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Eine Politik "petainiste"

Die griechische Regierung überläßt das Land feindlichen Besatzern. Das Volk soll diszipliniert werden

Von Hansgeorg Hermann *

Den schönen deutschen Verfassungssatz, wonach »alle Macht vom Volke ausgeht«, hat der liberalkonservative englische Denker und Ökonom John Stuart Mill in seinen Gedanken »Über die Freiheit« schon vor mehr als hundert Jahren widerlegt. Wie Mill Mitte des 19. Jahrhunderts richtig erkannte, ist »das Volk, welches die Macht ausübt, nicht immer dasselbe Volk wie das, über welches sie ausgeübt wird«. Den Griechen, die in diesen Tagen mit allen Mitteln und mit allem Recht der Welt um ihr blankes physisches Überleben kämpfen, ist Stuarts Erkenntnis nicht neu. Auch nicht die, daß, »wo immer eine überlegene Klasse vorhanden ist, ein großer Teil der Moral des Landes von ihren Sonderinteressen herrührt«.

Im heutigen Griechenland übt das Volk, so betrachtet, keinerlei Macht aus. Es sieht sich vielmehr – gegen seinen Willen – wieder einmal einbezogen in einen Kampf der politischen Klassen und deren Interessen. Ob diese in Athen, Brüssel, Paris oder Berlin zu Hause sind, ist dabei nebensächlich. Die Griechen insgesamt, nicht nur die seit Jahren revoltierenden Schüler und Studenten, sind konfrontiert mit den bisher vor allem ökonomischen Übergriffen eines in der Krise offenbar auch gewaltbereiten »Staates«, der sich von der Gesellschaft abgetrennt hat. Sie erleben das Ende des Populismus.

Im Interview mit einer griechischen Zeitung stellte vor einigen Jahren der US-amerikanische Soziologe und Historiker Mike Davis die resignative Frage: »Welche junge Generation der neueren Geschichte ist – abgesehen von jener europäischen des Jahres 1914 – jemals auf solch infame Weise von ihren Patriarchen verraten und verkauft worden? Wir sehen in Griechenland eine Revolte, deren Initiatoren zutiefst begriffen haben, daß ihre Zukunft bereits heute ausgebeutet und geplündert ist.«

In Athen und anderen Städten des Landes stehen sich, stellvertretend für die Länder der Europäischen Gemeinschaft, »Arbeitskraft und Kapital gegenüber«, analysierte der französische Kapitalismuskritiker und Verleger Théo Cosme in seinem Buch »Les émeutes en Grèce« (Aufruhr in Griechenland) im April 2009. »Die Krise ist hier zu einer Sache der Disziplin geworden«– aus Sicht des Finanzkapitals, wäre zu ergänzen, und der das System tragenden, sogenannten repräsentativen Demokratien. Aus Sicht des griechischen Volkes und ihrer europäischen Nachbarn (gar nicht zu sprechen von den Menschen auf den inzwischen ungleich bedeutenderen Kontinenten) stillt der Athener Aufruhr zumindest vorübergehend und tageweise den aus dem Zorn gewachsenen Durst auf Rache an jenen, die verantwortlich sind. Er drückt aber auch die Erkenntnis aus, daß die Zukunft verloren scheint, und beklagt die vergebliche Forderung nach einem Wechsel des Staatspersonals, nach Reformierung des Systems. »Die Abwesenheit der Zukunft«, schreibt Cosme, »bedeutet nicht nur das Verschwinden des Versprechens auf ein besseres Leben. Sie bedeutet, daß die Fortpflanzung, das reine Überleben in Fleisch und Blut in Frage gestellt wird.«

Was die Griechen in diesen Tagen so gefährlich erscheinen läßt für Europas Machthaber, sprich Kapital und Finanzwelt, was sie zum Ziel und Opfer drastischer Disziplinierungsmaßnahmen gemacht hat, ist ihre Krisenerfahrung – geboren aus Türkenherrschaft, Welt-, Balkan- und Bürgerkrieg, aus Diktatur und bitterer Armut. Es ist ihr ausgeprägter Überlebenswille, ihre Improvisationskunst (unter Brüsseler Krawattenträgern auch »Innovation« genannt) und ihr immer noch einigermaßen intaktes soziales Hinterland – sprich: die Dörfer mit ihren Familien, aus denen in der allergrößten Not Nahrung in den Moloch Athen fließt. Es ist ihre geistige und (in Grenzen) physische Unabhängigkeit von einem »Staat« genannten Apparat, der in Griechenland schon immer auf seine ursprüngliche Basisfunktion beschränkt schien: Die Aufrechterhaltung jener »Ordnung«, die das System nun einmal braucht, um profitabel wirtschaften zu können.

Die Griechen erleben den Versuch, ihre Widerstandskraft zu brechen – ihre Resistenz gegen eine »Politik der Entmutigung«, wie der französische Philosoph Alain Badiou die Disziplinierung nennt. Eine Politik quasi »petainiste«, in der die eigene Regierung die fremden Besatzer gewähren läßt und behauptet, dies sei das Beste für das Land. Erinnerungen an politische Konstellationen werden wach, die im vergangenen Jahrhundert nicht nur in Griechenland faschistischen Staatsmodellen den Boden bereiteten.

Für die Abkehr vom amerikanisch-europäischen »Kapitalo-Parlamentarismus«, wie Badiou die repräsentative Demokratie zu nennen beliebt, steht seit Jahren das Athener Studenten-, Arbeiter- und Intellektuellenviertel »Exarchia«. In einem alternativen Netzwerk aus kleinen Kulturzentren, Sozialbüros, Druckereien, Kaffeebars, Künsterateliers, Büchereien und Verlagen leben dort – übrigens in unmittelbarer Nachbarschaft einer mächtigen Polizeikaserne auf der einen und des versnobten, sündhaft teuren Kolonaki-Viertels auf der anderen Seite – vor allem junge Menschen der sogenannten 600-Euro-Generation ihr eigenes Gesellschaftsmodell. Kapitalismus und der ihn hofierende Staat werden in der »Exarchia«, zukunftsorientiert, als fremde, zu bekämpfende Macht betrachtet, ihr Status ist der einer feindlichen Besatzungsarmee.

Kampfblätter des Systems wie Bild oder Focus, unentbehrliche Stimmungsmacher für Kampagnen gegen »betrügerische« und/oder »faule Griechen«, werden dort nicht einmal in der Toilette abgelegt. Repräsentanten der »Besatzer«, die deutsche Grobtechnikerin Angela Merkel und ihr französischer Schmiermaxe Nicolas Sarkozy zum Beispiel, die »den Griechen« wieder »zur Arbeit rufen« wollen, bevor sie Geld geben, werden milde belächelt. Für Alain Badiou unterscheiden sich auch Merkels Sprüche nicht einmal in der Tonlage von der einer Großbürgerin des 19.Jahrhunderts, die morgens ihre Dienstspritze zur Arbeit befahl. Doch halt, warnt der Philosoph – verlangt wird inzwischen etwas ganz anderes als bloße Arbeit, und versprochen wird bedeutend weniger als Lohn: »Es geht um unbedingten Gehorsam gegenüber den Potentaten des Kapitalismus.« Nur die Opfer der Disziplinierung sind die gleichen geblieben – »die Schwachen, die Armen und die Fremden«.

* Aus: junge Welt, 18. Juni 2011


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