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"Griechenland hat praktisch kein Asylrecht"

Beschwerde wegen Verletzung der EU-Vorschriften: Flüchtlingsorganisationen wollen auch andere Staaten in die Pflicht nehmen. Ein Gespräch mit Karl Kopp

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge e.V.)



Pro Asyl und 20 andere Flüchtlingsorganisationen aus ganz Europa haben bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde gegen Griechenland wegen Verletzung des EU-Asylrechts eingereicht. In welchen Punkten sehen Sie es verletzt?

Eigentlich in allen Punkten. In der Praxis gibt es in Griechenland kein Asylrecht, das den Namen verdient. Zur Zeit gibt es dort einen Rückstand von 30000 unbearbeiteten Asylanträgen. Flüchtlinge haben keine Chance auf ein faires Verfahren. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR verweigert sogar die Mitarbeit, weil die griechische Verfahrensweise völkerrechtswidrig ist und auch gegen EU-Recht verstößt.

Wie läuft so ein Verfahren konkret ab?

Die erste Instanz befindet sich neuerdings unter der Ägide der regionalen Polizeidirektionen. Denen fehlen aber die Dolmetscher, das Know How und die Fachkompetenz. Im letzten Jahr lag die Anerkennungsquote nur knapp über null Prozent. Und das selbst bei Flüchtlingen aus Ländern wie dem Irak, Somalia und Afghanistan, die in anderen EU-Ländern hohe Anerkennungsquoten haben - zwischen 50 und 90 Prozent. Die zweite Instanz wurde im Sommer durch einen sogenannten Präsidialerlaß abgeschafft. Die bisher dritte Instanz - also nun faktisch die zweite - ist ein hoffnungslos überlastetes Gericht, das nicht in der Lage ist, effektiven Rechtsschutz zu gewähren.

Die Anfang Oktober gewählte Regierung muß ein neues Schutzsystem schaffen. Besonders wichtig: Das Asylverfahren darf künftig nicht mehr in den Händen der Polizei liegen, und die Regelinhaftierung Schutzsuchender muß beendet werden. Griechenland braucht offene und menschenwürdige Unterkünfte für Flüchtlinge. Die Europäische Kommission hätte schon längst ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten müssen, nachdem Griechenlands rudimentäres Aufnahmesystem völlig zusammengebrochen ist. Wir haben lange genug gewartet. Es gibt mittlerweile eine Bibliothek an Literatur über Menschenrechtsverletzungen in Griechenland und die Defizite im Asylbereich.

Zum Beispiel?

Auch in Griechenland gilt ein Gesetz, das Flüchtlingen einen Schlafplatz, Verpflegung und Taschengeld garantiert. In der Praxis werden diese Basisrechte Schutzsuchenden aber vorenthalten. Ein Großteil der Asylsuchenden landet auf der Straße, lebt in Abbruchhäusern, auf Parkbänken oder in Elendsunterkünften, die privat bezahlt werden müssen. Das können aber die wenigsten. Viele Schutzsuchende, darunter unbegleitete Flüchtlingskinder, sind mittel- und obdachlos.

Sie weisen darauf hin, daß in Griechenland aufgrund seiner geographischen Lage besonders viele Flüchtlinge ankommen. Hat man da als Deutscher nicht leicht reden?

Natürlich, wenn wir mit dem Finger auf Griechenland zeigen, dann zeigen drei Finger zurück auf Berlin, Brüssel oder London. Es geht uns nicht darum, ein einzelnes Land an den Pranger zu stellen. Deshalb kritisieren wir auch die Dublin-II-Verordnung, die Griechenland eine überproportionale Verantwortung zuweist. Diese Regelung bedeutet, daß das erste europäische Land, in das die Flüchtlinge eingereist sind, in der Regel für die Asylprüfung zuständig ist. Da sind Staaten wie Deutschland natürlich fein raus. Sie schieben die Schutzsuchenden zurück und möchten ihre Insellage im Inneren der EU um jeden Preis erhalten. Diese unsolidarische und unmenschliche Verordnung muß grundlegend geändert bzw. abgeschafft werden, da sind wir uns mit der neuen griechischen Regierung einig.

Also ist Ihre Beschwerde eher ein stellvertretender Hilferuf?

Es ist eine Doppelbotschaft. Griechenland hat es versäumt, ein Asylsystem aufzubauen - und das muß schleunigst nachgeholt werden. Aber selbst wenn Griechenland ein intaktes System hätte - das Land wäre überfordert. Wir brauchen mehr innereuropäische Solidarität. Die EU und Staaten wie Deutschland müssen Griechenland beim Aufbau eines Aufnahme- und Asylsystems unterstützten. Aber das reicht nicht.

Wenn pro Jahr 2000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan allein auf Lesbos ankommen, dann müssen sie nach humanitären, kindgerechten Kriterien europaweit verteilt werden. Auch Deutschland muß einen Teil aufnehmen.

Interview: Claudia Wangerin

* Aus: junge Welt, 13. November 2009


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