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Angst hat Konjunktur

Hoher "Volatility-Index": Europas Defizite reizen die Spekulanten zu immer neuen Attacken. Aktuelle Zahlen zeigen, was bei einem Crash auf dem Spiel steht

Von Rainer Rupp *

Angst daß der Versuch der EU, die griechische Schuldenkrise einzudämmen, fehlschlägt und diese auf die übrigen PIIGS (PIGS)-Staaten (Portugal, Irland, Italien und Spanien) überspringt, ließ am Dienstag rund um die Welt die Börsenkurse abstürzen. Zugleich stieg der Goldpreis auf Basis der europäischen Gemeinschaftswährung auf ein neues Hoch von 911 Euro pro Feinunze (31,2 Gramm). Zugleich setzen die internationalen Finanzkonzerne ihren Sturm auf die PIIGS-Gruppe fort. Dazu benutzen sie sogenannte Credit Default Swaps (CDS). Durch gezielte Spekulationen auf diese Finanzderivate treiben sie die Risikoausfallprämien der jeweiligen Staatsanleihen in die Höhe und erzwingen am Markt höhere Zinsen. Für Griechenland lagen diese zuletzt bei über zehn Prozent im Jahr.

Crash vorstellbar

Noch vor wenigen Wochen sei der Gedanke an einen erneuten Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems »unvorstellbar« gewesen, schrieb das Wall Street Journal (WSJ) am Dienstag. »Die Börse summte dahin und zeigte langsame, aber stetige Kursgewinne. Die Welt war in Ordnung«. Aber seit die Ratingagenturen Griechenlands und Portugals Bonität vergangene Woche erneut abgewertet haben, habe sich der »Volatility Index« der Chicago Board Options Exchange, der sogenannte Angstfaktor, fast verdoppelt, lamentierte das Zentralorgan der US-Großfinanz und ließ den Analysten Steve Claussen besorgt anmerken: »Wir haben es jetzt mit dem Risiko eines Staatsbankrotts und der Stabilität des ganzen Systems zu tun.«

Nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel (BIZ; die sogenannte Zentralbank der Zentralbanken) beläuft sich die Nettoverschuldung Griechenlands im Ausland auf umgerechnet 236 Milliarden Dollar. Davon steht das Land mit 75 Milliarden bei Frankreich, 45 Milliarden bei Deutschland und 15 Milliarde bei Großbritannien in der Kreide. Das ebenfalls von Spekulanten angegriffenen Portugal schuldet dem Ausland netto 286 Milliarden Dollar (Deutschland 47, Frankreich 45 und Großbritannien 24 Milliarden). Dann kommen die Schwergewichte Irland, Spanien und Italien mit jeweiligen Nettoauslandsverbindlichkeiten von 867, 1100 bzw. 1400 Milliarden Dollar. Irland schuldet britischen Banken 188 Milliarden Dollar, deutschen 184 Milliarden und französischen 60 Milliarden. Hauptgläubiger Spaniens sind dagegen deutsche Institute -- die hoffen derzeit, netto 238 Milliarden Dollar von Madrid wiederzusehen. Französische und britische Geldhäuser haben im Land der scheinbar unbegrenzten Bauaktivitäten den BIZ-Angaben zufolge 220 bzw. 114 Milliarden vergeben und womöglich versenkt.

Obwohl Spanien bislang von CDS-Wetten auf seinen Staatsbankrott noch verschont blieb, ist dessen Schicksal eng mit dem Portugals verbunden. Der Grund: Portugal steht mit 86 Milliarden Dollar bei seinem iberischen Nachbarn in der Kreide. Ein auch nur teilweiser Ausfall diese Kredite würde das durch die hausgemachte Immobilienkrise stark angeschlagene spanische Bankensystem in den Grundfesten erschüttern. Sollte also Portugal wanken, wäre das das Signal für die internationale Spekulation, mit ihren »finanziellen Massenvernichtungswaffen« zum Sturm auf Madrid anzusetzen.

Schiefe Bahn

Auch für Italien, das sich an den Staatsschulden gemessen seit langem auf der schiefen Ebene befindet, ist ein Absturz nicht mehr länger auszuschließen. In diesem Fall aber würde Frankreich mit großer Wahrscheinlichkeit sofort mitgerissen werden. Von Italiens 1,4 Billionen Dollar Nettoschulden gehen nämlich allein 511 Milliarden auf Kredite aus dem nördlichen Nachbarland zurück (deren Volumen fast 20 Prozent des französischen Bruttoinlandsproduktes BIP ausmacht). Deutschlands Banken sind hingegen »nur« mit 190 Milliarden, die Londoner City mit 77 Milliarden Dollar in Italien engagiert.

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß das von Internationalem Währungsfonds (IWF) und EU verschriebene »Rettungspaket« für Griechenland durch den massiven Widerstand der lohnabhängigen Bevölkerung zum Scheitern verurteilt ist. Zu offensichtlich ist auch, daß damit in erster Linie die deutschen, französischen und britischen Geldkonzerne vor Verlusten geschützt werden sollen, der griechischen Bevölkerung jedoch außergewöhnliche soziale Grausamkeiten aufgezwungen werden. Das scheinen die Spekulanten auch so zu sehen -- weshalb sich der Euro trotz politischer Großoffensive der EU-Eliten nicht stabilisiert hat. Es dürfte somit kaum gelingen, die griechische Staatskrise einzudämmen -- was vor dem Hintergrund der aufgezeigten Schulden-Verflechtungen die Gefahr des Zusammenbruchs der Euro-Zone weiter wachsen läßt.

* Aus: junge Welt, 6. Mai 2010


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