – März 2007: In Kopenhagen eskalieren Proteste gegen den Abriss eines Jugendzentrums. Im Februar 2008 protestieren mehrere hundert Jugendliche gegen Rassismus und die Polizei.

AFP/ND



* Aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 2008


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