Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Vom NATO-Musterknaben zum Sicherheitsrisiko? Die Folgen der Sparpakete für die griechischen Streitkräfte

Ein Beitrag von Jerry Sommer in der NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategeien"


Christoph Heinzle (Moderator der Sendung):
Für so manchen Nato-Staat ist die Ausrüstung der Streitkräfte keine Frage des politischen Willens, sondern vor allem des Geldbeutels. Das galt schon in den vergangenen Jahren – jetzt, in Zeiten der Währungskrise, umso mehr.
Längst schon brennt es an vielen Ecken im überschuldeten Europa. Doch Griechenland ist und bleibt Symbol der Krise - in der öffentlichen wie in der politischen Wahrnehmung. Die lautstarken Proteste auf den Straßen des Landes machen deutlich, wie schmerzhaft für viele Griechen die Einschnitte bei den Staatsausgaben sind. Der rigide Sparkurs geht auch an den Ausgaben für die Streitkräfte nicht vorbei. Und das in einem Nato-Staat, der bislang überdurchschnittlich viel Geld in seine überdurchschnittlich große Armee gesteckt hat. Jerry Sommer berichtet:


Manuskript Jerry Sommer

Die NATO hat sich in der Vergangenheit nicht über ihren europäischen Musterknaben Griechenland beschweren können. Seit vielen Jahren bekennen sich die NATO-Staaten bei ihren Gipfeltreffen zu dem Ziel, jährlich zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für die Rüstung auszugeben. Doch nur wenige setzen dieses Ziel auch um. Neben den USA, Frankreich und Großbritannien überschritt Griechenland diese Marke. Die Hellenen gaben in den neunziger Jahren im Schnitt über vier Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für das Militär aus, im vergangenen Jahrzehnt waren es rund drei Prozent.

Profitiert haben davon auch internationale Rüstungskonzerne. Allein in den letzten zehn Jahren hat Griechenland Rüstungsgüter im Wert von über acht Milliarden Euro importiert. Die größten Lieferanten waren die USA, gefolgt von Deutschland und Frankreich. Doch inzwischen sind die Zeiten vorbei, in denen das griechische Militär aus dem Vollen schöpfen konnte. Der Schuldenkrise folgten auch Einschnitte bei den Rüstungsausgaben.

Thanos Dokos, Direktor des außenpolitischen Thinktanks „Eliamep“, der die Athener Regierung berät:

O-Ton Dokos (overvoice)
„Es werden keine neuen Rüstungsgüter gekauft. Das wird wohl noch für ein paar Jahre so bleiben. Es gab Kürzungen bei den Gehältern und bei den Betriebskosten. Es wird überlegt, einige Standorte zu schließen, was wir allerdings schon seit langem völlig unabhängig von der Krise hätten tun sollen.“

Griechenland hat gegenwärtig 140.000 Mann in seinen Streitkräften. Etwa ein Drittel von ihnen sind Wehrpflichtige. Zum Vergleich: Deutschland peilt mit der geplanten Bundeswehrreform eine Armeestärke von circa 180.000 Soldaten an – nur 40.000 Mann mehr als Griechenland obwohl Deutschland 81 Millionen Einwohner und Griechenland nur 11 Millionen hat. Doch der sozialdemokratische griechische Verteidigungsminister Panos Beglitis hat offensichtlich nicht vor, die Personalstärke der griechischen Armee wesentlich zu reduzieren. Auch will er an der Wehrpflicht festhalten – und schließt sogar eine Verlängerung des Dienstes nicht aus:

O-Ton Beglitis (overvoice)
„Natürlich untersuchen wir auch, ob die Wehrpflicht ausgeweitet werden soll. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir immer mehr Berufssoldaten? Wir haben ein großes Problem. Denn die vorige konservative Regierung hat aus populistischen Gründen plötzlich, zwei Monate vor den letzten Wahlen, die Dauer von zwölf auf neun Monate reduziert“.

Die Anzahl der griechischen Berufssoldaten ist im vergangenen Jahr um einige Tausend zurückgegangen. Grund dafür sei die Kürzung der Gehälter um bis zu 30 Prozent, die die Berufssoldaten wie alle Staatsangestellten hinnehmen mussten, sagt Giorgos Tsiboukis, militärnaher Sicherheitsexperte und Redakteur mehrerer militärpolitischer Zeitschriften in Athen:

O-Ton Tsiboukis (overvoice)
„Die Lage ist tragisch. Offiziere verlassen die Armee, weil ihre Gehälter gekürzt wurden. Wer kurz vor dem Rentenalter steht, der geht jetzt in Rente, weil er Angst hat, später überhaupt keine Rente zu erhalten.“

Neben Kürzungen bei Gehältern sind die Betriebskosten gesenkt worden. Um zum Beispiel Benzin einzusparen, nehmen an den jährlichen Militärparaden zum griechischen Nationalfeiertag weder Panzer noch Kampfflugzeuge teil.

Auch die Ausgaben für die Beschaffung von Ersatzteilen und neuen Waffensystemen sind drastisch zurückgegangen: Betrugen diese Kosten 2009 noch 2,2 Milliarden Euro, so lagen sie im vergangenen Jahr bei einer Milliarde. 2011 werden Beschaffungen im Wert von 1,1 Milliarden Euro getätigt. Der Haushaltsentwurf der griechischen Regierung sieht eine weitere Steigerung dieses Postens auf 1,3 Milliarden Euro für 2012 vor. Allerdings waren vor wenigen Monaten für nächstes Jahr noch 1,5 Milliarden Euro für Rüstungsbeschaffungen eingeplant.

Ursprünglich hatte Griechenland umfangreiche neue Waffenkäufe geplant. Vorabsprachen gab es schon mit Frankreich über den Kauf von vier bis sechs Fregatten und mit Russland über die Anschaffung von 400 Schützenpanzern. Die Luftwaffe hatte vor, 40 neue Kampflugzeuge zu kaufen. Gesamtpreis der Rüstungskäufe über mehrere Jahre: Über 10 Milliarden Euro. Doch diese Kaufpläne liegen angesichts der Krise jetzt auf Eis.

Insgesamt sind die Rüstungsausgaben Griechenlands von 2009 auf 2010 laut NATO-Angaben um circa 8 Prozent von 7,3 auf 6,7 Milliarden Euro gefallen. Damit betrugen sie immer noch 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – während der Durchschnitt der europäischen NATO-Staaten bei 1,7 Prozent lag.

2011 werden die griechischen Militärausgaben erneut geringer ausfallen – um wie viel genau ist noch nicht abzusehen. Auch hat die griechische Regierung schon angekündigt, dass weitere Einsparungen unumgänglich sein werden.

Damit stellt sich die Frage, ob die Sicherheit Griechenlands durch die Sparmaßnahmen in irgendeiner Form gemindert wurde. Der griechische Verteidigungsminister Beglitis verneint das kategorisch. In einer Rede vor den griechischen Botschaftern in Athen erklärte er zur Sicherheitslage:

Zitat
„Es mag paradox klingen, ist aber die Wahrheit. Weder die Kürzungen der Betriebsausgaben noch der Rüstungsbeschaffung haben einen negativen Einfluss.“

Zum einen werde die Sicherheit Griechenlands durch Diplomatie und die Bündnisbeziehungen in der EU und der NATO gewährleistet, und zum anderen seien die bisherigen Rüstungsausgaben keineswegs immer sinnvoll gewesen, sagte der griechische Verteidigungsminister:

Zitat
„Ich habe nie daran geglaubt, dass allein das Geld eine Armee stark macht. In den letzten 40 Jahren war die Armee ein kleiner Staat im Staate. Es gab keinerlei parlamentarische Kontrolle. Im Parlament haben wir alle ohne Diskussion für die Rüstungshaushalte gestimmt.“

Intern bereitet das griechische Verteidigungsministerium inzwischen eine Neuausrichtung der Verteidigungspolitik vor. Grundlegende Veränderungen seien nötig: bei der Analyse der Bedrohungslage, der Struktur der Streitkräfte und der Verteidigungsstrategie. Das hält auch Thanos Dokos vom außenpolitischen Thinktank „Eliamep“ für überfällig:

O-Ton Dokos (overvoice)
„Das Militär geht immer noch von Plänen aus, die aus dem Kalten Krieg oder gar aus dem Bürgerkrieg stammen.“

So wurden im Norden und Nordwesten Griechenlands immer noch viele Truppen stationiert, weil weiterhin von einer „Gefahr aus dem Norden“ ausgegangen wird – obwohl Albanien und Bulgarien inzwischen Mitglieder der NATO sind. Dass hier Militärstützpunkte aufgegeben werden können, hat inzwischen auch der Verteidigungsminister erklärt. Allerdings gibt es Widerstand vor Ort.

Gravierender ist jedoch die Einschätzung der „türkischen Gefahr“. Denn obwohl auch die Türkei wie Griechenland Mitglied der NATO ist, wird sie weiter als Hauptbedrohung für Griechenland angesehen.

Tatsächlich gibt es Streitpunkte: zum Beispiel den Konflikt um das geteilte Zypern, über den Verlauf des Festlandsockels in der Ägäis und über die Zuordnung einzelner kleinerer Inseln. Und es gibt Meinungsverschiedenheiten über die Höhe des nationalen Luftraums, den Griechenland auf 10 Meilen beansprucht, während die Türkei ihn nur bis sechs Meilen anerkennt. Auch hatten hochrangige türkische Militärs, die inzwischen in Ankara wegen Umsturzkomplotten vor Gericht stehen, Pläne für Angriffe und Überfälle auf griechisches Territorium ausgearbeitet.

Doch im letzten Jahrzehnt ist in der Türkei die Macht des Militärs deutlich eingeschränkt worden. Das allerdings wird in Griechenland oft nicht so wahrgenommen, meint Panos Trigadis vom Vorstand des linken Bündnisses „Synaspismos“:

O-Ton Trigadis (overvoice)
„Das Militär hat in der Türkei an Einfluss verloren. Die Meinung, die in Griechenland unter der politischen Klasse weit verbreitet ist, dass sich in der Türkei nichts ändert, ist nicht richtig.“

Auch der Direktor des Thinktanks „Eliamep“ hält die Grundannahmen bisheriger griechischer Verteidigungspolitik nicht mehr für angemessen. Thanos Dokos:

O-Ton Dokos (overvoive)
„Sollten wir uns auf punktuelle Scharmützel vorbereiten oder weiterhin auf einen großen Krieg? Das wird diskutiert. Für einen großen Krieg bräuchten wir viel mehr Soldaten und Waffen Aber es ist im 21. Jahrhundert, selbst wenn die Türkei nicht der EU beitreten sollte, unwahrscheinlich, dass es zu einem großen Krieg zwischen Griechenland und der Türkei kommen wird.“

Der griechische Verteidigungsminister hat inzwischen Ähnliches geäußert. In Zeitungsinterviews wendet er sich schon einmal gegen „überholte Bedrohungswahrnehmungen“. Allerdings tritt er übertriebenen Ängsten gegenüber der Türkei nicht deutlich entgegen. Denn die nationalistischen, antitürkischen Stimmungen sind in Medien, Bevölkerung wie im Militär nach wie vor stark verbreitet.

Zum Beispiel hält der Sicherheitsexperte Giorgos Tsiboukis weiterhin einen Einmarsch der Türkei nach Nordostgriechenland für möglich. Die Türkei stelle gerade 54 neue amphibische Brückenfahrzeuge in den Dienst, mit denen Panzer schnell über breite Gewässer gelangen können. Das sei ein Beweis für türkische Angriffspläne am Grenzfluss Evros, meint Tsiboukis:

O-Ton Tsiboukis (overvoice)
„Wo könnten die denn sonst eingesetzt werden? Die Türken haben doch keine anderen Flüsse, wo sie die benutzen könnten!“

Das griechische Militär denkt wohl ebenso. Seit 2009 baut es an einem Wassergraben von dreißig Metern Breite und sieben Metern Tiefe. Er soll insgesamt 120 Kilometer lang werden und sich entlang der gesamten Grenze mit der Türkei parallel zum Evros bis zum Mittelmeer erstrecken. Das Ziel: einen Panzervormarsch der Türkei über den Evros eben ein paar Kilometer weiter am Wassergraben aufzuhalten. Das Bauvorhaben war geheim, bis es jüngst Athener Zeitungen enthüllten. Die Kosten dürften mehrere Dutzend Millionen Euro betragen. Verteidigungsminister Beglitis hat sich weder dazu bekannt noch das Projekt eingestellt.

Dem Militär nahestehende Experten wie Giorgos Tsiboukis warnen allgemein vor weiteren Kürzungen der Militärausgaben, zu denen Griechenland auch von den europäischen Partnern gedrängt werde:

O-Ton Tsiboukis (overvoice)
„Wenn kein Geld für Griechenlands Grenzschützer und Küstenschutzboote vorhanden ist, dann kommen Flüchtlinge, dann kommt Al Qaida, dann kommen Drogendealer, Waffenhändler, Terroristen. Und von hier aus gehen die dann weiter nach Deutschland. Es geht nicht allein um die Verteidigung Griechenlands, es geht um die Verteidigung Europas.“

Das Ringen der verschiedenen Lager um Ausmaß und konkrete Inhalte der Einsparungen hält also noch an. Wie umfassend und grundlegend die im griechischen Verteidigungsministerium diskutierte Neuordnung der Streitkräfte und der Verteidigungsstrategie tatsächlich ausfallen wird, ist noch nicht abzusehen.

* Aus: NDR-Forum "Streitkräfte und Strategien"; 10. Oktober 2011; www.ndrinfo.de


Zurück zur Griechenland-Seite

Zur NATO-Seite

Zurück zur Homepage