Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die Kredite stürzen Griechenland in den Abgrund"

Alexis Tsipras, Fraktionsvorsitzender der griechischen Koalition der Linken, über das verschuldete Europa *


Alexis Tsipras ist Fraktionsvorsitzender von Syriza, der Koaliti Alexis Tsipras ist Fraktionsvorsitzender von Syriza, der Koalition der griechischen Linken, im Parlament Griechenlands. Außerdem ist der 36-Jährige Vorsitzender der Linkspartei Synaspismos. Für das "Neue Deutschland" (ND) sprach mit ihm Antje Stiebitz über die Situation in Griechenland, Strategien gegen die Krise und die Unterstützung des griechischen Volkes durch die europäische Linke.

ND: Wie stehen die Griechen im Moment zu Europa?

Tsipras: Mit Skepsis. Ich denke allerdings, dass die Menschen das Problem weniger in der EU sehen als bei den führenden Kräften, die sie zu dieser Qual verurteilen.

Können Sie das Unbehagen Deutschlands und anderer Länder nachvollziehen, viel Geld an Griechenland zu geben?

Nein, das kann ich nicht verstehen. Ich bin der Ansicht, dass Deutschland nicht an Griechenland Geld bezahlt, sondern an bankrotte Banken, ob diese nun deutsch, griechisch oder französisch sind. Was ich verstehen kann, ist das Unbehagen der einfachen Bürger, die dazu aufgerufen werden, höhere Steuern zu zahlen, um einen Plan zu finanzieren, der ineffektiv sein wird.

Es gibt immer wieder Stimmen, die einen Ausstieg Griechenlands aus der Währungsunion fordern. Ist das eine Option?

Das hätte vielleicht Sinn gehabt, bevor der Teufelskreis der barbarischen Einsparmaßnahmen begonnen hat. Da wir aufgrund unserer Unfähigkeit, unsere Währung abzuwerten – es handelt sich ja um eine gemeinsame Währung – dazu geführt wurden, solche Maßnahmen einzuleiten, wäre es für Griechenland der Suizid, zu versuchen, aus der Eurozone auszutreten. Griechenland muss in der Eurozone bleiben und seine Partner überzeugen, keine weiteren Darlehen aufzunehmen. Wir müssen vielmehr eine europäische Lösung für das europäische Problem der Staatsschulden suchen.

Halten Sie die Stärkung des privaten Sektors für eine gute Idee?

Sowohl die Sparmaßnahmen als auch die Maßnahmen zur Privatisierung von staatlichem Eigentum schaffen die Voraussetzungen dafür, dass das Kapital weiter in Griechenland spekulieren kann. Das geschieht über die Abschaffung des Arbeitsrechts sowie durch den Skandal der Privatisierung von staatlichem Eigentum. Großunternehmen, ob griechische oder ausländische, kaufen alle gewinnbringenden staatlichen Unternehmen zu einem lächerlichen Preis auf. Diese Unternehmen werden dann die Möglichkeit haben, Gewinne zu erzielen. Die griechische öffentliche Hand wird jedoch auf ihre Pauschaleinnahmen verzichten müssen. Ich würde das nicht als Stärkung des Privatsektors bezeichnen, sondern als Plünderung des öffentlichen Reichtums.

Welche Lösungsstrategien hat die griechische Linke?

Wir glauben, dass unser Land unmittelbar eine nachhaltige Lösung des europäischen Schuldenproblems einfordern muss. Indem ein Teil der Schulden erlassen wird, ein anderer Teil an die Europäische Zentralbank transferiert wird, indem Eurofonds ausgestellt werden. Zusätzlich muss ein Entwicklungsplan für öffentliche Investitionen ausgearbeitet werden, damit neue Arbeitsplätze und Wachstum geschaffen werden können. Zudem muss Griechenland eine Veränderung des Steuersystems vornehmen. Damit diejenigen, die viel Geld besitzen, aufhören, Steuern zu hinterziehen. Es dürfen nicht nur die Lohnabhängigen und Rentner den Kürzeren ziehen.

Wie unterstützen die europäischen Linksparteien die griechische Linke?

Vor allem durch ihr Auftreten in ihren eigenen Parlamenten und indem sie dem griechischen Volk ihre Solidarität zeigen. Für uns ist es wichtig, dass es in Deutschland DIE LINKE gibt und diese der herrschenden Meinung, dass die Griechen faul sind und lediglich »Geld klauen« möchten, entgegensteuern. Die Aktionen und Interventionen der LINKEN beginnen die Deutschen langsam davon zu überzeugen, dass die Beschäftigten und Arbeitenden sowohl in Griechenland als auch in Deutschland gemeinsame Interessen haben. Genauso wie das Kapital in Deutschland und in Griechenland gemeinsame Interessen hat. Solange die Regierungen die Interessen des Kapitals bedienen, solange laufen auch die Völker in Sackgassen.

Wie sehen Sie die Zukunft Europas?

Europa befindet sich auf einem kritischen Scheideweg. Es hat das Pech, dass seine Führungen den Gegebenheiten nicht genügen. Sie behandeln das kommende Unglück mit unglaublicher Fassungslosigkeit und Passivität. Es ist unverständlich, dass sie nicht erkennen, dass die Griechen mit Krediten belastet werden, die sie in den Abgrund stürzen werden. Und dass alle Länder, weil sie durch die Eurozone verbundenen sind, nach und nach dem Abgrund entgegensteuern. Wenn es nicht einen Richtungswechsel auf der Ebene der europäischen Führungen geben sollte, bin ich beunruhigt darüber, dass wir zu sehr negativen Entwicklungen kommen könnten. Das gilt für alle Völker Europas. Denn was in Griechenland zur Zeit passiert, ist eine Art Modell, dessen Ausgang bestimmen wird, ob es auch in die anderen Ländern Europas exportiert werden wird. Die barbarische Politik, die gerade in Griechenland angewandt wird, kann schnell Portugal, Irland, Italien und irgendwann auch Deutschland erreichen. Es sei denn, die Völker setzen selbst eine Grenze.

Wo und wie soll die Grenze gesetzt werden?

Sie hätte bereits in der Vergangenheit gesetzt werden müssen. Die Grenze sollte sein, dass auch diejenigen zu zahlen haben, die die Krise hervorgerufen haben. Die Banken müssen ihren Beitrag leisten. Das Großkapital muss besteuert werden. Auf keinen Fall darf die Politik der Darlehen weitergeführt werden. Denn die Gelder werden nicht gezahlt, damit die Länder ihre Bedürfnisse decken, sondern damit sie Zinsen zahlen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juli 2011


Zurück zur Griechenland-Seite

Zurück zur Homepage