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Griechischer Sommer

Hintergrund. Überall »Nicht-Orte« – Eindrücke aus einem beschädigten Land

Von Hansgeorg Hermann *

Ist für Hoffnung und Sehnen noch Platz im Süden? Auf den Inseln, unter der Akropolis, in den Häfen von Patras und Gythion? Griechenland-Freunde – besonders jene, die sich früher gerne Philhellenen nannten – haben es nie vergessen, das Land im Licht. Soeben hat einer von ihnen, der Pariser Verleger Antoine Jaccottet, in seiner fabelhaften édition »le bruit du temps« einen wunderbaren Kurzgeschichten- und Essayband des polnischen Dichters Zbigniew Herbert veröffentlicht, »Le labyrinthe au bord de la mer«. Das geheimnisvolle Kreta taucht dort auf aus der Weite der Libyschen See, stolz glänzt in der Sonne die Akropolis, nach Samos schifft sich Herbert ein, der Heimat des gelehrten Pythagoras, und besingt die griechische Landschaft schlechthin. Des Verlegers Vater, Philippe Jaccottet, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, hat einst Rilke, Leopardi oder Ungaretti ins Französische übersetzt. Und natürlich Homers Odyssee.

»Gewöhnliche Stundenpläne haben keine Gesetzeskraft im Reich der Mythen, in einem Land, wo die Zeit sich nach Jahrtausenden mißt«, berichtet Zbigniew Herbert uns Armbanduhrenträgern von jenem schönen Tag, an dem er im Hafen von Piräus auf ein verspätetes Fährboot warten mußte. Es geht um andere Dinge in Griechenland, sagt der Poet, um Zahlen und Uhrzeiten geht es nicht. Henry Miller, der in seinem »Koloß von Maroussi« behauptet, er habe die »schönsten Männer« des Planeten auf Kreta gefunden, hätte dem nichts entgegengesetzt. Und die anderen, die Griechen selbst? Ritsos, Seferis, Elytis und Kazantsakis – ihnen war »Ellada« nichts als helle »Sehnsucht«. Selbst als Faschismus und dunkler Krieg die Olivenhaine Attikas überzogen.

Wieder am Anfang

Doch auch Pragmatiker gab es an den Ufern der Ägäis. Politiker, oder solche, die sich gerade anschickten, Politik und Geschichte zu machen; bessere, wichtigere als die finanzmarktgesteuerten Kassenwarte in Berlin und Brüssel. Theodoros Kolokotronis, der Revolutionsführer, sei genannt, der mit seiner bärtigen Guerilla 1821 durch die tiefen Klüfte und dichten Wälder des Peloponnes zog. Gegen die Türken kämpfte er, für die Nation – bisweilen auch »Freiheit« genannt. Die Lage war schwierig und einfach zugleich: »Theloumen tin Ellada«, sagte er seinen Leuten, »as trogoumen petres« – wir wollen Griechenland, und wenn wir dafür Steine fressen müßten. Als der Staat geboren war, schickten sie dem Volk einen König aus Bayern, eine Marionette. Sie, die Mächtigen – Engländer, Franzosen, Russen und Deutsche.

Die Griechen sind nun wieder dort, wo sie schon mit Kolokotronis waren. Zurückgeworfen an den Anfang. Sie ziehen mit Transparenten durch die Häuserschluchten ihrer Hauptstadt, gegen Brüssel und Berlin. Durch den Asphalt­dschungel gegen eine Nation, die an den Börsen und Bankschaltern gestorben ist. Gegen einen Staat, den selbst die Dichter nicht mehr »Freiheit« nennen mögen. Wir fressen keine Steine, sagen die Leute in den Athener Vorstädten, wir fressen aus der Mülltonne, weil die Küchenschränke leer sind. Bestenfalls im Fast-Food-Laden, wo der Abfall »Goody’s« heißt.

»Star-Chicken« und »Superfast«

Eine Seefahrt ist nicht immer lustig. Schon gar nicht an Bord der »Blue Star Paros« auf dem Weg zu den kleinen Kykladen. Der Meltemi bläst von Ostnordost, neun Beaufort, weiße Gischt schlägt über die Reling. Die dünnen Plastikwände der Kabinen zittern. Vor der Kaffeebar scheißt ein Yorkshire-Terrier auf die Planken, der Kellner flucht zum Steinerweichen. Im Bauch des großen Fährschiffs bläst die Klimaanlage so kalt, daß die Passagiere ihre Jacken anziehen müssen, draußen messen die Thermometer 36 Grad.

Das Restaurant ist ein Graus. Früher, vor wenigen Jahren noch, standen an der Küchentheke ein Dutzend Köche mit hohen weißen Mützen und zeigten strahlend ihre Goldzähne, während sie allerfeinste traditionelle Mahlzeiten servierten: Huhn in Zitrone, Lammkoteletts, gebratenen Fisch und erstklassiges Tsatsiki. Zum Nachtisch Wassermelonen und zuckersüße Trauben. Dazu schweren Wein, ein gutes Bier der Marke »Fix«; und freundliche Kellner, die unrasierten Lastwagenfahrern in einer ruhigen Ecke den Ehrentisch der arbeitenden Bevölkerung deckten.

Die »Blue Star« schneidet durch die hohen Wellen, sie rauscht an Kithnos und Syros vorbei, läßt die grandiose Museumsinsel Delos an Backbord liegen, erreicht schließlich Paros und Naxos. Das Restaurant ist eigentlich keins, es ist eine größere Frittenbude, auch hier, wie in der kochendheißen Hauptstadt Athen, ein Laden von »Goody’s«. So schnell wie das Schiff fährt, wird hier der hungrige Kunde abgefertigt, Bedienung nicht vorhanden, unerwünscht. Der Mensch frißt aus dem Pappkarton. Ekelsandwich, versalzener Schinken und holländischer Gouda. Muffins, Cookies, Chips – Vokabeln aus der »McDonaldisierung der Gesellschaft«, die der amerikanische Soziologe George Ritzer uns so saftig beschrieb.

Der Fastfood-Laden ist eine Müllproduktionsmaschine. Die Belegschaft räumt, statt ihre Gäste zu bedienen, ständig Abfallsäcke in den dunklen Untergrund des Schiffes. Wo werden sie landen, die Tonnen von Unrat und Plastik, die an Bord täglich gestaut werden? An der »Blue-Star«-Theke gibt es mittags »Star-Chicken«, »Golden Chicken«, »Goody’s Club Sandwich«, »Bacon« und »Mayo-Classic«. In den Dörfern des Landes heißt das Essen noch anders. »Moussakas«, zum Beispiel, auch »Pastizio«, »Stifado« oder »Fassolada« (Bohnensuppe). So wie die Schiffe namens »Superfast« und »Highspeed« Boote hinter sich ließen, die »Kriti« und »Dimitra« hießen, so haben die thessalonischen Kettenwirte Ioannis Dionisiadis, Achilleas Folias und Nikolaos Pappas das traditionnelle Essen überholt. Eins muß man ihnen lassen, sagen selbst die Menschen, die gerne langsam speisen: Sie haben McDonalds in Griechenland verhindert.

Die griechische Gesellschaft, die jeden Tag verwundert und ungläubig auf die dicken Körper ihrer Kinder starrt, wehrt sich nicht. Im Gegenteil. Sogar die Alten haben Geschmack gefunden an Salz und Frittenöl, spießen »Chicken-Nuggets« mit Plastikstickern auf, vermissen nicht mehr Messer und Gabel. Die jungen Griechen, sie sind in Armut fett geworden.

Und die »superschnellen« Schiffe? Als vor einigen Jahren die Ölpreise auf fast 200 Dollar das Barrel wuchsen, schien ihre Zeit schon wieder abgelaufen zu sein. Der Schiffsdiesel war zu teuer, die hochdrehenden Motoren der Speedungeheuer fraßen zuviel Sprit, sie fuhren keinen Gewinn mehr ein. Die Hälfte der griechischen Fährverbindungen wurde eingestellt, die halbe Flotte ging an Land. Doch dann das Wunder: Die Ölpreise sanken, die Kassen der vier, fünf großen Reeder füllen sich nun wieder. War es wirklich nur ein Wunder?

Fast-Food für Besitztouristen

Die Insel Amorgos ist ein kahles Eiland, kein Baum, kein Strauch. Im Hafen von Katapola warten nette Gastwirte. Sie heben Tafeln hoch, preisen Zimmer und Mahlzeiten an, zeigen weiße Zähne in den braungebrannten Inselgesichtern. Die Ausbeute ist mager, sogar am 15. August, dem wichtigsten Datum des griechischen Tourismus. Die Fremden sind da, zwei Drittel sind Franzosen, eine Handvoll Deutsche nur. Die Griechen sind zu Hause geblieben, die »Germanoi« reisen ins Nachbarland, in die Türkei. Besseres Essen, besserer Service, niedrige Preise, sagen sie. Und haben womöglich recht. Der Euro hat dem Mittelmeertourismus nicht geholfen, am wenigsten den Griechen. Die Drachme war gute Touristenwährung. An manchen Tagen in den heißen Sommern der neunziger Jahre warnten deutsche Radiostationen vor überlaufenen Kykladen-Orten: »Reisen Sie nicht nach Mykonos, keine Betten mehr frei. Bleiben Sie Paros fern, Wassermangel. Nehmen Sie kein Schiff nach Sifnos. Alles voll und überfüllt.«

Das war die Epoche, in der griechische Banker überlegten, wie sie die »Überfüllung« zu Geld machen sollten. Mit Krediten, wie selbst Merkel heute weiß. Sie boten Kreditkarten an, nach der Jahrtausendwende. Alles war mit Kreditkarte zu bekommen, Geld spielte keine Rolle oder jedenfalls fast keine Rolle mehr. Wem eine einzige Kreditkarte zu knapp bemessen schien, der bekam auch zwei, drei, vier oder sechs, bisweilen zehn Plastikkarten. Mit Dispositionskapital auf jeder einzelnen. Autos, Boote, Häuser – kein Problem. Urlaub in Italien, in Paris? Na klar. Grundstücke kaufen? Auf Kreta oder sonstwo, Haus darauf bauen, an einen Ausländer weiterverkaufen, Geld einstreichen. Schnelles Geld, schneller ging’s gar nicht. Hausbau als Fastfood-Unternehmen.

In der Landschaft Apokoronas im Nordwesten Kretas genehmigten die Behörden des Bezirks Chanià in nur fünf Jahren die Errichtung von rund 4000 Neubauten. Keine Häuser, die gebraucht wurden. Nicht errichtet für junge Familien oder griechische Heimkehrer aus Deutschland und Amerika. Nein, für Besitztouristen, für irgendeinen verrückten Engländer vielleicht. Der sollte abends am Pool sitzen, Gin trinken und den Sonnenuntergang abschöpfen – so stellten die Makler sich das vor. Die Villen wurden nie verkauft. Die Blase platzte zu früh, Milliarden wurden vernichtet, Bauruinen schmücken jetzt die kretische Erde, dort, wo vorher Ginster, Lilien und Orchideen blühten.

»Nicht-Orte« ersetzten gewachsene Dörfer. »Nicht-Orte« wurden gebaut, aber nicht bezahlt, »Nicht-Orte« bedecken das Land der Griechen, so wie sie vorher schon das Land Amerika und den Kontinent von Europa zudeckten. »Nicht-Orte« nennt der französische Anthropologe Marcel Augé jene Areale ohne Sinn und Gefühl – Flughäfen, Supermärkte und »Goody’s«-Läden, Projektionsflächen ohne wirkliches Leben. Der menschlichen Geschichte entzogen, der luftlosen Leere des Weltraums gleich.

Wer schuldet wem was?

»Tausende Beamte sollen entlassen werden, Renten werden zusammengestrichen«, schreiben und warnen die Zeitungen. Die Journalisten selbst, in den kleinen, aber feinen Blättern, müssen auf den Lohn warten, in manchen Redaktionen seit Monaten, wahrscheinlich vergeblich.

Die an der Regierung sind und waren, haben gestohlen. Sie haben beiseite geschafft, was zu schaffen war. Sie haben gelogen und betrogen. Die Banken haben Blasen aufgepustet, verdient haben sie alle – bis auf das Volk. Das Land erstickt unter Schulden, doch wem schuldet es? Den Deutschen, die ihm Panzer, Unterseeboote und Raketen verscherbelten? Dem Exportweltmeister, der ihnen 15 Prozent seiner schäbigsten Produktion verschacherte? Dem drittgrößten Waffenhändler der Welt?

Schulden nicht etwa die Deutschen? Haben nicht sie Schuld abzutragen bei den Griechen? Für Kandanos auf Kreta, für Anogia, Thessaloniki und Distomo? Sind 37,5 Millionen Euro zuviel für 218 allein in Distomo ermordete Menschen, für Kinder und Frauen und vier Säuglinge im Alter von zwei bis sechs Monaten? Für niedergebrannte Dörfer, für das Zertrampeln von Kultur und Heimat? Die Deutschen sagen: »Ja«, das ist zuviel. Oder auch »nein«, wir zahlen nicht.

Ein Familienbetrieb

Giorgos Papandreou ist jetzt Ministerpräsident. Wie sein Vater Andreas es von 1981 bis 1996 war, oder wie sein Großvater, der Giorgos hieß wie er, und der das Land führte. Zuerst – als Marionette Winston Churchills – in den Bürgerkrieg, danach in die Militärdiktatur. Seit zwei Jahren ist der »kleine Giorgos«, ist »Giorgakis« Regierungschef. Die Schulden hat er von Karamanlis geerbt, sagt er. Von Kostas Karamanlis, der Ministerpräsident war von 2004 bis 2009, so wie sein Onkel Konstantinos Karamanlis es war, »der Alte«, von 1955 bis 1963, von 1974 bis 1980, und danach Staatspräsident von 1980 bis 1995. Griechenland ist ein Familienbetrieb. Regierungsämter vererben sich wie Geld. Posten werden vergeben wie Schokoladenriegel an brave Kinder.

Jetzt muß das Land gerettet werden. Nicht vor den Familien und der katastrophalen Erbfolge. Nein – vor dem Volk, das nicht sparen will, sondern demonstrieren. Das Flaschen wirft, gefüllt mit Benzin und Lumpen. Das Kinder hat, die mit den Erbministerpräsidenten nicht mehr sprechen wollen, die das Diskutieren nicht mehr nützlich finden. Die Demokratie muß gerettet werden, nicht vor Berlusconi und Sarkozy, nicht vor Merkel oder Cameron. Vor den Kindern muß sie gerettet werden, für die Alten, die das Geld haben und Erbfolger der Macht sind. Europas Demokratien, sie stehen alle auf dem Spiel, in diesem griechischen Sommer.

Die Demokratie also. »Es war ein enormer propagandistischer Vorteil für das westliche Lager«, schreibt der italienische Philologe Luciano Canfora in seinem Werk über das Wesen dieses seltsamen Gebildes, »den Begriff ›Demokratie‹ (während des Kalten Krieges) ganz allein für sich in Anspruch nehmen zu können, während eben dieser Westen gleichzeitig und mit Riesenschritten auf die Restauration einer unkontrollierten ›freien Marktwirtschaft‹ zusteuerte und sich bereits (auch illegaler) staatlicher Apparate bediente, die im ›Kampf gegen den Kommunismus‹ zu allem bereit waren. Ein Geschenk des Himmels also, daß man all das ›Demokratie‹ nennen konnte.«

Mutter Kirche, Vater Staat

Wie jenes Himmels über dem Heiligen Berg Athos, wo die Frömmsten der Frommen zum Herrn beten. Wo sie in majestätischen Großklöstern residieren oder in den Grotten ein bescheidenes Eremitendasein führen. Die orthodoxe Kirche – hier am Fuß des Bergs aus weißem Marmor schöpft sie Geist und Kraft. Von hier aus zog sie hinaus in die griechische Landschaft, einer Besatzungsmacht nicht unähnlich, um Territorium einzunehmen und schlichte Gemüter.

Der zweitgrößte Grundbesitzer ist die Mutter »Ekklisia« – nach dem Vater Staat. 130000 Hektar Wälder, Felder, Gestein und Strand, 450 Klöster, Aktien bei der Nationalbank, Vermögen im Wert von – mindestens – 700 Millionen Euro, wie die rechtsliberale Zeitung Kathemerini vorrechnete. Bezahlen wollen die frommen Männer nicht, wo doch alle anderen zahlen müssen. Die Kirche ist unantastbar, sie ist – im Sinne des Wortes – ein Nationalheiligtum. »Im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit …«, so beginnt der Text der griechischen Verfassung. Viel mehr ist dazu nicht zu sagen.

Höchstens, daß den rauschebärtigen »Despoten« (griechisch für Bischof) und ihren beleibten Popen steuerfreier Immobilienbesitz nicht immer genug schien im Angesicht des Herrn. Unter der Ägide des 2008 verstorbenen Athener Metropoliten Christodoulos, einer Art Wiedergänger des gnadenlosen Apostels Paulus, verschacherten Mönche und andere Geistliche wertvolle Ikonen an ausländische Sammler und mischten kräftig mit, als sich beim Bau der Sportstätten für die Sommerolympiade 2004 Politiker, Unternehmer – und eben die Kirche – auf Kosten der Steuerzahler bereicherten.

Denen werden jetzt die Renten beschnitten. Pensionen von mehr als 1200 Euro werden um 20 Prozent gekürzt, 30000 Staatsbedienstete werden »in Reserve« geschickt – nur noch 60 Prozent des alten Gehalts, ein Jahr Zeit, um neue Arbeit zu finden. In der Athener Innenstadt schließen die Läden.

Verwaiste Straßen

Sommer in Athen. Verwaiste Straßen, verschlossene Gastwirtschaften, verlassene Quartiere – »adia i poli«, sang einst die schöne Sängerin Charis Alexiou, »leer ist die Stadt.« Das war einmal.

Die Athener bleiben zu Hause in diesem schlimmen Sommer. Kein Geld in der Tasche, das Haus, die Wohnung nicht bezahlt. Wer kann verreisen, wenn der Gerichtsvollzieher droht. Wenn der nette Bankbeamte von nebenan am Schalter den Zeigefinger hebt und das als Drohung meint. Wenn der Briefträger Synonym des Bösen wird, weil er Rechnungen ins Haus trägt, die keiner mehr begleichen kann.

Im Hafen von Amorgos, in Katapola, wartet die alte Maria auf ihre alten Kunden. Die aus Athen und Thessaloniki, die Familien mit den bleichen Kindern. Den bärtigen, ernsten Vater, der die Inseln liebt. »Sie sind nicht gekommen«, sagt Maria. »Nicht in diesem Jahr. Nicht einmal am 15. August, zum Fest der Heiligen Jungfrau.« In Bonn sagt der sogenannte Wirtschaftsminister, der Junge mit den runden Brillengläsern, Griechenland müsse entschlossen an der Umsetzung der Reformen arbeiten: «Dazu zählen Haushaltsdisziplin, umfassende Privatisierungen und ein Umbau des Verwaltungsapparats.»

Das haben die Türken, die Griechenland 300 Jahre lang verwalteten, nie gewollt. Und das haben die Griechen, die seit 180 Jahren den Status »Nation« besitzen, was in Athen bisweilen als »Freiheit« mißverstanden wurde, nie geschafft. Weil sie es nie gewollt haben. Und weil Athen nicht die preußische Militärakademie Berlin ist, wo bis in die Neuzeit uniformierte Diktatoren und despotische Könige ausgebildet wurden. Einen von ihnen, den kleinen, rundlichen, freundlichen Herrn General Ioannis Metaxas (1936 bis 1941), beschreibt der Mannheimer Historiker Heinz Richter in seinem Werk »Griechenland zwischen Revolution und Konterrevolution« so: »Er war der ›archigos‹, der Führer. Der ›große Staatsmann‹, der ›Erwählte‹, der von Gott und der Vorsehung Gesandte, der ›erste Arbeiter‹ und der ›erste Landwirt‹. Die Nachahmung des Führerprinzips fand ihren deutlichen Niederschlag im Wahlspruch der Nationalen Jugend EON (Ethniki Organisis Neolaias): ›Ein Volk, ein Führer, eine Jugend‹.«

Selbst der »Führer«, der »große Staatsmann« Metaxas könnte diesem, seinem Volk, das mehrheitlich nicht sein Volk sein wollte, in diesen Tagen schwerlich helfen. Was würde er tun, wenn ihm nicht der italienische Botschafter ein Ultimatum Benito Mussolinis, sondern der deutsche Eurokrat Günther Oettinger eine Note der Kommission in Brüssel brächte? »Oichi« (nein) sagen, wie damals, in der Nacht, als der Italiener die Ionischen Inseln verlangte, den Eipiros und noch einiges mehr? Sie würden ihm einfach die Konten sperren, die strengen Freunde in Brüssel und Berlin, in London und Paris.

Was soll der sehr viel bescheidenere Papandreou tun, wenn ihm die Schweizer Pharmariesen keine Medikamente mehr schicken für die Krankenhäuser draußen im Land? Barfuß nach Zürich gehen im Winter? Nach Basel zu LaRoche, wo 50 Milliarden Fränkli umgesetzt werden, in jedem normalen Haushaltsjahr? Was kümmert es die Baseler, wenn in Athen die Leute sterben. »Irgendwann«, sagt der Konzernmanager Severin Schwan in diesem warmen Schweizer Spätsommer, »kommt der Punkt, an dem das Geschäft nicht mehr tragbar ist.« Der Punkt, an dem das Menschsein aufhört. Der Punkt, an dem der Geschäftsmann einfach die Geduld verliert.

Die Griechen tun alles, damit Severin Schwan demnächst wieder besser schlafen kann, oder auch nicht – weil das Geschäft mit den Griechen kein wachsendes Geschäft mehr sein wird. Der bescheidene, offenbar kerngesunde Giorgos Papandreou hat versprochen, im Gesundheitssektor mehr als 300 Millionen Euro einzusparen. Bei den Medikamenten? Beim Personal? Oder werden sie in den Hospitälern einfach keine Kranken mehr aufnehmen? Bis zum Jahr 2015 sollen dem Gesundheitsbudget 1,43 Milliarden Euro abgezogen werden. Wie soll das gehen? fragen sich die Leute.

Vielleicht

Auf den Inseln ist es wieder still geworden, im Herbst. Obwohl – nicht einmal der Sommer, der August, war diesmal sonderlich laut. Nicht auf Kreta, nicht auf Naxos, und auch nicht auf Mykonos mit seinen falschen Windmühlen.

Die Baustellen waren leer, und sie sind es immer noch. Keine Straßen, keine Häuser wachsen aus der Landschaft. Die Betonmischer, des Griechen liebste Freizeitmaschinen, sind ausrangiert. Sie rosten, und das Gras wuchert. Auf Amorgos, im Zementwerk oberhalb des Hafens, staubt es nicht mehr, Gott sei Dank. Aber wo soll der Mann auf Amorgos im Winter arbeiten, wenn die großen Betonwagen zum Verkauf stehen und das Zementwerk zugeschlossen ist?

Was ist das eigentlich, die Demokratie, die in Athen und Brüssel gerade gerettet wird? Wer will eigentlich noch, daß diese Demokratie, so wie sie in Athen alle vier Jahre zur Wahl stand, überdauert?

Luciano Canfora schreibt: »Man kann ›Demokratie‹ nicht auf ein Synonym für ›parlamentarisches System‹ reduzieren. Rußland war im Jahr eins der Revolution eine ›Demokratie‹, die zeitgenössische französische dritte Republik aber eine ›Oligarchie‹. Tatsache ist: Weil die ›Demokratie‹ eben keine Regierungsform, kein Verfassungstyp ist, kann sie in den unterschiedlichsten konstitutionellen Formen herrschen, teilweise herrschen, gar nicht herrschen oder sich wieder zur Geltung bringen.«

Mikis Theodorakis, der geniale Komponist, der seltsam schillernde Politiker, der alte Mann auf der Akropolis, hat am Ende der Militärdiktatur prophezeit – 1975, nach seinem legendären Konzert im Stadion Karaïskakis – daß Europa nun wohl sozialistisch würde, wenn es denn Europa werden und bleiben wollte. Genauso wie sein Freund und Verehrer François Mitterrand hatte er recht mit dieser These. Genauso wie Mitterrand irrte er, was die Einschätzung der wirklichen Macht des finanzkapitalistischen Systems betraf.

Bisweilen hat Theodorakis immer noch eine Idee. In diesem griechischen Sommer ist es keine gute gewesen. Die Gründung der außerparlamentarischen Opposition namens »Spitha« (Funke) zog nicht die jungen Menschen in des Komponisten Bann, sondern seltsame und sattsam bekannte Gestalten des bürgerlich-rechten Lagers. Das »Spitha«-Symbol ähnelt gar zu sehr dem Fackel- und Flaggengewese der Reaktionäre. Und Theodorakis selbst, das vor allem, der 86 Jahre alte Mann, kann nicht mehr kontrollieren, in welche dunklen Hinterzimmer der Meltemin seine Ideen bläst.

Dennoch ein Wort von ihm zum Abschluß, ein Wort aus dem Sommer des Jahres 2006: »Vielleicht gäbe es ja, wenn sich die Schwachen und die Opfer gegegnseitig unterstützten und solidarisch zusammenstünden, eine Chance auf Widerstand und Sieg.« Vielleicht.

* Aus: junge Welt, 1. Oktober 2011


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