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Sturm der Verachtung

Reportage. Die herrschende Klasse Griechenlands versucht, das finanzkapitalistische System vor der Demokratie zu retten. Doch die Gegenwehr wächst

Von Hansgeorg Hermann *

In diesen Tagen der Trauer um ein Land, das zu Boden gesunken ist wie wundes Wild, haben Bilder hohe Symbolkraft. Griechische Zeitungen, nicht das an der Ägäis längst korrupt und damit überflüssig gewordene Fernsehen, zeigten in den vergangenen Wochen solche mit der Kamera festgehaltenen Impressionen aus dem täglichen Leben. Der Versuch, sie zu deuten, ist auch ein Versuch, den Zustand des schwerverletzten Patienten Hellas zu ergründen, das Wesen seiner Krise.

Erstes Bild

Der 28. Oktober wird in Griechenland der »Oichi«-Tag genannt. Er ist eigentlich ein Moment der Ehre und des Stolzes. Am 28. Oktober 1940, so geht die Legende, klingelte am späten Abend der Gesandte des italienischen Diktators Benito Mussolini in Athen an der Haustür des damaligen Präsidenten Ioannis Metaxas, ein Diktator auch er, und überreichte eine Note seines Meisters: Die Aufforderung zur sofortigen Kapitulation, die Übergabe der Ionischen Inseln und verschiedener Landstriche im südlichen Eipiros. Der alte Herr, rundlich, bebrillt und bereits im Schlafrock, soll sich das Telegramm aus Rom nur flüchtig angeschaut, »oichi!« (nein) gesagt und die Tür wieder zugemacht haben. Den folgenden Angriff der zahlenmäßig und technisch weit überlegenen italienischen Bataillone von Albanien her überstanden die schlecht ausgerüsteten aber tapferen griechischen Soldaten nicht nur, sie trieben Mussolinis Heerscharen bis in den Norden Albaniens zurück, bevor sie sich schließlich siegreich zurückzogen.

Der »Oichi«-Tag stand nie in Frage. Sein Sinn nicht und auch nicht die Zeremonie des Vorbeimarsches uniformierter Schüler und Studenten, des Militärs, der Polizei und der Feuerwehren. Die mitgeführten Waffen störten bisher nicht, selbst wenn Leopard-Panzer aus deutschen Waffenschmieden mitrollten und bisweilen schlimme Erinnerungen wach wurden bei den alten Kämpfern am Straßenrand. Auf den »Ehrentribünen« saßen auch in diesem Jahr wieder jene, für die Defilees meist wichtiger sind als für jene, die marschieren. Solche Vertreter der repräsentativen Demokratie also, die ihren Elitestatus gerne fotografiert, gefilmt und am Abend in den Fernsehnachrichten bestätigt sehen möchten: Abgeordnete, Minister, Generale, Polizeigewaltige, Kirchenfürsten und natürlich der Staatspräsident – in diesem wie in den vergangenen Jahren der greise Karolos Papoulias.

Was dieses handverlesene Tribünenpersonal nicht erwartet, aber diesmal durchzustehen hatte, war eine erregende Demonstration seiner eigenen Kinder, deren hoch erhobene schwarze Trauerbänder zum ersten Mal nicht den Gefallenen des Weltkriegs galten, sondern dem staatlich verordneten Aushungern, dem immer schnelleren Sterben der griechischen Kultur und der sie schaffenden Künstler. Und als eine Gruppe junger Männer in der obligatorischen Festzugskleidung – weiße Hemden, dunkle Hosen – vor der Galerie ernst und stolz den rechten Arm hob, die Hand geöffnet und die Finger gespreizt gegen die dunkel bebrillten Generalsgesichter, eine Geste höchster Verachtung in Griechenland, da mag sich der ehemalige Widerständler Papoulias an die finstere Zeit der Militärjunta und seine Jahre im deutschen Exil erinnert haben.

Erstaunt sah sich in diesem Moment eine Staatsmacht demaskiert, sahen sich selbst die mit Orden behängten Uniformierten nackt und bloß hinter ihren schwarzen Pinochet-Brillen, nicht mehr geschützt unter schattigen, glänzenden Mützenschirmen vor dem ganz normalen Mensch-Sein. Das Volk mit seinem Gefühl für große Szenen klatschte Beifall, am Ort des Geschehens noch, und in den Tagen der Diskussion danach sowieso.

Die Antwort der Politiker auf diese Geste erreichte die Menschen nur wenig später. Das vom Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou angekündigte Referendum zur Bestätigung – oder Ablehnung – der von ihm und seiner Partei PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung) exekutierten, in Brüssel beschlossenen Vernichtung der griechischen Volkswirtschaft, genannt Sparpolitik, fiel aus. Statt dessen stellte Papandreou sein Amt zur Verfügung.

Im Gedächtnis blieb den Menschen bis heute nicht die Erinnerung an Verantwortung reklamierende Politiker und Wirtschaftsführer, sondern ein Wort des ewigen PASOK-Ministers, des immer schlecht gelaunten Theodoros Pangalos. Auf die penetrant und öffentlich gestellte Frage, wer eigentlich das viele Geld aus den Staatskassen in die eigene Tasche gesteckt habe, antwortete er klar und rüde, wie das seine Art sein mag: »Masi ta fagame – wir alle zusammen haben es gefressen«, sprich veruntreut. Man muß dazu wissen, daß nicht nur der in der neuesten Regierung erneut vertretene Minister Pangalos, sondern auch sein Ministerkollege Evangelos Venizelos die Statur und den Appetit eines Helmut Kohl haben, dessen unvergleichlichen, unstillbaren Machthunger eingeschlossen.

* * *

Der junge Mann, nennen wir ihn Markos, der seit Wochen im Athener Stadtviertel Exarchia Flugblätter und Wandzeitungen schreibt, der sie durch nicht registrierte Druckmaschinen nudelt und dann unter die Leute bringt, leidet nicht an Fettleibigkeit. Er paßt, anders als der alte und neue Finanzminister Venizelos, in jeden Sessel. Durch die Straßen saust Marko, 28, auf einem schlanken Geländemotorrad, das spart Zeit und Körperkraft, ein wichtiger Aspekt für jene, die wenig essen und viel arbeiten. Marko hat keinen Führerschein. Er sagt, das sei nicht nötig, weil er selbst ja genau wisse, wie gut er als Fahrer sei. Ein Diplom? Ein Fetzen Papier, nichts weiter.

Er sitzt im Kaffeehaus an der Ecke, dort, wo die Polizei vor drei Jahren den 16 Jahre alten Jungen erschossen hat. Das hat ihn angeregt, sagt Marko, das habe ihm das abverlangt, was die Politiker in dieser seltsamen parlamentarischen Demokratie nie bewiesen hätten: Verantwortungsgefühl. Seinen richtigen Namen will er nicht veröffentlicht sehen – in keiner Zeitung, auch der eigenen nicht. Darum gehe es nicht, sagt Marko, es gehe nicht um einzelne, sondern nur noch um das Ganze. Das Ganze, das sei die Veränderung. Man könne es auch Revolution nennen. In der Straße nebenan, der »Themistokleous«, weht rot und schwarz die Anarchistenfahne. Drei Blöcke weiter thront schwer die riesige Polizeikaserne über den schmutzigen Gassen, direkt dahinter liegt das Polytechnion, ewiges Sinnbild des Studentenaufstandes gegen die Junta.

Wir sind viele, sagt Marko. Wie viele wir sind, wissen wir selbst nicht. Wahrscheinlich Tausende. Seinen Lebensunterhalt verdient sich Marko im Sommer im Tourismus. Außerdem stellt er Postkarten her, er ist ein guter Fotograf. Er spricht prima englisch und französisch. Er kommt, wie man so sagt, aus gutem Hause. Die Zukunft? Die ist weit, sagt Marko. Wir müssen erst mal die Gegenwart regeln. Die heißt Widerstand. Gegen jene, die schon vor seiner Geburt regierten und immer noch am Ruder sind. Die Papandreous, Pangalos’, Venizelos’, Mitsotakis’. Widerstand ist nicht aus Papier, sagt Marko. Nicht nur. Man muß ihn denen zeigen, die es betrifft. Auf der Straße. Bei der »Parelavsi«, dem Defilee am 28.Oktober beispielsweise.

Zweites Bild

Fast fünf Tage schacherten die Parlamentarier, jene von der PASOK und von der Nea Dimokratia (ND). Es ging nicht um das Wohl des Landes. Das wußten nicht nur die Damen und Herren, die sich am 28. Oktober auf der Tribüne der schändlichen Demonstration ihrer Kinder ausgesetzt sahen. Das wußte zuletzt sogar der Ziegenhirte Pandelis im Dorf Anopolis in den Bergen Kretas. Pandelis hütet 400 Tiere auf den überweideten Äckern seines Heimatortes.

Die Subventionspolitik Brüssels hat ihm eine ständig wachsende Rolle größerer Geldscheine in seine schweren Filzhosen beschert. Was er damit machen soll, weiß er selbst nicht so recht. Er hat sich zuallererst einen vierradgetriebenen Pritschenwagen gekauft, dann einen neuen Kühlschrank und zum Schluß noch einen Fernseher. Draußen vor der Tür wächst nichts mehr, bis hinauf in die 2000 Meter hohen Flanken der Weißen Berge im Bezirk Chanià ist alles Grün vernichtet. Gefressen – so wie beim dicken Pangalos. Eine Steinwüste, die Ziegen verrecken, weil sie vor Hunger sogar giftige Zwiebeln ausgraben, wenn der Schwerlaster mit dem Mais im Sommer nicht rechtzeitig im Dorf ankommt.

Pandelis ist Kommunist. War er immer, so wie sein Vater und sein Großvater. Der Bürgermeister in Anopolis ist Kommunist, so wie er. Und das war auch immer so, das hat sich nie geändert. Die Hirten haben profitiert vom Brüsseler Geldsegen, und sie haben dabei ihre üppigen Weiden verloren. Daß es so nicht weitergehen kann, haben sie längst begriffen. Aber auf die Frage, was sich ändern ließe, hat ihnen bisher keiner geantwortet. Die Lösung hieß bisher »Geld«. Aber das scheint jetzt aufgebraucht zu sein, gefressen, wie Pangalos erklärt, gefressen wie das Gras und die hartlaubigen Kermeseichen.

Am 10. November ist das Schachern in Athen endlich vorbei. Pandelis und seine Nachbarn, alle sind sie Hirten, sitzen im Kaffeehaus vor dem Fernseher. Bei Nikos, dem rothaarigen Wirt, dessen Vater an Krebs gestorben ist, weil er beim Spritzen der Ölbäume keinen Atemschutz tragen wollte. In Anopolis zeigt der Mann sein Gesicht, sagt Pandelis, wir tragen keine Masken. Die Kameras präsentieren das Innere des Präsidentenpalastes. Der neue Premier wird vereidigt. Nicht im Parlament, und auch nicht von einem hohen Richter oder einem Präsidenten. Der ist zwar auch da, der ehemalige Widerständler Karolos Papoulias, aber in dieser entscheidenden Stunde hat er nichts zu melden.

Der Mann des Tages heißt Geronimos, Metropolit von Athen und eine Art Papst der griechisch-orthodoxen Kirche. Was die Hirten fasziniert beobachten, ist eine Krönungsmesse, die kirchliche Absegnung weltlicher Bedürfnisse. Eine Rückkehr in die Zeit der Kaiser und Könige. Nur daß sich das jetzt Demokratie nennt. Das Parlament bleibt ausgesperrt, im Palast des Karolos Papoulias haben sich nur diejenigen vor dem Erzbischof und seinen assistierenden Popen aufgereiht, die Minister werden sollen. Die Hand auf der Bibel, schwören sie Treue, nicht dem Volk, sondern der Verfassung. Die beginnt mit den Worten: »Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit…« und ist somit ein Werk Gottes, nicht des Menschen.

Die Popen sind in diesem Land überall dabei, wo es etwas zu verdienen gibt, sagen die kommunistischen Hirten im Dorf Anopolis, die Hände auf den Hosentaschen, wo die dicken Geldrollen aufbewahrt werden. Die Zeremonie dauert mehr als eine Stunde. Am Ende ist auch Makis Voridis vereidigt, der neue Minister für Infrastruktur und Verkehr. Das ist kein unwichtiger Posten in einem Land, wo – neben der Landwirtschaft – die mit Abstand dicksten Korruptionsposten in der Infrastruktur und im Verkehr anfallen. Nicht nur das hebt ihn heraus aus den klassischen Ressorts wie Finanzen, Justiz und Kultur. Mit Voridis ist – an den Wählern vorbei – die extreme Rechte eingezogen in die Regierung, nur 28 Jahre nach dem Ende der schneidigen Militärdiktatur.

Der neue Minister lächelt, weil er weiß, was ihm und dem Volk hier widerfährt, und wem man es zu verdanken hat.

Seine Partei nennt sich »Laïkos Orthodoxos Synagermos« (Orthodoxer Volksalarm), abgekürzt LAOS. Das hat zwei Vorteile: Zum einen ist es ein Dankeschön an die orthodoxe Kirche, deren Thessaloniker Metropolit Anthimos, genauso wie sein Vorgänger, die Bewegung immer unterstützt hat. Zum anderen heißt »laos« auch »Volk«, und so soll nomen irgendwann und eines Tages omen werden – soll sich das Schicksal der Partei ganz und gar mit dem des Volkes verbinden. Eine große deutsche Boulevardzeitung, die hier nicht die Ehre der Namensnennung erfährt, schrieb zu Recht: In der griechischen Regierung sitzen jetzt jene, die die Juden hassen. »Vergessen« hat das Blatt, daß die christliche griechische Kirche sie dort plaziert hat.

Die Hirten in Anopolis rücken die Stühle, der Wirt stellt Tresterschnaps auf den Tisch. Was soll aus dem Land nun werden? Die Räuber, die sich überall in der kapitalistischen Welt »Bankier« nennen dürfen, habe ihre eigene, die kapitalistische Welt, an den Rand des Abgrunds getrieben. Sie haben ihre eigenen Institute in den Bankrott gewirtschaftet und sind deshalb mit Hunderten Millarden Euro vor dem Ruin gerettet worden. Von demokratischen Regierungen, die den Steuerzahler die Last schultern ließen. Und jetzt, zum krönenden Abschluß, übernehmen Banker, die in einer anderen als der kapitalistischen Welt »Räuber« genannt werden dürften, auch noch die Regierungsmacht? Pandelis und seine Nachbarn trinken erst mal einen ordentlichen Schluck. In den Romanen des kretischen Schriftstellers Nikos Kazantsakis stachen sich die Hirten ihre eigenen Messer in die Arme und Oberschenkel, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußten vor Freude oder Leid – »um sich zu erleichtern«. Im Anopolis dieser Tage zieht keiner mehr das Messer. Es gibt keine Klinge, die scharf genug wäre, um das wallende Blut von diesem Ärger zu befreien.

Der neue Ministerpräsident heißt Loukas Papadimos. Gewollt haben ihn weder das Volk noch das Parlament. Die Führer der beiden großen Parteien, Papandreou und Antonis Samaras von der Nea Dimokratia, schon gar nicht. Samaras, der jeden Sonntag in die Messe eilt, ist ein Einzelgänger. Er ist ein Großbürger, dem das Volk widerlich ist, wie jeder seiner Gesichtszüge verrät. Er ist einer, dem die eigene Macht etwas bedeutet, das Ego – nicht das Gemeinwesen. Er hat alle Maßnahmen zur Sanierung des Staatshaushalts abgelehnt, als er in der Opposition war und sein Gegner Papandreou Regierungschef. Jetzt, in der von Brüssel und dem französisch-deutschen Duo »Merkozy« verordneten »Regierung der Nationalen Einheit« vertritt Samaras genau das Gegenteil. Es geht halt nicht anders.

Der einzige, der ihn vor laufenden Fernsehkameras duzen darf, ist der andere Rechtsradikale, der mit dem eigenen Fernsehsender in Thessaloniki, der Busenfreund des dortigen Metropoliten, der LAOS-Vorsitzende und Volksfreund Giorgos Karatzaferis. Die »Regierung der Nationalen Einheit« – ein Name, der dem französischen Rassisten Jean-Marie Le Pen gefallen würde. Bei der Hochzeit des neuen Verkehrsministers Voridis war er »Ehrengast«, der andere berüchtigte Rechte Frankreichs – wir sprechen nicht von Nicolas Sarkozy sondern von Carl Lang, war Trauzeuge. Vielleicht wird Voridis eines Tages Marine Le Pen, die Tochter des Alten, als Staatsgast laden, oder zur Ehrenbürgerin in Thessaloniki machen, der alten Stadt der Sephardim?

In Athen sagt Marko alle Druck- und Schreibarbeiten ab. Über die neue Lage muß beraten werden. Daß die Schau im Präsidentenpalast nicht unwidersprochen bleiben darf, sagen sogar die Parlamentarier, die nicht geladen waren. Die Generalsekretärin der Kommunistischen Partei zum Beispiel, die winzige, aber zielstrebig-ehrliche Aleka Papariga, die dem neuen Premier Papadimos und seinen sattsam bekannten Ministern jegliche Legitimation abspricht. Und auch Alexis Tsirpas, der Vorsitzende des Linksbündnisses ­SYRIZA, der – wie Papariga – Neuwahlen wollte und keine in Brüssel, Paris und Berlin ausgeheckte Marionettenregierung.

Drittes Bild

Ein Banker, sagt der Rechtsanwalt Panagiotis Tsouridis, ist selten ein Demokrat. Oder eher gar nicht. Ist die neue Regierung legal, oder wenigstens legitim? Kaum hat Geronimos, Erzbischof von Athen und Mann Gottes, den Banker und Ökonomen Loukas Papadimos zum Premier geweiht, samt seinem Minister Voridis, da bricht ein biblischer Sturm über das Land herein, als hätte Jahwe wieder das Sagen, und nicht mehr der christliche Gott, in dessen Namen das alles hier geschaukelt wurde.

Rechtlich gesehen – kein Problem, sagt der Rechtsanwalt Tsouridis. Rechtlich war das in Ordnung, sagt auch der Athener Professor und Verfassungsexperte Nikos Alivizatos. Wenngleich »das Recht« in diesem Falls womöglich nicht »rechtens« war noch ist.

Notis Tsouridis sitzt im alten Hafen der zauberhaften Stadt Chanià im Westen Kretas. Es ist der Samstag nach der Regierungsweihe, der Krönungsmesse für den Technokraten aus Brüssel, der Papadimos nun mal ist. Riesige Brecher rollen von der offenen See herein, die Wasser schlagen in die Stuhlreihen der Kaffeehäuser und Restaurants. Plötzlich läuft ein Schiff aus, ein Schiffchen eher, ein Segelboot. Mitten hinein die Wellenwand steuert es. Ein Wahnsinn. Doch es geht nicht unter im tosenden Wasser, es bleibt oben, schwimmt wie ein Korken – und dann ist es fort, verschwunden gen Norden, wo die Winde noch eisiger fegen als hier im Süden der ägäischen Inselwelt.

Wenn wir wenigstens Hoffnung hätten – wenn wir zwei, drei Köpfe hätten, die etwas zur Zukunft Griechenlands sagen könnten, die Perspektiven hätten für das Volk, sagt Notis, der Rechtsanwalt, fasziniert und erschüttert zugleich vom scheinbar ungleichen Kampf des weißen Bootes mit den schwarzen Wellen. Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt sagte einst: Wer Visionen hat, muß zum Arzt gehen. So ist das immer geblieben in Deutschland und der Welt. Visionen sind für die, die mehr wollen – oder auch weniger als Waffenhandel und Hunger auf der Welt.

Griechenlands Anteil am globalen Waffenimport liegt bei vier Prozent, sein Hauptexporteur – gerechnet am Anteil der Transfers – ist Deutschland – mit 31 Prozent. Deutschland ist der weltweit drittgrößte Waffenexporteur – sein zweitbester Kunde, nach der Türkei, ist Griechenland (SIPRI Yearbook 2009).

Der Sturm, der auf die Vereidigung der neuen Regierung folgt, legt für drei Tage die Schiffahrt lahm. Es ist wie im Alten Testament: Der Gott der Juden bestrafte den Tanz ums goldene Kalb. Wird der liberale Christengott nun zurückschlagen? Oder wird das Volk begreifen, daß das alles nichts mit Gott oder Jahwe zu tun hat, sondern mit Geld, Geschäft und Korruption? Notis, der Rechtsanwalt, schüttelt den Kopf. Die Kirche sagt er, ist einer unserer wesentlichen Risikofaktoren. Sie übt Macht aus, aber sie bleibt unkontrolliert. Sie streicht Geld ein, aber sie bezahlt keine Steuern, sie hat Vermögen, und schweigt darüber. Alles, was sie zu sagen hat, ist »Gott sei Dank« und »Amen«.

Nur Stunden nach der Vereidigung explodiert im Athener Vorort Chalandri eine Bombe vor der Villa eines Ermittlers. Bedroht ist ein leitender Angestellter der griechischen Zentralbank, der mafiös anmutende Geschäfte der Privatbank »Proton Trapeza« prüfen soll. Die Polizei geht davon aus, daß der Mann gewarnt und zugleich beruhigt werden sollte: Eine Einigung ist immer dort möglich und notwendig, so das allgemeine Credo internationaler Bankhäuser, wo der Tod von Menschen vermieden werden sollte. Die »Proton Trapeza« hatte, ganz in diesem Sinne, 120 Millionen Euro griechische Staatshilfe erhalten, im Oktober fast 900 Millionen aus dem Europäischen Rettungsfonds. Besitzer Lavrentis Lavrentiadis, dem Namen nach ein Grieche kleinasiatischer Abstammung, hatte unterdessen – wie die Staatsanwaltschaft nun beklagt – mehrere hundert Millionen Euro ins Ausland verschoben oder an Firmen abgeführt, hinter denen die Ermittler eben diesen Lavrentiadis vermuten

* * *

Der Taxifahrer Babis Papadakis rauscht nach diesem gräßlichen Wochenende, als dem Sturm auf dem Meer der Sturm der Entrüstung noch nicht gefolgt ist, durch die Athener Innenstadt. Weil er den Fahrgast für einen Fremden hält, des Griechischen nicht mächtig, spricht er am Mobiltelefon ganz frei mit seiner Frau: Ich sitze seit heute Morgen um sieben Uhr am Steuer, jetzt ist es sieben Uhr abends. Ich habe 40 Euro eingenommen, 25 davon gehen für den Treibstoff weg. 15 Euro für zwölf Stunden Arbeit? Wie soll es weitergehen?

Was ist falsch gelaufen, fragt der Kulturredakteur Kostas Voulgaris von der Tageszeitung Avgi? Als wir 1981 alle »links« wählten, dachten wir, daß Andreas Papandreou, der Gründer der PASOK, uns Linke führen könnte. Fünf Minuten nach seiner Wahl war der Dialog erstorben. Fortan sprach nur noch einer. In den folgenden Monaten wurde die Partei »gereinigt« von allen linken Elementen, jedes Gespräch war hinfällig. Die Stützpunkte der USA, die er zu schließen versprochen hatte und womit er die Wahl gewonnen hatte – wegen der herzlichen Freundschaft zwischen USA und Junta, sie blieben nicht nur alle erhalten, sie wurden sogar noch ausgebaut. War das der Moment, als wir verloren haben? War es schon 1974, als die Junta abtrat, und wir weder die Kirche vom Staat trennten noch die alten Oligarchien abschafften? Als alle, die uns schon mehrmals betrogen hatten– die Karamanlis, Papandreou, Mitsotakis – wieder zurückkamen an die Macht, als habe es die Diktatur nie gegeben? Diese Fragen müssen wir uns und unseren Kindern beantworten, wenn wir einen Neubeginn schaffen wollen.

Zum Ende, und weil es sich um Griechenland handelt, muß eine Parabel aus der Mythologie erlaubt sein:

Marsyas, der ziegenfüßige, schmerbäuchige Silen, vermaß sich, mit dem Gott Apollon in einen Wettkampf zu treten. Der Kampfpreis? Daß der Sieger mit dem Verlierer beliebig verfahre. Nach Belieben und Maß. Was das denn sei, fragte der Silen. Er werde ihn ergründen, falls er siege, sprach Apollon. Der Gott des Lichts und der Reinheit gewann den Wettstreit, wer sonst? Der lebensfrohe, trunkene Marsyas verlor. Apollon suchte im Inneren des Silen, er ließ Marsyas häuten von skythischen Hirten, er suchte seine Seele, er suchte, was sein Wesen sei. Er fand Jauche, Blut, Kot, Hirn, Galle, Schleim, Mark und Urin. Er fragte: Welcher Strom, Silen, trägt Deine Seele? Er fand ihn nicht. Als Gestalt war Marsyas vernichtet, als Geschöpf des Gottes Dyonissos aber war er unsterblich. Genau wie Griechenland, wo Marsyas’ Balg bis heute in den Sümpfen singt und weint.

* Aus: junge Welt, 19. November 2011


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