Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gesenkter Daumen

Jahresrückblick 2011. Heute: Griechenland. Die Austeritätspolitik treibt das Land immer tiefer in die Krise

Von Heike Schrader, Athen *

In Griechenland endet das Jahr 2011 mit einem Haushaltsdefizit von wahrscheinlich neun statt der geplanten 7,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dazu kommen eine in den ersten neuen Monaten des Jahres um 6,9 Prozent des BIP geschrumpfte Wirtschaftsleistung sowie eine gegenüber 2009 um fast 100 Prozent auf 18,4 Prozent gestiegene Arbeitslosenrate. Das sind einige Ergebnisse der seit 2010 über Griechenland verhängten Austeritätspolitik, die das Geschehen dort bestimmte. Denn obwohl bereits bewiesen ist, daß die drastischen Kürzungsmaßnahmen das Land nur tiefer in die Krise reiten, hielten in- und ausländische Machthaber auch 2011 unbeirrt an der »Mit-Vollgas-in-die-Depression-Politik« fest. Den öffentlichen Angestellten und allen Rentnern wurden erneut die Bezüge gekürzt, der Steuerfreibetrag von ehemals 12000 auf 5000 Euro, satte anderthalbtausend Euro unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, gesenkt. Selbständige wurden unabhängig vom Einkommen mit einer Kopfsteuer, Millionen Besitzer kleiner Eigenheime mit einer Sondersteuer geschröpft. Die Kürzungen der Löhne im Staatsdienst und die allgemeine Rezession wurden von den weiterhin Gewinne machenden Großunternehmern genutzt, um ihrerseits Entgeltstreichungen und »Flexibilisierung« bei den Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Tatkräftig unterstützt wurden sie dabei von der Regierung, die parallel im Parlament Gesetze über eine weitreichende Lockerung des Kündigungsschutzes, die Aufhebung von Tarifbindungen und anderen Errungenschaften der Erwerbstätigen verabschiedete.

Sozialstaat vernichten

Glaubte man in Griechenland zu Beginn noch, Regierung und Gläubigertroika aus EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank ginge es darum, das Land aus der Krise zu führen, sind diese Illusionen 2011 weitgehend verflogen. Zu offensichtlich ist die Strategie, am Rande der EU eine großflächige Sonderwirtschaftszone zu schaffen, in der von entrechteten Beschäftigten zu Hungerlöhnen produziert wird. Und zu deutlich sind die Anstrengungen, den über Jahrzehnte erkämpften Sozialstaat zu vernichten. Bildung, Gesundheitsfürsorge, Kultur, Sport, was immer eine bürgerliche Demokratie an Leistungen für ihre Bürger zu bieten hat – alles wird den asozialen Gesetzen des Marktes überantwortet und der bürgerliche Staat auf seine »Kernaufgaben« reduziert, die zur Sicherung der unbegrenzten Ausbeutung der »99 Prozent« nötig sind: Rechtssicherheit, sprich Sicherung der Eigentumsverhältnisse, und Schutz gegen »innere« und »äußere« Feinde.

Kein Wunder also, daß die wirtschaftliche Krise in diesem Jahr um eine zweite, die politische Krise, ergänzt wurde. Die Umfragewerte der beiden großen, sich seit Ende der Militärdiktatur (1967-bis 1974) an der Regierung abwechselnden Parteien PASOK und Nea Dimokratia sind auf einen historischen Tiefstand gesunken. Eine Alleinregierung wäre bei Wahlen für keine der beiden – selbst mit den 50 Bonussitzen für die stärkste Partei – mehr möglich. Niemandem wird zugetraut, das Land aus der Krise zu führen. Die Umfragewerte des bis vor kurzem amtierenden Regierungschefs Giorgos Papandreou sind in den einstelligen Bereich abgerutscht. Wenn ein Parlament nicht mehr auch nur ansatzweise imstande ist, den Wählerwillen zu respektieren, darf es sich über einen vollkommenen Vertrauensverlust nicht wundern. Nicht nur in Griechenland manifestierte sich diese Tendenz in den wochenlangen beeindruckenden Protesten Zehntausender »Empörter« auf den öffentlichen Plätzen.

Der Diktatur der Märkte entsprechend reagierte das politische System in Griechenland wie in Italien auf die Einforderung von Demokratie seitens der Bevölkerung mit ihrer Abschaffung. Ein als Volksabstimmung getarnter Erpressungsversuch von Giorgos Papandreou, die Griechen im November vor die Alternative »noch mehr sparen« oder »Euro-Rausschmiß und Verelendung« zu stellen, wurde von den Stichwortgebern in der EU schon im Ansatz abgewürgt, wobei man sich gleichzeitig des überflüssig gewordenen Premiers entledigte. Der letzte Sprößling Papandreou, Sohn der Inkarnation griechischer Sozialdemokratie, nämlich von Andreas Papandreou, hat mit der Einleitung der asozialen Umverteilungspolitik seine Schuldigkeit getan, der Rest wird nun von »Fachleuten« erledigt. In einer von scheinbaren Sachzwängen determinierten Politik hat der parlamentarisch-repräsentative Prozeß jeden Inhalt verloren. Er dient nur noch der Legitimation der ungeschminkten direkten Herrschaft des Kapitals, die in Griechenland mit der Inthronisierung eines führenden Bankers als Regierungs­chef auch symbolisch angemessen implementiert wurde.

Die im November völlig undemokratisch ausgekungelte Dreiparteienkoalition aus PASOK, Nea Dimokratia und ultrarechter LAOS-Partei unter dem ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank, Loukas Papadimos, dürfte denn auch zukunftsweisend sein. Der als Beweis für die Befristung der Elitenherrschaft versprochene Wahltermin im Februar war bereits wenige Wochen später Makulatur. In den Medien beginnt man bereits, das übergangene Volk vorsichtig auf die Normalisierung dieses »Ausnahmezustandes« vorzubereiten. Und selbst wenn man das Stimmvieh im kommenden Jahr wieder an die Urnen führen sollte, ist es nicht unwahrscheinlich, daß sich dieselben bürgerlichen Parteien auf einen scheinbar neutralen »unpolitischen Fachmann« als Regierungschef einigen. Umfragen zufolge könnte rein rechnerisch zwar auch eine Koalition aller linken und halblinken Kräfte gewinnen, de facto ist diese aber aufgrund zu großer politischer Differenzen unter ihnen unmöglich.

Der Mangel an allgemein akzeptierten politischen Modellen spiegelte sich dennoch auch dieses Jahr in beeindruckendem Widerstand. Die schon erwähnten Proteste der im Mai in Erscheinung getretenen griechischen »Empörten« einte zwar vor allem die Forderung nach dem »Verschwinden der korrupten Parteien und Regierung«. Als sich dies aber mit den allabendlichen friedlichen Demonstrationen vor dem Parlament nicht durchsetzen ließ, verebbte die Bewegung bereits Anfang August wieder. Selbst die undemokratische Installierung der jetzigen Regierung Papadimos ließ die »Empörten« nicht wieder antreten.

Kein Tag ohne Streik

Konsequenter und beharrlicher zeigt sich der Widerstand vor allem in Aktionen gegen die konkreten Austeri­tätsmaßnahmen. Jedes neue Memorandum mit der Gläubigertroika, jedes neue Kürzungspaket wurde mit einem Generalstreik beantwortet. Insgesamt sechs davon, vier eintägige und zwei zweitägige, fanden unter der Beteiligung von Hunderttausenden Lohnabhängigen 2011 statt, der erste am 23. Februar, der letzte am 1. Dezember. Den unbestrittenen Höhepunkt bildete dabei der erste Tag des 48stündigen Generalstreiks im Oktober, an dem sich erstmals spürbar auch die Inhaber kleiner Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe beteiligten. Die Streikdemonstrationen am 19. Oktober wurden einhellig als die größten seit Jahrzehnten bezeichnet.

Seit Monaten vergeht kein Tag, an dem sich nicht irgendeine Berufsgruppe zur Wehr setzt. Viele der Streiks, wie beispielsweise der Taxifahrer im August, der Müllarbeiter im Oktober, der Stahlarbeiter seit November oder der Lohnabhängigen bei diversen Medienunternehmen liefen über Wochen. So mancher Ausstand konnte nur durch die Knute der staatlichen Dienstverpflichtung beendet werden, andere gehen bis jetzt weiter. Besetzungen von Betrieben, Ministerien und Rathäusern haben sich als allgemein akzeptiertes Kampfmittel etabliert, ebenso wie die von verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Formationen gegründeten Initiativen zur tatkräftigen Unterstützung derjenigen, die in Massen die Zahlung der zahlreichen Sondersteuern verweigern. Es ist diese quantitative und qualitative Steigerung des Widerstands, die die Hoffnung auf eine Wende zugunsten der »99 Prozent« am Leben hält.

* Aus: junge Welt, 30. Dezember 2011


Zurück zur Griechenland-Seite

Zurück zur Homepage