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Richtungswahl in Griechenland

Abstimmung über neues Parlament und den Weg aus der Krise

Von Anke Stefan, Athen *

Vor dem Hintergrund einer drohenden Staatspleite, hoher Arbeitslosigkeit und wachsender Armut sind die 9,7 Millionen Stimmberechtigten in Griechenland am Sonntag dazu aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Der Ausgang ist wieder völlig offen.

Eigentlich ist erstaunlich, dass die beiden Favoriten sich überhaupt um das Amt des Ministerpräsidenten reißen. Ob Antonis Samaras von der Nea Dimokratia oder Alexis Tsipras von der Linksallianz SYRIZA am Sonntag die Wahl in Griechenland gewinnt, der Sieger übernimmt einen Staat am Rande des Bankrotts. Die Staatskasse verfüge gerade noch über genügend Mittel, um Löhne und Renten für den kommenden Monat auszuzahlen, berichtete die einheimische Presse in den letzten Tagen.

Das griechische Finanzministerium wollte die Berichte nicht kommentieren. Dass die Einnahmen seit langem hinter dem Erwarteten und Notwendigen zurückliegen, ist jedoch kein Geheimnis. Genauso wenig wie die Taktik des Finanzministeriums, die Begleichung von Rechnungen an in- und ausländische Zulieferer um Monate hinauszuschieben, was gleich zwei lebenswichtige Bereiche des Landes in eine bedrohliche Situation gebracht hat. So müssen im Gesundheitswesen viele Patienten mittlerweile sogar die grundlegendsten Dinge für eine medizinische Behandlung - Einwegspritzen, sterile Handschuhe oder auch den Gips für das gebrochene Bein - selbst mitbringen. Aus dem Ausland bezogene Medikamente sind dagegen teilweise überhaupt nicht mehr erhältlich, da deren Importeure private wie staatliche Kunden nur noch gegen Zahlung bei Lieferung bedienen.

Im Stromsektor hat man sich dagegen eine Lösung einfallen lassen, um einem drohenden Blackout zu begegnen. Da auch hier die ausländischen Anbieter nur weiter liefern wollen, wenn ihre Altschulden beglichen werden, hat die Staatsanwaltschaft Athens im Prozess gegen zwei griechische private Energiefirmen beantragt, 40 Millionen Euro der eingefrorenen Gelder für die Begleichung von Schulden gegenüber dem Staat freizugeben. Sollte das Beispiel Schule machen, könnten die Staatskassen auch in anderen Fällen um beträchtliche Millionensummen aufgefüllt werden.

Die Wettbewerber um den Wahlsieg am Sonntag sind sich dieser Probleme bewusst. Die konservative Nea Dimokratia (ND) setzt deshalb darauf, dass die mit den Gläubigern vereinbarten Milliardenkredite im Falle ihres Wahlsieges unverändert ausgezahlt werden. Da diese Gelder allerdings fast ausschließlich für die Bankensanierung sowie Zins und Abtrag der Altschulden vorgesehen sind, ist eine vollständige Lösung der Finanzprobleme nur mit Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft zu erreichen. Der ND-Vorsitzende Antonis Samaras vertraut allein auf die Kraft seiner Argumente, um die Partner in der Europäischen Union und beim Weltwirtschaftsfonds von einem Umdenken hinsichtlich des bisher gescheiterten Konsolidierungsprogramms zu überzeugen.

Sein Gegenspieler Alexis Tsipras hat dagegen angekündigt, im Falle eines Wahlsieges erst einmal alle ausgehandelten Kürzungsmaßnahmen aufzukündigen und in einem zweiten Schritt mit den Gläubigern über neue Bedingungen für die Rückzahlung der griechischen Staatsschulden zu verhandeln. Seine Linksallianz SYRIZA setzt darauf, dass sich die Eurozone das Ausscheiden eines ihrer Mitglieder nicht leisten kann, ohne die Gemeinschaftswährung insgesamt in Gefahr zu bringen. Bei finanziellen Engpässen hätte für SYRIZA die Bezahlung von Löhnen und Renten sowie die Aufrechterhaltung der Staatsfunktionen in Bildung, Gesundheit und anderen staatlichen Leistungen Vorrang vor der Bedienung der Schulden.

Alle Umfragen, die nur bis zwei Wochen vor dem Wahltermin veröffentlicht werden dürfen, sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen von ND und SYRIZA voraus. Insgesamt könnten acht der 32 zur Wahl antretenden Parteien die Drei-Prozent-Hürde überspringen und in das 300-köpfige Parlament einziehen, darunter auch wieder Vertreter der rechtsextremen Partei Chryssi Avghi (Goldene Morgenröte). Sie hatte im Mai überraschend 6,9 Prozent der Wählerstimmen und damit zum ersten Mal seit Ende der Militärherrschaft im Jahr 1974 Mandate für eine eindeutig neonazistische Partei errungen. In der letzten Woche sorgte ihr Sprecher Ilias Kassidiaris für einen Eklat, als er in einer Talkshow eine linke Politikerin schlug und einer anderen ein Glas Wasser ins Gesicht schüttete.

Den Ausschlag für Sieg und Niederlage bei der Parlamentswahl könnten wieder die 50 Bonussitze geben, die die Partei mit den meisten Stimmen erhält. Bei vorhergesagten 25 bis 30 Prozent wird es aber weder für ND noch für SYRIZA zur absoluten Mehrheit reichen. Als Koalitionspartner kämen für ND die am 6. Mai auf 13 Prozent abgerutschte sozialistische PASOK, die auf etwa fünf bis sechs Prozent prognostizierte Demokratische Linke oder die etwa gleichstarken nationalistischen Unabhängigen Griechen von ND-Aussteiger Panos Kammenos in Frage.

SYRIZA wirbt nach wie vor für eine Koalition mit den beiden anderen linken Parteien im Parlament. Während die Demokratische Linke von Fotis Kouvelis diesem Angebot aufgeschlossen gegenübersteht, hat die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) mehrfach jede Regierungsbeteiligung abgelehnt. Sollte das Wahlergebnis keine Regierungsmehrheit für SYRIZA und Demokratische Linke ermöglichen, hätte Alexis Tsipras nur noch die Option, sich von PASOK-Abgeordneten tolerieren zu lassen. Die beste Voraussetzung für die Erfüllung seiner Wahlversprechen wäre dies nicht.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 16. Juni 2012


Angst wird geschürt

Am Sonntag können die Griechen zwischen SYRIZA und Nea Dimokratia wählen. Die Präferenzen von EU und Bundesregierung sind klar

Von Heike Schrader, Athen **


Neue Umfragen dürfen seit vergangener Woche nicht mehr veröffentlicht werden, doch an dem prognostizierten Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Favoriten dürfte sich auch in den letzten Tagen vor der Wahl am Sonntag in Griechenland nichts geändert haben. »Austeritätsmemorandum oder SYRIZA« lautet die Parole der Linksallianz von Alexis Tsipras, »Pro-Euro-Regierung und Neuverhandlung der Sparmaßnahmen« verspricht sein Konkurrent Antonis Samaras von der konservativen Nea Dimokratia (ND). Beide ringen um den Platz als stärkste Partei und die damit verbundenen, für eine Regierungsbildung ausschlaggebenden 50 Bonussitze im 300köpfigen Parlament. Da Bündnisse diese nicht bekommen, hatte sich SYRIZA im Mai formell ebenfalls als Partei konstituiert.

Beide Favoriten beteuern, im Falle einer Regierungsübernahme den Verbleib Griechenlands in der EU und der Euro-Zone zu sichern, was dem Wunsch der überwiegenden Mehrheit der Griechen entspricht. In inländischen Medien und durch Äußerungen aus den anderen EU-Mitgliedsstaaten wird allerdings suggeriert, daß ein Verbleib Griechenlands in der Gemeinschaftswährung nur bei einem Sieg der Nea Dimokratia gesichert sei. So erschien die Stimme des deutschen Kapitals, Financial Times Deutschland, am Freitag mit einer zweisprachigen Titelseite und empfahl den Griechen in ihrer Muttersprache sowie in deutscher Übersetzung ausdrücklich, »der Demagogie von Alexis Tsipras und seiner ­SYRIZA« zu widerstehen und Nea Dimokratia zu wählen. Der französische Präsident François Hollande sekundierte, wenn das Wahlergebnis den Eindruck entstehen ließe, die Griechen würden sich nicht mehr an ihre mit den Gläubigern eingegangenen Verpflichtungen halten, werde es Länder geben, die ein »Ende der Präsenz Griechenlands in der Euro-Zone favorisieren«. Auch der slowakische Ministerpräsident Robert Fico drohte am Donnerstag offen mit einem Rausschmiß des Landes: »Wenn die Griechen ihre Verpflichtungen nicht einhalten und Kredite nicht zurückzahlen, wird die Slowakei den Austritt Griechenlands verlangen.« Und die in Hellas als neue »eiserne Lady« unbeliebte deutsche Kanzlerin fügte ihrer Argumentation für die bedingungslose Unterordnung unter das Gläubigerdiktat ein neues Puzzlestückchen hinzu. Es gehe nicht nur darum, ob das verordnete Austeritätsprogramm Erfolg habe, so Angela Merkel, sondern auch darum, ob Verpflichtungen eingehalten würden. Andernfalls verlöre die EU ihre Glaubwürdigkeit.

In den griechischen Medien werden solche und ähnliche Äußerungen vor allem deutscher Politiker und Banker ausführlich verbreitetet, abgerundet durch von griechischen Geldinstituten oder vom großen Privatsender Antenna erstellten Studien über eine Rückkehr des Landes zur Drachme. Die malen eine derartige Zukunft in düstersten Farben. Unterlegt mit von dramatischer Musik und Bildern brennender Gebäude werden bei Antenna Szenarien leerer oder geplünderter Supermärkte, geschlossener Banken und allgemeiner Verelendung präsentiert. Verschwiegen wird von den Machern solcher Studien tunlichst, daß sich das Land mit der bisher eingeschlagenen Austeritätspolitik bereits auf dem Weg in solche Zustände befindet.

»Wenn etwas das Land in die Drachme führt, dann ist dies das Austeritätsmemorandum«, weist der SYRIZA-Vorsitzende den Vorwurf, seine Partei werde die Republik aus dem Euro treiben, zurück. Gleichzeitig zeigte Tsipras sich zuversichtlich, daß man sich in der EU aufgrund des offensichtlichen Scheiterns der bisherigen Rettungsprogramme auch einer Linksregierung gegenüber verhandlungsbereit zeigen werde.

Wer auch immer am Sonntag das Rennen macht, für eine Alleinregierung werden die Sitze sicher nicht reichen. Sollte SYRIZA gewinnen, hängt die Umsetzung der Wahlversprechen der Linksallianz deshalb nicht zuletzt vom Einfluß der eventuellen Koalitionspartner ab. Die Kommunstische Partei Griechenlands (KKE) schließt weiterhin unmißverständlich eine Unterstützung von SYRIZA aus. Möglich wäre ein Bündnis mit der vor einigen Jahren von SYRIZA nach rechts abgespaltenen Demokratischen Linken (DIMAR) von Fotis Kouvelis. Wenn deren Sitze dafür jedoch auch nicht reichen, wäre Tsipras wohl auf eine Tolerierung durch Stimmen aus den Reihen der sozialdemokratischen PASOK angewiesen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 16. Juni 2012


Countdown zum »Undenkbaren«

Vor der Parlamentswahl in Griechenland stehen Europas Zahlmeister Gewehr bei Fuß

Von Ingolf Bossenz ***


Wer angesichts der am Sonntag anstehenden hellenischen Wahlen die Brisanz dieses Votums betont, trägt Eulen nach Athen. Griechenland steht vor einer Zerreißprobe.

»Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt«, meinte Goethe einst in seinen »Maximen und Reflexionen«. Aus dem Traum vom arkadischen Idyll, in dem Milch und Honig fließen, ist ein Albtraum geworden, in dem Arbeiter um ihren Lohn, Rentner um ihre Bezüge und Kranke um ihre lebenswichtigen Medikamente bangen müssen.

Ein Ende dieses Albtraums werden auch die neuerlichen Parlamentswahlen am Sonntag nicht bringen. Linke oder Rechte? SYRIZA oder Nea Dimokratia?

Europas Zahlmeister haben vor dem erwarteten Kopf-an-Kopf-Rennen längst klar gemacht, dass sie ihre in die Schluchten des Balkan geflossenen Milliarden unter keinen Umständen und unter keiner noch so aufsässigen Regierung in Athen aufgeben werden.

»Wir haben uns technisch auf alle realistischen Szenarien vorbereitet, sogar auf das Undenkbare, wie es von verantwortungsvollen Politikern erwartet wird«, sagte ein Vertreter eines Euro-Landes der Nachrichtenagentur AFP.

Bundesbankchef Jens Weidmann sprach sich noch einmal definitiv gegen eine Lockerung der Sparauflagen für Griechenland aus. »Griechenland hat mehr Unterstützung als jedes andere Land bekommen«, sagte Weidmann der spanischen Zeitung »El País« vom Freitag mit Blick auf den für das Land ausgehandelten Schuldenschnitt. »Diesen bereits abgeschwächten Rahmen weiter zu lockern, ist nicht möglich.« Ansonsten könnten auch die Regierungen in anderen Krisenländern wie Portugal und Irland ihre Auflagen nachverhandeln, befürchtet der oberste Bundesbanker.

Doch genau diese Neuverhandlungen sind es, die SYRIZA mit ihrem Spitzenkandidaten Alexis Tsipras anstrebt. Eine Option, bei der die griechische Linkspartei sich der Unterstützung europäischer Partnerparteien sicher sein kann.

Das bekräftigte am Freitag eine gemeinsame Erklärung von Gregor Gysi, LINKE-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Jean-Luc Mélenchon, EU-Parlamentarier und Vorsitzender der französischen Parti de Gauche, sowie Paolo Ferrero, Chef der italienischen Rifondazione Comunista. Sie betonen in ihrem Statement: »Nur unter einer neuen, sozial orientierten Regierung kann Griechenland notwendige Reformen umsetzen und über EU-Hilfen neu verhandeln.« SYRIZA sei »eine Alternative zur jetzigen Regierung in Griechenland, und ihr bisheriger Erfolg basiert nur auf der Tatsache, dass sie der griechischen Bevölkerung eine Alternative zu dem aus Deutschland diktierten Sparkurs verspricht«. Derweil hält sich die Bundesregierung bedeckt. Für die Wahl am Sonntag gebe sie keine Empfehlung ab, teilte Sprecher Steffen Seibert mit. Man sei »zur Zusammenarbeit mit jeder rechtmäßig gewählten Regierung in Griechenland bereit«. Allerdings, so schob ein Sprecher des Finanzministeriums nach, sei das Athen aufgedrückte Sparprogramm »das richtige, um Griechenland wieder auf den richtigen Pfad zu bringen«.

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 16. Juni 2012 (Kommentar)


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