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"Schweinestaat"

Rückblick 2010. Heute: Griechenland. Sieben Generalstreiks gegen das Kürzungsdiktat der EU

Von Heike Schrader, Athen *

Die junge Welt betitelte ihre Ausgabe zum 1. Mai mit »Wir sind alle Griechen«, und dieser Slogan wurde auch in der BRD zu einer beliebten Parole auf Demonstrationen gegen Sozialabbau. Griechenland, das als erstes der nach ihren Anfangsbuchstaben PIIGS als »Schweinestaaten« denunzierten EU-Mitglieder Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spa­nien an den Rand des Staatsbankrotts getrieben wurde, bekam im auslaufenden Jahr die Knute des im Dienste der internationalen Kapitalinteressen äußerst rührigen Dreigespanns aus EU, IWF und Europäischer Zentralbank zu spüren. Lohn- und Rentenkürzungen, Sozialabbau und Steuererhöhungen, aber auch der Widerstand dagegen haben die letzten zwölf Monate im sonnigen Mittelmeerland geprägt.

Vorgegangen wurde dabei nach dem geradezu klassischen Muster, die Sozialdemokratie die Drecksarbeit erledigen zu lassen, die jede konservative Partei die Regierung gekostet hätte. In Griechenland hatte dafür Kostas Karamanlis im Oktober 2009 vorgezogene Neuwahlen durchführen lassen. Der Ministerpräsident der konservativen Nea Dimokratia war sich dabei bewußt, daß er diese verlieren würde, da er in seinem Wahlprogramm mit harten Einschnitten für die Mehrheit der Wähler drohte. Die oppositionelle PASOK warb dagegen mit dem Versprechen, den bereits kriselnden Wirtschaftsmotor mit Lohn- und Rentenerhöhungen sowie öffentlichen Investitionen anzukurbeln.

Unter dem Vorwand, daß das Haushaltsdefizit weitaus höher sei als angenommen, begann der neue Ministerpräsident Papandreou dann jedoch unmittelbar nach Amtsübernahme mit dem brutalsten »Sparprogramm«, das dem Land je aufgezwungen wurde. Bereits am Dreikönigstag traf darüber hinaus in Athen eine Abordnung der EU ein, um weitere Kürzungen zu fordern, damit »die Kreditmärkte nicht das Vertrauen in Griechenland verlieren«. Dort verdiente man sich zugleich mit Spekulationen auf einen griechischen Staatsbankrott dumm und dusselig, bis im April schließlich ein 110 Milliarden schweres Kreditprogramm der »Troika«, anfänglich gegen den Widerstand der bundesdeutschen Kanzlerin, für Griechenland bereitgestellt wurde. Während diese Milliarden vor allem die Rückzahlung alter Kredite an Banken in der BRD und Frankreich garantieren, wurde das griechische Volk kräftig zur Kasse gebeten. Lohn- und Rentenkürzungen um bis zu 20 Prozent, eine schrittweise Erhöhung der Mehrwertsteuer um satte vier Prozentpunkte – weitere zwei Prozentpunkte bei den Lebensmitteln werden Anfang nächsten Jahres folgen – und drastische Kürzungen bei sämtlichen sozialen Leistungen des Staates bilden nur die Spitzen eines umfassenden Verelendungsprogrammes für die breite Masse der Lohnabhängigen.

Anstatt wirkungsvolle Arbeitskämpfe zu organisieren, fungierten die offiziellen Gewerkschaftsdachverbände GSEE (private Wirtschaft) und ADEDY (öffentlicher Dienst) von Anfang an als Bollwerk gegen aufkeimenden Widerstand. Dominiert von der PASOK-nahen Gewerkschaftsfraktion PASKE sah man hier anfänglich keinen Bedarf für Streiks und schloß sich der von Ministerpräsident Papandreou eingeläuteten »Kampagne zur Rettung des Landes« an. Einzig die der Kommunistischen Partei (KKE) nahestehende Gewerkschaftsfront PAME mobilisierte bereits im Dezember 2009 ihre Mitglieder gegen diese Stillhaltetaktik zum ersten großen Massenstreik. Unter dem Druck dieser und anderer erfolgreicher Massenmobilisierungen der PAME sowie einer revoltierenden Basis riefen die Dachverbände schließlich im Februar zum ersten Generalstreik auf. Doch anstatt die über das ganze Jahr laufenden, von verschiedenen Branchen isoliert geführten, Kämpfe zu bündeln, beschränkten sich die Dachverbände auf die Ausrufung von mehr als einem halben Dutzend eintägiger Generalstreiks, zuletzt am 15. Dezember. Diese Politik, den Widerstand auszubremsen, führte zu einem raschen Vertrauensverlust der gewerkschaftlichen Basis in die »offensichtlich verkaufte« Führung in den Gewerkschaftsspitzen. Während Teile der Arbeiterschaft sich der PAME anschlossen, entstand gleichzeitig ein starker Block unabhängiger Basisgewerkschaften, die ebenfalls in Opposition zur Linie von GSEE und ADEDY agieren.

Am 5. Mai erreichte der Widerstand seinen vorläufigen Höhepunkt. Mehr als 200000 Menschen protestierten allein in Athen, Tausende versuchten, das griechische Parlament zu stürmen. Damit hätte der Kampf eine neue Dimension erreichen können, und man wäre vom Widerstand zum Gegenangriff übergegangen, wenn nicht gleichzeitig eine Tragödie die Ereignisse überschattet hätte. Durch aus der Demonstration heraus verübte Brandanschläge starben in einer Bankfiliale in der Athener Innenstadt drei Menschen an Rauchvergiftung.

Der Schock über die Toten war aber nicht der Grund, warum die Proteste in den folgenden Monaten abflauten. Ausschlaggebend war vielmehr zum einen die Unnachgiebigkeit des Systems, das von Polizeiknüppeln gegen Demonstranten bis zur gewaltsamen Beendigung erfolgversprechender Streiks durch Zwangsverpflichtung alle Register der Repression zog. Noch wichtiger war für viele die fehlende Alternative. Noch ist auch in Griechenland nur eine – wenn auch verhältnismäßig große – Minderheit für einen Sturz des kapitalistischen Systems. Die überwiegende Mehrheit aber glaubt nicht an die Realisierbarkeit eines Systemwechsels und steckt damit in einer Sackgasse. Denn unter den gegebenen kapitalistischen Verhältnissen bieten weder ein Regierungswechsel noch der Austritt aus der EU oder die Rückkehr zur Drachme eine Lösung, für die sich der hohe Einsatz in Streiks und Straßenprotesten lohnt. Dies erklärt auch die verhältnismäßig schwachen Proteste gegen die Übernahme der nationalen Herrschaft durch EU und IWF.

Trotzdem wurde und wird in Griechenland nach wie vor fast täglich Widerstand geleistet. Die einzelnen Kämpfe aber sind isoliert, eine Berufsgruppe läßt sich gegen die andere ausspielen. Einzig die PAME mobilisiert ihre Reihen mit branchenübergreifenden Forderungen. Die Gewerkschaftsfront kontrolliert zahlreiche Basis- und mehrere Branchengewerkschaften, ist aber trotzdem noch nicht stark genug, um im Alleingang beispielsweise einen wirkungsvollen Kettenstreik über mehrere Branchen und einen längeren Zeitraum zu organisieren.

Im nächsten Jahr werden sich die Verhältnisse im Lande weiter verschärfen. Die Regierung hat bereits neue »Sparmaßnahmen« angekündigt, gegen die sicherlich weiter Widerstand geleistet werden wird. Wenn dieser erfolgreich sein will, müssen die punktuellen Kämpfe verbunden und zu einem »Marsch aufs Ganze« vereinigt werden. Das gilt national wie international: »Wir sind alle Griechen« hat Ende 2010 Dimensionen angenommen, die noch vor zwölf Monaten nur für wenige sichtbar waren. Trotz oder wegen aller »freiwilligen« Einsparungen bei den Lohnabhängigen ist auch Irland bereits unter das euphemistisch als »Rettungsschirm« bezeichnete Diktat der »Troika« aus EU, IWF und EZB geschlüpft. Spanien und Portugal werden gedrängt, dasselbe zu tun. Von Sozialabbau und Lohnraub im Namen »der Krise« sind auch die Erwerbstätigen der übrigen EU-Mitgliedstaaten betroffen oder zumindest bedroht. Der Widerstand gegen den gemeinsamen Gegner aber wird derzeit noch vor allem von Ländern getragen, in denen es schlagkräftige und vor allem klassenbewußte Gewerkschaftsorganisationen gibt. Von ihren Erfahrungen sollten wir profitieren, um den Angriff zurückzuschlagen und 2011 zu einem Jahr der Rückeroberung der in diesem Jahr verlorenen Rechte und Errungenschaften zu machen.

* Aus: junge Welt, 21. Dezember 2010


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