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Georgien: Saakaschwili demokratisch gescheitert

Die Parlamentswahlen in Georgien kommentiert Fjodor Lukjanow, RIA Novosti *

Regierungswechsel in Georgien. Kaum jemand hatte einen so klaren Sieg des Oppositionsbündnisses „Georgischer Traum“ bei der Parlamentswahl erwartet. Auch Präsident Michail Saakaschwili hat seine Niederlage überraschend schnell anerkannt.

Damit geht ein interessantes Experiment zu Ende. Saakaschwili hatte versucht, die Mentalität der Georgier radikal zu ändern, indem er sie zum Fortschritt zwang.

Nun muss Georgien unter Beweis stellen, dass es in der Lage ist, sich als pluralistischer und demokratischer Staat weiterzuentwickeln. Beispiele aus den 1990er-Jahren haben gezeigt, dass viele postsowjetische Republiken daran scheiterten.

Im Grunde war dieses Wahlergebnis in Georgien zu erwarten. Das Saakaschwili-Team lenkt bereits seit neun Jahren die Geschicke des Landes. Die Kaukasusrepublik wurde radikal umgekrempelt. Die Reformer nahmen soziale und humanitäre Kollateralschäden bei der Verwandlung Georgiens in ein Zukunftsland in Kauf. Viele Georgier würden zwar auf der Strecke bleiben oder viele Abstriche machen müssen, dennoch würden sie in einem Traumstaat leben, dachten Saakaschwili & Co.

Obwohl sich das Leben in Georgien dank den Wandlungen in mancher Hinsicht verbessert hat, sind die Reformer nicht besonders beliebt. Die unpopulären Reformen hätten ohne den Brachialkurs der Regierung nie vollzogen werden können.

Außerdem hatte Saakaschwili im Sommer 2008 den Fünftagekrieg gegen Russland angezettelt und damit die Autonomien Abchasien und Südossetien verloren. Obwohl er Russland zum Aggressor erklärte, musste er letztendlich selbst Rede und Antwort stehen.

Hinzu kommt, dass die Wirtschaftslage in Georgien nach wie vor miserabel ist. Auch dafür werden die Reformer verantwortlich gemacht. Ob berechtigt oder nicht, sei dahingestellt.

Saakaschwilis Herausforderer Bidsina Iwanischwili gelang es, die unzufriedenen Georgier aufzufangen. Die Versuche des Regimes, dem Milliardär Steine in den Weg zu legen, machten ihn noch populärer. Dank seines Images als erfolgreicher Unternehmer aus dem Volk, der sein Geld aber in Russland verdient hat, hat er viele Wähler davon überzeugt, für ihn zu stimmen.

Nun stehen ihm aber schwere Zeiten bevor, denn Saakaschwili als das gemeinsame Feindbild der Opposition ist verschwunden. Deshalb wird sich das Wahlbündnis Georgischer Traum im neuen Parlament wohl in mehrere Fraktionen spalten. Nicht auszuschließen ist auch, dass Saakaschwilis Partei, die Vereinte Nationale Bewegung, in kleinere Teile zerfällt. Egal wie, das neue Parlament wird noch unberechenbarer sein als das bisherige. Ab Januar 2013 wählt das Parlament den Ministerpräsidenten, der die meisten der Vollmachten bekommt, die bisher der Präsident hatte. Deshalb sind neue Erschütterungen in Georgien nicht auszuschließen.

Die Georgier haben ein trauriges Beispiel vor den Augen: Als in der Ukraine Ende 2004 bzw. 2005 die „Orangenen“ an die Macht kamen, waren ihre Anführer Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko politisch dermaßen verantwortungslos, dass sie nicht nur ihrem Gegner Viktor Janukowitsch fünf Jahre später zum Comeback verhalfen, sondern auch den Ukrainern den Glauben an die Demokratie raubten. Es besteht das Risiko, dass auch die georgische Opposition diesen Weg gehen wird.

Georgischer Traum redete im Wahlkampf alles schlecht, was in Verbindung mit Saakaschwili steht. Trotz der Ankündigung eines Kurswechsels ist bis dato unklar, was Iwanischwili & Co. unternehmen wollen. Der Abbau des seit neun Jahren existierenden Polizeistaates verspricht mehr Freiheit und Pluralismus. Doch nicht alles war schlecht. Saakaschwili hinterlässt einen intakten Staatsapparat, den es in Georgien selbst in Sowjetzeiten nicht gegeben hatte. Ob Saakaschwilis Hinterlassenschaften erhalten bleiben, hängt davon ab, wie die Abkehr vom autokratischen System verläuft.

Saakaschwili hatte im Wahlkampf behauptet, Iwanischwili wäre eine Marionette Moskaus, konnte das jedoch nie beweisen. Zumal Moskau sich in Zurückhaltung in Bezug auf Georgien übte. Iwanischwili verspricht, die Beziehungen zu Russland zu verbessern. Dies wird ihm wohl eher gelingen als jemandem aus Saakaschwilis Mannschaft. Aber die Georgier, die Iwanischwili in der Hoffnung auf ein besseres Verhältnis zu Russland gewählt haben, könnten am Ende enttäuscht werden.

Die größte Streitfrage in den russisch-georgischen Beziehungen, nämlich der Status Abchasiens und Südossetiens, ist unlösbar. Es ist unvorstellbar, dass ein georgisches Staatsoberhaupt die Unabhängigkeit der beiden Republiken anerkennen würde, ohne von den eigenen Nationalisten in die Wüste geschickt zu werden. Auch Russland kann keine Zugeständnisse machen, ohne sein Gesicht und zugleich den Respekt anderer Länder zu verlieren. Deshalb ist eine Annäherung erst dann möglich, wenn beide Länder zumindest inoffiziell den Status Quo anerkennen und dieses heikle Thema beiseite lassen.

Ansonsten sind Fortschritte möglich, wenn Georgien dazu bereit ist. Russland wird sicherlich keinen Vorstoß machen, weil es kein großes Interesse an Georgien nach der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens hat. Georgiens neue Führung könnte die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen erreichen. In diesem Fall wäre eine Erleichterung der Visapflicht möglich. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass Russland seinen Markt für georgische Weine und Mineralwasser endlich wieder öffnet.

Das alles sind mögliche Annäherungsschritte. Aber sie sind nur dann erfolgreich, wenn Tiflis energisch um Moskaus Gunst buhlt. Positiv auswirken würde sich Georgiens Verzicht auf den angestrebten Nato-Beitritt. Dazu wird es wahrscheinlich jedoch nicht kommen, denn im Unterschied zu den Ukrainern befürworten die meisten Georgier diese Idee.

Georgien muss sich auf schwere Zeiten einstellen, aber das macht die Ereignisse der letzten Tage nicht unbedeutender. Im postsowjetischen Raum gibt es nur wenige Länder, in denen der Machtwechsel bei demokratischen Wahlen friedlich erfolgte. Dies war nur mehrere Male in Moldawien, 1994 und 2010 in der Ukraine sowie 2011 in Kirgistan der Fall. Sollte sich Georgien als viertes Land dazugesellen, dann kann das als Erfolg Saakaschwilis verbucht werden. Man sollte jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Bis zum Jahresende hat er noch alle Befugnisse des ersten Mannes im Staat. Ab dem 1. Januar hat der Regierungschef das Sagen. Saakaschwili hätte also noch genügend Zeit, die Willensäußerung des georgischen Wahlvolkes zu korrigieren.

* Zum Verfasser: Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs".

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Rusische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 4. Oktober 2012; http://de.ria.ru


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