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"Das Problem sind nicht die Menschen"

Um von Krise und Austeritätspolitik abzulenken, wird in Griechenland verstärkt gegen Migranten mobil gemacht. Ein Gespräch mit Henri Madisi Kasongo und Thanassis Kourkoulas *


Thanassis Kourkoulas ist ­Aktivist in der Initiative »Rassismus ­abschieben«. Henri Madisi Kasongo ist Vorsitzender der Organisation »Action Congo Hellas« und lebt seit den 80ern in Griechenland.


Warum kommen Mi­granten nach Griechenland?

Henri Madisi Kasongo: Aus den bekannten wirtschaftlichen und politischen Gründen. Das Verhältnis der Einkommen in Afrika zu denen in Europa ist etwa eins zu 1000. Noch immer beuten die reichen Länder die armen aus. Wir wissen von Diktaturen, kennen die Verweigerung der Menschenrechte. Ich komme aus dem Kongo. Während wir hier zusammensitzen, sind dort sicherlich ein Dutzend Frauen Opfer von Vergewaltigung geworden. Die Regierungen dort werden von Kräften Nordeuropas eingesetzt und gestützt, die hinterher die illegale Einwanderung anprangern.

Illegale Einwanderung ist ein Problem für die Länder Europas, weil hier Menschen ankommen, auf deren Aufnahme wir nicht vorbereitet sind. Europa beschäftigt sich nur mit dieser Sicht auf Migration. Das Problem beginnt aber damit, daß Menschen in die Migration getrieben werden, weil sie nicht menschenwürdig im eigenen Land leben können. Und diese Seite des Problems will man nicht anpacken. Doch wenn wir nicht sowohl den einen als auch den anderen Teil angehen, werden wir das Problem nicht lösen können.

In den griechischen Medien wird das Athener Stadtzentrum als »kriminelles Ghetto«, als »hygienische Bombe« beschrieben. Was ist Ihr Bild?

Henri Madisi Kasongo: Das Zentrum ist tatsächlich ein Ghetto. Die Frage ist, wie die Gesellschaft das lösen will. Die Menschenrechte müssen für alle gelten, es kann keine Trennungslinie geben zwischen den »Guten«, die gut leben, und den »anderen«, die entsorgt werden sollen, so, wie man Müll wegwirft. Keiner will in abrißreifen Gebäuden, ohne Strom und Wasser, ohne jede Infrastruktur leben. Europa ist angeblich der Teil der Welt, in dem die Menschenrechte gelten, besteht angeblich aus zivilisierten Gesellschaften. Ist das die Zivilisation, die die Menschen wollen? Will Griechenland Menschenrechte? Dann soll es angemessene Zentren zur Unterbringung der Migranten schaffen, so wie Studentenwohnheime zum Beispiel, nicht Konzentrationslager. Migranten sind Menschen mit Problemen, sie sind nicht selbst das Problem. Wenn jemand krank ist, müssen wir ihn gesundpflegen, anstatt ihm vorzuwerfen, er wäre eine hygienische Bombe.

Thanassis Kourkoulas: Seit Jahren leben im Zentrum von Athen Migranten und Flüchtlinge ohne jegliche staatliche Fürsorge. Seit zwei Jahren aber leben dort auch verelendete Griechen. Es ist kein Ghetto der Migranten, derjenigen ohne Papiere, wie uns die Regierung weismachen will, sondern ein Ghetto der Armut, der Verelendung und des Jammers.

Ursache dieses Problems ist die Politik, die nicht die Armut und die Arbeitslosigkeit angeht, sondern die Obdachlosen, die Mittellosen, die Flüchtlinge und jeden, der wirklich hilfsbedürftig ist, zur Zielscheibe macht. Migranten werden für Kriminalität verantwortlich gemacht, obwohl selbst die Statistiken der griechischen Polizei ein anderes Bild ergeben. Danach gingen im vergangenen Jahr 57 Prozent der Einbrüche und Diebstähle auf das Konto von Griechen, und 43 Prozent wurden von Ausländern verübt. Die Täter stammen hauptsächlich aus Ländern des Balkans und Zentraleu­ropas. Und nicht, wie versucht wird, uns weiszumachen, aus Asien und Afrika, es sind nicht die Moslems und die ohne Papiere.

Mit sehr wenig Geld, viel weniger, als in den vergangenen zwei Jahren in Griechenland für die Bankenrettung ausgegeben wurde, hätte man offene Zentren zur Unterbringung innerhalb der Städte bauen können. Zentren mit kleinen Kapazitäten, so daß es nicht zur Zusammenballung von Menschen in sozial schwachen Vierteln kommt, Zentren, die nicht nur in solchen Vierteln gebaut werden. Mit einer Verteilung der Menschen auf alle Stadtviertel, in verschiedene Häuser über die gesamte Stadt hinweg. Statt dessen sollen sie nun in Sammellagern in der Pampa eingesperrt werden.

Inwieweit ist auch die Europäische Union verantwortlich?

Henri Madisi Kasongo: Dazu müssen wir zum Anfang des Problems zurückkehren. Warum sorgen wir nicht dafür, daß diese Menschen zu Hause bleiben können? Meine Organisation, die Action Congo Hellas, setzt sich für eine Förderung des Wachstum in den Heimatländern der Migranten, der sogenannten dritten Welt, ein. Wir fordern einen Marshallplan, so wie er in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg angewendet wurde und der das Lebensniveau erhöht hat. Unserer Analyse nach verfügt jedes Land über genügend eigenen Reichtum, um Wachstum zu entwickeln. Dazu muß aber die Plünderung aufhören, der Abzug der Ressourcen dieser Staaten, des armen Afrikas, in die reichen Länder.

Thanassis Kourkoulas: Migranten suchen einen Ort, an dem sie Arbeit finden und Geld verdienen können, um ihre Familien zu unterstützen. Griechenland in der Krise gehört nicht zu diesen Orten, selbst Griechen, besonders junge Leute, emigrieren, um woanders Arbeit zu finden. Die große Mehrheit der Migranten, die hierher gekommen sind, die Neuen, aber auch solche, die hier bereits Wurzeln geschlagen haben, versuchen, in andere Länder der EU zu gelangen. Die EU reagierte mit dem »Dublin II«-Abkommen, nach dem jeder Migrant in dem Land bleiben muß, in dem er in die Union eingereist ist. Die EU reagiert mit dem Bau riesiger Sammellager für Flüchtlinge, verwandelt im Grunde die Länder des europäischen Südens in derartige Sammellager. Das ist nicht nur inhuman und antidemokratisch, sondern auch eine Sackgasse, so kann Migration keinesfalls beendet werden. So viele Menschen sie auch einsperren, so viele Menschen auch durch FRONTEX und die Sicherheitskräfte an den Grenzen zu Tode kommen, Migration wird es geben, solange Menschen aus den bekannten Gründen flüchten und solange es entwickelte Länder gibt, die bis zu einem gewissen Grad für sie Arbeitsmöglichkeiten bereithalten. Die Lösung beinhaltet Bewegungsfreiheit für die Menschen, Annullierung von »Dublin II«, keine Sammellager, keine Abschiebungen.

Henri Madisi Kasongo: Mit »Dublin II« werden selbst die Migranten mit Papieren diskriminiert. Jemand mit Aufenthaltserlaubnis in Griechenland kann heute in der Krise zum Beispiel nicht nach Holland gehen, um dort zu arbeiten. Er kann zwar dorthin als Tourist für maximal drei Monate reisen, aber er bekommt weder Arbeits- noch Aufenthaltserlaubnis. Nur anerkannte Asylbewerber können überall innerhalb der EU arbeiten.

Dabei ist es ein Märchen, daß die Länder nicht die Kapazitäten für Migranten haben. Nicht die Menschen sind das Problem, es gibt Probleme, die sie behindern. Schauen Sie sich zum Beispiel einen Flugzeugmotor an. Ein Motor ist ein Gewicht für das Flugzeug. Aber sobald er läuft, sorgt er dafür, daß die Kiste fliegt. Jeder Mensch ist ein kleiner Motor. Jeder Motor, der abgeschaltet wird, wird zum Gewicht. Jeder Motor, der läuft, ist zwar auch ein Gewicht, aber mit dem Antrieb, den er erzeugt, wiegt er nicht nur sein eigenes Gewicht auf, sondern produziert Kraft darüber hinaus.

Rassismus hat auch in Griechenland an Boden gewonnen. Wie kann dem begegnet werden?

Thanassis Kourkoulas: In einer Meinungsumfrage für die Tageszeitung Ka­thimerini im März gaben 50 Prozent der Teilnehmer unter den wichtigsten Problemen die Arbeitslosigkeit, 70 Prozent die Wirtschaft und nur ein Prozent die Migration an. Derzeit wird von Regierung und Massenmedien versucht, die Menschen von ihren tatsächlichen Problemen abzulenken und den Fokus auf die Themen »Sicherheit« und »illegale Einwanderer« zu richten. Die Empörung und die Wut der Griechen über die ihnen aufgezwungenen Kürzungen sollen auf den »inneren Feind« verlagert werden, den diesmal Migranten darstellen sollen. Zu anderen Zeiten waren es die Juden, die Kommunisten und diverse andere ... Fremdenfeindlichkeit und Rassismus haben eine reale Basis in der Gesellschaft, aber es ist keine originäre von unten. In den Kämpfen der letzten Monate, in den Demonstrationen, den Generalstreiks, als Millionen forderten, die Politiker sollten ihre Memoranden, die unser Leben zerstören, nehmen und verschwinden, gab es zwar auch rassistische Ansätze, sie waren aber eine Randerscheinung. Es ist ein Ringen zwischen der Welt von unten, wo zusammen mit den Migranten gestreikt, demonstriert und gekämpft wird, und denen da oben, die uns weismachen wollen, daß es nicht die von ihrer Politik verursachten Probleme, sondern eine angeblich von Migranten verursachte Kriminalität und Unsicherheit sind, die uns das Leben schwermachen.

Interview: Heike Schrader, Athen

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. April 2012


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