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Wende - ja!, aber wohin?

Sonntag wählen die Griechen innerhalb von sechs Wochen zum zweiten Mal

Von Michael Müller, Larisa *

Der milde Frühling hatte sich ungewöhnlich lange gehalten. Nun beißt die Sonne richtig, wie die Griechen sagen. Heiß und bissig geht es auch sonst zu. Denn die Parlamentswahlen am Sonntag könnten die Nagelprobe für Existenzielles sein: Staatsbankrott oder Marshallplan, Euro-Zukunft oder Drachme-Renaissance, diskreditierte neoliberal-konservative Schwarz-Rosa-Regierung oder eine frische demokratisch-sozialistische Option.

»Von alternativlosen Zuspitzungen und Spekulationen halte ich wenig«, sagt Ioannes Skoulikides. Er arbeitet als Mathematik- und Physiklehrer an einem Gymnasium in Larisa, Provinzhauptstadt des zentralgriechischen Thessalien, nahe der Ägäis, etwa auf der Mitte des Straßenwegs von Sofia nach Athen gelegen. »Doch eine Wende bei den Wahlen am Sonntag wäre fantastisch«, sagt Skoulikides. »Aber wohin, mit welchen Konsequenzen für wen?«, fragt sich der 58-Jährige sofort skeptisch.

Zwei von den Griechen einst frenetisch gefeierte politische Wenden hat der passionierte Hobbyhistoriker als Student und junger Arbeitsloser in Athen schon einmal erlebt. Die unter der Devise »Metapolitefsi« von 1974, die mit Konstantinos Karamanlis, dessen Nea Demokratia (ND) und dem endgültigen Bruch mit der Junta verbunden war. Und dann 1981 auch »Allagi«, die Kampflosung, mit der Andreas Papandreou und seine PASOK einen neuen, anti-US-amerikanischen Kurs einschlugen.

»Aber genau die ND und die PASOK haben über viele Jahre den Staatskarren in den Dreck fahren lassen«, fällt ihm seine Frau Kakia wütend ins Wort. »Die werden diesmal glatt abgewählt«, ist sich die temperamentvolle 52-jährige freiberufliche Übersetzerin sicher. »Doch der Westen setzt wohl weiter auf sie, will ja die SYRIZA (Bündnis der Radikalen Linken - d.R.) bei uns unbedingt verhindern. Und ich habe die böse Ahnung, die schaffen es auch.«

Das klingt resigniert; enthusiastisch hört sich aber auch nicht an, was der schmalen, naturgrau gesträhnten Schwarzhaarigen zu den neuen linken griechischen Senkrechtstartern einfällt. »Denn was könnte dieser Alexis Tsipras letztlich schon groß machen? Sicherheit für unsere Altersvorsorge wird er uns nicht zurückgeben können, da sind schon 20 Prozent futsch. Und die fast täglichen Preissteigerungen, die 25-prozentigen Gehaltssenkungen der letzten 18 Monate? Der junge Mann ist ein begeisternder, überzeugender Redner, doch leider kein Zauberkünstler.«

Sie und ihr Mann wollen an dieser Stelle aber unbedingt noch etwas ergänzen: »Jede Stimme, für wen auch immer, ist an diesem Sonntag besser als eine für die Faschisten.« Die beiden Skoulikides zeigen sich überzeugt, dass die jüngsten Wahlerfolge »der fremden- und demokratiefeindlichen Hasser von Chryssi Avgi« nur eine peinliche Momentaufnahme seien »in einer Krise, die Protestwähler ja geradezu heckt«. Dass die faschistische Okkupation im Zweiten Weltkrieg und die mörderische Militärdiktatur zwischen 1967 bis 1974 an Mahnkraft nicht verloren haben, sind sich beide - ihr Wort in Zeus' Ohr - jedenfalls einig.

Was für ihn das Schlimmste an der jetzigen Situation sei? Dimitros Argiris schaut fast ein wenig belustigt. Und trifft irgendwie das Klischee von den Griechen, ihr Lächeln nie zu verlieren und Klage oder Trauer lieber zu tanzen als zu weinen. Den 56-Jährigen treffen wir in Patras, der Hafenstadt an der nördlichen Küste des Peloponnes. Nahe läge, dass er gleich über die gestiegenen Rohstoffpreise zu lamentieren beginnt, denn er betreibt, in vierter Generation, eine kleine Kaffeerösterei. Oder über die gebremste Kauflust der Leute, denn er bewirtschaftet auch ein kleines Kafenion. Hier muss er inzwischen, »damit der wenigstens keinen Verlust bringt«, für einen Ellinikos Kafes zwei Euro nehmen.

Dann wiederholt er, so als würde er sich leise selbst befragen: »Das Schlimmste?«, und er wird plötzlich ernst. »Wissen Sie, unsere Regierungen haben dafür gesorgt, dass uns in den letzten Jahren viel genommen wurde. Vom Einkommen, vom Lebensinhalt, von der Zukunft. Eines aber haben wir bislang behalten. Unseren Stolz.« Dann fährt Dimitros Argiris, der täglich zwölf Stunden fürs Geschäft schuftet, verbittert und in Rage fort: »Indem der Westen uns Griechen, und zwar alle, zu den Faulenzern, Betrügern und Schmarotzern Europas stempelt. Das ist für mich das Schlimmste.«

Dr. Antonis Panagoulias, Soziologiedozent an der Universität Thessaloniki, meint, dass der Mann so ziemlich genau die Befindlichkeit im Lande trifft. »Die Demütigungen sitzen derzeit tief in den Leuten hier. Und sie kratzen nicht nur an der Würde, sondern sie verleiten mitunter durchaus auch zu ungerechten Urteilen und Fehleinschätzungen«, räumt er ein. Doch generell sei die aus der angeknacksten Volksseele erwachsende Empörung, die Wut nicht nur verständlich, sondern geradezu zwingend, meint der Sozialwissenschaftler. Denn Westeuropa macht Griechenland zum ursächlichen Buhmann für eine Euro- und EU-Krise, »deren Ursache nicht in Griechenland liegt, sondern in der Verfasstheit eben von Euro und EU«.

Wozu übrigens, so Panagoulias weiter, auch gehöre, dass Griechenland seit 15 Jahren von Brüssel als »Auffangbastion für Migranten« benutzt wird. Über 1,2 Millionen illegale Einwanderer aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten leben inzwischen unter oft erbärmlichsten Verhältnissen in Griechenland. »Ohne jede Chance, weiter ins Zentrum Europas, also in ein anderes Land ihrer Wahl zu kommen.« 1,2 Millionen bei zwölf Millionen Griechen. Man stelle sich eine solche Relation für die deutsche Volksseele vor.

Argyris Marneros, der Touristen das antike Umfeld des einst auf der Ägäisinsel Kos wirkenden Hippokrates nahe bringt, kann viele der verletzenden Stimmen benennen. Auch aus dem deutschen Medienwald. »Ein Nachrichtenmagazin nennt uns die ›Betrüger in der Eurofamilie‹, und auf seiner Titelseite zeigte die Venus von Milo dieser trauten Eurofamilie den Stinkefinger. Ein anderes druckt die Akropolis aufs Titelblatt, mit einem brennenden Streichholz als Ecksäule.«

Marneros hat in Deutschland sein Diplom als Germanist gemacht, liebt Goethe und Uwe Johnson, verweist gern darauf, dass Schiller seinen »Räubern« ein Hippokrateswort als Motto voran gestellt hat. Ein kluger Mann also - der eines aber nicht versteht: warum als seriös geltende deutsche Nachrichtenmagazine die Griechen als Taugenichtse verunglimpften. Und nicht wenige Deutsche darauf reinfallen, so dass »sie beispielsweise zu diesen Taugenichtsen nicht mehr in den Urlaub fahren wollen«.

Bei dieser prekären Wende in der Gefühlslage zwischen Griechen und Westeuropa ist wohl eine Wende zurück machbar. Eine andere, grundlegende Wende dürfte kaum reparabel zu sein, bei welchem Wahlergebnis am Sonntag auch immer: Griechenland ist auf dem Weg in die europäische Dritte Welt. Dorthin, wo andere Balkanstaaten längst sind. Deindustrialisiert durch westeuropäischen und US-Exportdruck, ausgeplündert durch Kreditgeber. EU und Euro haben es davor nicht bewahrt. Eher umgekehrt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 14. Juni 2012

Noch Geld bis 20. Juli

Griechenland hat noch bis zum 20. Juli Geld, um seine Rechnungen zu begleichen. Dem Land stünden noch zwei Milliarden Euro zur Verfügung, um Gehälter und Renten auszuzahlen, berichteten griechische Medien am Mittwoch. Es könnte dann gezwungen sein, die Eurozone zu verlassen. In der EU werden bereits Notfallszenarien für diesen Fall durchgespielt, wie die EU-Kommission am Dienstag bestätigte. Um einen Ausstieg Griechenlands abzuwenden, bereitet sich die Eurozone nach Angaben der Hamburger »Financial Times Deutschland« auf Verhandlungen über eine Lockerung des harten Sparprogramms vor, wie es die Linkspartei Syriza fordert. Dafür sprach sich gestern auch der Chef der Partei Nea Dimokratia, Antonis Samaras, aus, der sich dieser Möglichkeit bisher strikt verweigert hatte. (AFP/nd)




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