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Griechenland am Abgrund

Die griechische Gesellschaft steht gegenwärtig dort, wo sie eigentlich immer stand

Von Hansgeorg Hermann *

Die griechische Gesellschaft steht gegenwärtig dort, wo sie eigentlich immer stand in ihrer Geschichte – am Abgrund. Das hat der Schönheit des Landes, der Kreativität seiner Künstler und der Schaffenskraft der arbeitenden Menschen keinen Abbruch getan. Seltsam sei das, finden Beobachter, die aus der Fremde angereist sind, um in der Hauptstadt und anderswo die ägäische Krise zu besichtigen. Seltsam auch, daß die gewählten Volksvertreter sich seit dem vergangenen Wochenende weigern – mit verschiedenen, parteipolitisch gefärbten Begründungen –, die letzten Reste ihrer Entscheidungsfreiheit an die Kassenwarte in Brüssel abzugeben. Seltsam, daß sie das zumindest bis zum Mittwoch nachmittag durchhielten, obwohl die obersten europäischen Geldzähler am Dienstag schwere Geschütze auffuhren: Keine Milliarden mehr, wenn nicht schleunigst eine Art Kapitulationserklärung mit den Unterschriften der Parteiführer vorgelegt werde, drohte EU-Wirtschaftskommissar Olli Rehn. Der deutsche Wirtschaftsminister Philipp Rösler, ein Politiker, der zu Hause selbst unter Druck steht, verkündete das »Ende der Geduld«.

Am Abgrund steht das Land aber nicht, weil Rösler die Geduld verliert – in Griechenland kennt ihn ohnehin keiner. Es steht am Abgrund, weil die Mehrheit seiner Politiker in dieser Situation sich nicht darüber einig werden kann, ob sie das Volk in kommende schwerwiegende Entscheidungen einbeziehen soll oder nicht, unabhängig davon, was der Franzose Nicolas Sarkozy und die Deutsche Angela Merkel dazu sagen mögen. Klar ist die Haltung in dieser Frage nur bei den linken Radikaldemokraten der SYRIZA und bei den Kommunisten der KKE: Sie verlangen Neuwahlen, und zwar sofort.

Was sie vom öffentlichen Schaukampf der Parteiführer Giorgos Papandreou (PASOK) und Antonis Samaras (Nea Dimokratia) halten, dokumentierten der Politik-Chef der den Kurs der SYRIZA unterstützenden Zeitung Avgi, Nikos Filis, und seine Kollegen mit einem alten Schwarzweißfoto. Es zeigt die beiden Protagonisten in trauter Eintracht als Studien- und Stubenkameraden der Universität von Harvard, alte Kumpel auf ewig. Beide, der freundliche Schnauzbart Giorgakis (der kleine Giorgos) wie auch der seine düster umschatteten Augen hinter getönten Brillengläsern verbergende Antonis, haben – der sozialen Stellung ihrer großbürgerlichen Familien entsprechend – mit dem Volk als Masse nichts am Hut, aber auch gar nichts.

Samaras ist ein politisches Chamäleon, eine Art Schlangenmensch, der sich häutet und verändert, wann immer es die Karriere verlangt. Sein Ziel ist seit mehr als 20 Jahren klar: Der Stuhl des Ministerpräsidenten. Diesem Ziel hat er Freunde geopfert, auf diesem Weg hat er Parteien gewechselt, zwischendurch auch eine eigene gegründet – die mäßig erfolgreiche »Politiki Anixi« (Politischer Frühling – und wieder zugemacht, als es nicht mehr lief. Er hat Dora Bakogianni, die Tochter seines ehemaligen Mentors, Parteiführers und Ministerpräsidenten Konstantinos Mitsotakis aus der Nea Dimokratia gemobbt – um schließlich und endlich selbst die größte rechtskonservative Politikformation des Landes zu übernehmen und damit den zur Zeit allerdings nur theoretischen Anspruch auf den Posten des Regierungschefs.

Die öffentliche Pflege einer »Intimfeindschaft« ist in Griechenland ein bekanntes Spiel. Giorgos Papandreous Vater Andreas, Ministerpräsident zwischen 1981 und 1989 sowie 1993 und 1996, hielt sich einen solchen Feind – den genannten Kostas Mitsotakis. Der Großvater Georgios Papandreou (genannt »der Alte«) ebenso: den Rechtspopulisten Konstantinos Karamanlis, Onkel des bisher letzten ND-Regierungschefs gleichen Namens, der vor zwei Jahren seine Macht samt Schulden an den aktuellen Premier Papandreou abgab. Hinter den Kulissen sind sich vermutlich alle darin einig, daß man zwar die nächste Milliardentranche aus Brüssel braucht, um Beamtengehälter und Schuldendienst bezahlen zu können. Daß man aber wenig davon hält, die Kontrolle über das Land in Gänze an einen unpolitischen Technokraten abzugeben.

Dies hatte in der Nacht zum Mittwoch offenbar der bis dahin favorisierte Ministerpräsidenten-Kandidat Lukas Papademos verlangt, ein Vertrauensmann der europäischen Finanzwirtschaft, ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Zentralbank, Athener Wirtschaftsprofessor und an Parteispielen offenbar wenig interessierter Mann des Systems. Samaras habe seinen Leuten erklärt, ihm passe »dieses Gesicht« nicht. Wohl auch deshalb nicht, weil Papademos in der Vergangenheit bisweilen die Sozialisten finanztechnisch beraten hat und nicht seine eigene Nea Dimokratia.

Auf den Plan trat unterdessen die rechtsradikale Partei LAOS (Laïkos Orthodoxos Synagermos, Orthodoxe Volksbewegung) mit ihrem Chefdemagogen und Führer Giorgos Karatzaferis, der Samaras duzen darf, den scheidenden Ministerpräsidenten Papandreou aber nicht. Karatzaferis trägt in diesen Tagen nicht den üblichen Rassismus und Antisemitismus in die politische Diskussion, sondern gibt sich als wichtige Stimme des Ausgleichs – und der Kirche. Zusammen mit seinen Busenfreunden in der Metropolis (Bischofssitz) von Thessaloniki beschwört er in der alten Stadt der Sephardim normalerweise die »Gefahren des Weltjudentums«, gegenwärtig sitzt der Feind für ihn aber im eigenen Land. Beispielsweise im zentralen Parteibüro der KKE und in der benachbarten Redaktion der Zeitung Avgi.

* Aus: junge Welt, 10. November 2011


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