Die Zerstörung einer Hoffnung
Vor 25 Jahren benutzten die USA den internen Putsch gegen Grenadas Premierminister Maurice Bishop als Vorwand, um den Projekten der Revolution den Garaus zu machen
Von Gert Eisenbürger *
Am 25. Oktober 1983 überfielen US-Truppen die Karibikinsel Grenada, mit rund 344
Quadratkilometern und 90 000 Einwohnern eines der kleinsten Länder der Welt. Vorangegangen
war der Invasion ein Machtkampf in der revolutionären Führung des Landes, der einen für die
gesamte Region hoffnungsvollen politischen und sozialen Prozess blutig beendete.
Die Bewegung des Jahres 1968 war keineswegs ein ausschließlich europäisches Phänomen. Auch
in der sogenannten Dritten Welt gingen junge Leute auf die Straße, so auch in der Karibik. In
Jamaika rebellierten Studenten und die Bewohner von Armenvierteln der Hauptstadt Kingston vor
genau 40 Jahren, im Oktober 1968, gegen die Politik der konservativen Regierung, die nichts zur
Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und zur Überwindung der kolonialen Strukturen in dem seit
1962 unabhängigen Land tat. Von den »Rodney Riots« – benannt nach dem legendären Historiker
Walter Rodney – ist seither die Rede.
Am nachhaltigsten war die Wirkung der Rodney Riots auf der kleinen ostkaribischen Insel Grenada.
Dort bildete sich 1969/70 um die Jurastudenten Maurice Bishop, Unison Whiteman und Kenrick
Radix eine Gruppe, aus der sich später das New Jewel Movement (NJM) formierte. Dies entwickelte
sich schnell zur wichtigsten Opposition gegen den autokratischen Ministerpräsidenten Eric Gairy. Als
die britische Regierung Grenada 1974 in die Unabhängigkeit »entließ«, errichtete Gairy eine Diktatur
mit ziviler Fassade. Mit den Momgoose Gang schuf er eine paramilitärische Schlägertruppe, die die
Opposition terrorisierte. Als Gairy zur UN-Vollversammlung in New York weilte, stürmten Mitglieder
der NJM in der Nacht zum 13. März 1979 die einzige Kaserne Grenadas und setzten die
überwiegend schlafenden Soldaten fest. Über Radio rief Maurice Bishop die Leute auf, auf die
Straße zu gehen und die Macht zu übernehmen. Mehr als 10 000 Menschen folgten dem Aufruf und
machten aus dem nächtlichen Handstreich eine wirkliche »People's Revolution«.
Vorreiter in Sachen Volksbeteiligung
Aus den Aktivisten des NJM wurden Regierungsmitglieder, Maurice Bishop wurde Premierminister.
Alle waren sehr jung und unerfahren: Bishop war 35 Jahre alt, Landwirtschaftsminister George
Louison gerade mal 27. Ihr Ziel war ein modernes Grenada, was nichts Geringeres bedeutete, als
die Überwindung der Plantagenökonomie, die das Leben auf der Insel über Jahrhunderte geprägt
hatte. Das Land exportierte wenige Agrargüter (zunächst Zucker, später Gewürze, Kakao und
Bananen) und importierte alles, was gebraucht wurde. Damit sollte Schluss sein. Die Agrarprodukte
sollten zumindest teilweise auf der Insel verarbeitet werden: Früchte zu Marmeladen und Säften,
Gewürze zu Soßen und Chutneys, Kokosnüsse zu Öl, Holz und Kokosfasern zu Möbeln und
Kunsthandwerk. Dazu wurden staatliche Betriebe aufgebaut, aber auch Kredite an private Betriebe
und Genossenschaften vergeben. Ein spezielles Programm unterstützte arbeitslose Jugendliche, die
Kooperativen in der Landwirtschaft oder im Dienstleistungsbereich aufbauen wollten. Das
Privateigentum wurde garantiert, nur die Betriebe Gairys und seiner Günstlinge, die nach der
Revolution das Land verlassen hatten, wurden verstaatlicht oder den Beschäftigten als
Genossenschaften übergeben.
Anstelle von Wahlen sollte ein System der Volksbeteiligung (People's Participation) stehen.
Bürgerversammlungen, zunächst auf Gemeinde- und Landkreisebene, sollten ein System direkter
Demokratie schaffen. 1982 wurde erstmals ein partizipativer Haushalt für die Insel verabschiedet.
Die Ministerien erstellten einen Entwurf, welche öffentlichen Investitionen getätigt werden sollten.
Dieser wurde landesweit auf Bürgerversammlungen diskutiert. Die Leute konnten für ihre Gemeinde
oder ihren Landkreis Gegenvorschläge machen und die Haushaltsprioritäten verändern. Dieses
Modell wurde ein Jahrzehnt später in südamerikanischen Großstädten wie Porto Alegre (Brasilien)
oder Montevideo (Uruguay) von linken Gemeinderegierungen aufgegriffen und weiterentwickelt.
Inzwischen gibt es auch in europäischen Städten Versuche, Bürgerbeteiligungen bei der Erstellung
von Kommunalhaushalten zu praktizieren.
Das NJM spielte nach 1979 im Alltag keine große Rolle mehr. Die Führungsleute waren
Regierungsmitglieder geworden und zogen sich teilweise aus der Arbeit der Partei zurück, die
zunehmend zur Spielwiese einiger Sektierer wurde. Die Identifikation mit der Revolution – oder auch
deren Ablehnung – lief über die Regierung, vor allem über Maurice Bishop. Er war der geniale
Kommunikator, der wusste, wie er die Leute ansprechen und begeistern konnte. Seine Popularität
war immens, auch bei vielen, die der Revolution kritisch gegenüberstanden.
Was hatte die Revolution den Leuten gebracht? In jeder Gemeinde wurde ein Gesundheitszentrum
aufgebaut, wo eine Krankenschwester fest angestellt war und Ärzte regelmäßig Sprechstunden
abhielten. Diese Angebote waren unentgeltlich. Dies war nur dank der Arbeit kubanischer Ärzte
möglich, denn die meisten grenadinischen Mediziner betrieben weiterhin ihre Privatpraxen, in denen
sie nur zahlungsfähige Patienten gegen Geld behandelten. Fortschritte gab es auch im
Bildungswesen. Neue Schulen wurden gebaut und eine Alphabetisierungskampagne begann.
Wirtschaftlich ging es vielen Leuten besser. Die Arbeitslosigkeit ging zurück, vor allem durch
öffentliche Programme. Die gab es sowohl für Projekte, die geeignet waren, dauerhafte Arbeitsplätze
zu schaffen, wie die erwähnten Kooperativen, als auch für kurzfristige
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, etwa beim Bau und der Ausbesserung von Straßen und
öffentlichen Gebäuden. Verschiedene Grundnahrungsmittel wie Mehl, Zucker und Öl wurden
deutlich billiger. Dies wurde zum einen durch Subventionen erreicht, zum anderen durch die
Gründung einer staatlichen Import- und Vermarktungsgesellschaft, die die Waren en gros importierte
und in öffentlichen Läden kostengünstig anbot.
Reagan hatte Grenada stets im Visier
Außenpolitisch war die Lage der Revolution schwierig. Die Regierung Reagan in den USA stellte
Grenada auf die gleiche Ebene wie das sandinistische Nicaragua und hatte von Anfang an das Ziel,
die Revolution zu eliminieren. Der Bau eines internationalen Flughafens wurde als Errichtung eines
kubanischen Stützpunkts denunziert. Dabei war er schon lange vor der Revolution geplant worden.
Grenada hatte nur eine Landebahn für sehr kleine Maschinen. Ein größerer Flughafen, über den die
Nachbarinseln Barbados und St. Lucia schon länger verfügten, war die Voraussetzung für jeglichen
Ausbau des Tourismus, auf den auch die Revolutionsregierung setzte. Die Feindseligkeit der
Reagan-Regierung lag maßgeblich in der Ausstrahlung der Revolution auf die karibischen
Nachbarstaaten und auch auf die Schwarzen in den USA selbst begründet. Die Regierung Bishop
versuchte außenpolitisch Bündnisse in verschiedene Richtungen einzugehen, um die Revolution zu
sichern. Es gab enge Beziehungen zu Kuba und zur UdSSR, aber auch zu Kanada und
verschiedenen westeuropäischen Staaten.
Für fast alle in Grenada völlig überraschend, wurde am 14. Oktober 1983 gemeldet, Maurice Bishop
sei unter Hausarrest gestellt worden. Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, hatte sich in dem
NJM, das nicht mehr als hundert Mitglieder zählte, eine Opposition gegen den Premierminister
formiert. Die forderte einen beschleunigten Übergang Grenadas zum Sozialismus und eine
verstärkte Kontrolle der Wirtschaft durch die Arbeiterklasse. Unter »Arbeiterklasse« verstand sie sich
offensichtlich selbst, denn auf der Insel ohne Industrie, mit überwiegend kleinbäuerlicher
Landwirtschaft gab es kein nennenswertes Proletariat und erst recht keines, das Bishop absetzen
wollte. Die kleine, vorwiegend im Dienstleistungsbereich (Hafen, Handel, Gesundheitswesen,
Lehrer) verankerte Gewerkschaftsbewegung stand hinter der Regierung. Weil sie sich der
Popularität Bishops bewusst waren, verlangten seine Kritiker eine »kollektive Führung« der
Revolution: Ihr Sprecher, Planungsminister Bernhard Coard, sollte die Politik bestimmen und Bishop
diese der Bevölkerung vermitteln. Der Premierminister wollte die Entscheidung darüber den
Organen der People's Participation überlassen. Da seine Gegner dort zweifellos unterlegen wären,
versuchten sie ihn auszuschalten.
Nach Bishops Arretierung kam es überall auf der Insel zu Demonstrationen für Bishop, die meisten
Minister traten aus Solidarität mit ihm zurück. Am 19. Oktober machten sich Menschen aus allen
Teilen Grenadas mit Lkw, Kleinbussen oder zu Fuß auf den Weg in die Hauptstadt St. George's.
Gegen Mittag befreiten sie Maurice Bishop und seine Lebensgefährtin Jacqueline Creft aus dem
Hausarrest. In den Straßen feierten mehr als zehntausend Leute die Rückkehr ihres Idols. Kurz vor
13 Uhr hörten wir einen lauten Knall und kurz danach Maschinengewehrfeuer. Augenzeugen
berichteten, plötzlich seien ein Militärjeep und zwei Panzerwagen in hoher Geschwindigkeit in das
Fort gefahren, wo sich Bishop mit seinen Vertrauten beriet. Einer der Panzerwagen habe einen Pkw
in Brand geschossen, danach habe jemand aus dem Jeep mit einem Maschinengewehr das Feuer
auf die Menge eröffnet.
Die Abwicklung der Revolution
Die Demonstranten flüchteten panikartig, einige kamen zu Tode, als sie vom Seitenwall des Forts in
die Tiefe sprangen. Abends meldete der Regierungssender, ein Militärrat habe die Macht
übernommen. In dem Kommuniqué hieß es, bei der Schießerei seien 17 Menschen ums Leben
gekommen, darunter Maurice Bishop, die Regierungsmitglieder Jacqueline Creft, Unison Whiteman,
Morris Bain und die Gewerkschaftsführer Vincent Noel und Fitzroy Bain. Den Augenzeugenberichten
zufolge ist auszuschließen, dass Bishop und die drei Minister bei der Schießerei getötet wurden, da
sie zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Innenhof des Forts waren – sie müssen später ermordet
worden sein.
Am Tag nach dem Putsch berichteten karibische Radiosender, US-Schiffe hätten Kurs auf Grenada
genommen. Als Begründung gab die Regierung Reagan an, die Sicherheit der US-Staatsbürger auf
Grenada sei nicht mehr gewährleistet. Allerdings hatte der Militärrat allen US-Bürgern und sonstigen
Ausländern angeboten, das Land zu verlassen. Weil damit der Interventionsvorwand entfallen wäre,
unternahmen die USA alles, um die 600 US-amerikanischen Medizinstudenten (es gab auf Grenada
eine private medizinische US-Hochschule) und andere US-Bürger auf Grenada zu halten.
Am Sonntag, dem 23. Oktober, meldeten die Radiostationen der Region, die in der Organisation
ostkaribischer Staaten (OECS) zusammengeschlossenen Kleinstaaten St. Lucia, St. Vincent, St.
Kitts-Nevis, Dominica, Antigua und Montserrat hätten zusammen mit Barbados und Jamaika eine
militärische Invasion Grenadas beschlossen und die USA um Unterstützung gebeten. Natürlich war
es umgekehrt.
Am Morgen des 25. Oktober, gegen 4.15 Uhr, begann der Krieg. In den folgenden Stunden und
Tagen bombardierten US-Flugzeuge, Hubschraubern und Kriegsschiffe die grenadinischen
Stellungen. Am dritten Tag begannen Bodentruppen die Dörfer und Wälder nach Angehörigen der
Armee Grenadas zu durchkämmen. Als die US-Marines die Insel unter Kontrolle hatten, wurden die
»verbündeten Truppen« der anderen Karibikstaaten eingeflogen.
Die Besatzungstruppen setzten eine Übergangsregierung ein, die sich in den folgenden Monaten
darauf konzentrierte, die Projekte der Revolution zu zerstören. Die Verwaltung wurde von
Revolutionären gesäubert, die öffentlichen Betriebe wurden geschlossen, Kooperativen und soziale
Projekte erhielten kein Geld mehr. Dagegen blieb der von vielen Grenadinern erwartete Dollarsegen
aus. Die US-Entwicklungshilfe floss spärlich, in der eigens errichteten »Freien Produktionszone«
wollten trotz zugesagter Steuer- und Gewerkschaftsfreiheit kaum US-Unternehmen investieren, war
doch das Lohnniveau in Ländern wie Honduras und Haiti deutlich niedriger.
Natürlich gab es im folgenden Jahr »freie Wahlen«, die die konservative Grenada National Party mit
massiver Unterstützung der Besatzungsmacht gewann. Seither wechseln sich in Grenada liberale
und konservative Regierungen ab, die Wirtschaft dümpelt dahin, die meisten jüngeren Grenadiner
sind arbeitslos. Während es in den Jahren 1979 bis 1983 eine ungeheure Aufbruchstimmung gab
und viele Jugendliche eine Zukunft auf ihrer Insel sahen, haben sie heute meist nur ein Ziel: in
Richtung USA, Kanada oder Großbritannien abzuhauen. Die prominentesten Revolutionäre wurden
beim Putsch getötet, die Überlebenden verließen nach der Invasion die Insel, weil sie keine Chance
mehr hatten, irgendeinen Job zu bekommen.
Der Versuch des Aufbaus einer neuen linken Partei in der Tradition der Revolution (Maurice Bishop
Patriotic Movement) hatte keine ausreichende Basis und wurde schließlich aufgegeben. Der einst
von der Reagan-Regierung so bekämpfte Flughafen ist heute das, wofür er immer gedacht war, ein
Eingangstor für Touristen. Anlässlich des 34. Jahrestages der Unabhängigkeit schlug die liberale
Oppositionspartei National Democratic Congress (NDC) Anfang dieses Jahres vor, ihn in »Maurice
Bishop International Airport« umzubenennen. Er sei das wichtigste ökonomische Projekt seiner
Amtszeit gewesen und es sei daher angemessen, Maurice Bishop mit dieser Namensgebung zu
würdigen.
Die von der konservativen New National Party gestellte Regierung erteilte dem Vorschlag umgehend
eine Absage. Sie erklärte stattdessen am Unabhängigkeitstag Eric Gairy, den ehemaligen Diktator,
zum ersten Nationalhelden Grenadas, weil er das Land in die Selbstständigkeit geführt habe.
Wenn der liberale NDC sich im Wahljahr 2008 etwas davon verspricht, den Sozialisten Maurice
Bishop öffentlich zu würdigen, bedeutet das immerhin, dass der Führer der Revolution bei vielen
Menschen in Grenada in guter Erinnerung ist.
Gert Eisenbürger ist Redakteur der Lateinamerikazeitschrift ila. Von Anfang Juli bis Ende Oktober
1983 war er in Grenada.
* Aus: Neues Deutschland, 25. Oktober 2008
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