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Offenes Rennen in Tbilissi

In Georgien wird heute ein neues Parlament gewählt

Von Olaf Standke *

Der Ausgang der Parlamentswahlen in ist nach dem Skandal um Folter in Gefängnissen ungewiss. Am Samstag endete der Wahlkampf mit Großkundgebungen in Batumi und Tbilissi.

Die ersten Stimmen für die heutige Parlamentswahl wurden schon in der Vorwoche abgegeben, von georgischen Soldaten im afghanischen Kriegseinsatz. Andere Staatsbürger im Ausland klagten, dass ihnen eine Registrierung von Botschaften ihres Landes verwehrt werde. Immerhin soll ein Drittel der Georgier außer Landes leben. Prompt kursiert das Gerücht, dass alle nicht abgegebenen Stimmen der Vereinten Nationalen Bewegung (VNB) zugerechnet werden, um so die Herrschaft von Präsident Michail Saakaschwili und seiner Partei zu sichern. Für das höchste Staatsamt darf er nach zwei Legislaturperioden nicht mehr kandidieren, könnte aber als Regierungschef weitere fünf Jahre an den Hebeln der Macht sitzen. Dank einer von ihm initiierten Verfassungsänderung hätte er dabei sogar mehr Kompetenzen als der künftige Präsident.

Bisher stellt die VNB 119 der 150 Abgeordneten. Lange galt ihr erneuter Sieg als ausgemacht. Doch nun »scheint nichts mehr sicher in Georgien«, wie die russische Regierungszeitung »Rossijskaja Gaseta« am Wochenende schrieb. Angesichts des schwelenden Konflikts mit Tbilissi um Südossetien und Abchasien beobachtet man in Moskau die Entwicklung mit besonderer Aufmerksamkeit. Saakaschwili fährt auf einen prowestlichen Kurs, was sich mit rund sechs Milliarden Dollar aus Europa und den USA bezahlt gemacht hat. Vor allem eine künftige Mitgliedschaft in der NATO werde »jedem Bürger konkrete Vorteile bringen«, behauptet der neue Staatsminister für Integration in den europäischen und euroatlantischen Strukturen, Tornike Gordadse. »Aber da sind die Bürger anderer Meinung«, sagt Gulbaat Rzhiladse, Chef des Eurasien-Instituts in Tbilissi, mit Verweis auf repräsentative Umfragen. Und im Westen selbst sorgt die autoritäre Politik Saakaschwilis zunehmend für Unbehagen.

Riccardo Migliori, Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, zeigte sich jetzt tief besorgt über die Inhaftierung zahlreicher Oppositionsaktivisten. Damit entferne die Regierung auch politische Gegner aus dem Wahlprozess, wie der Nachrichtendienst Civil Georgia schrieb. Schon zuvor hatte Migliori mit scharfen Worten auf einen Folterskandal in georgischen Gefängnissen reagiert. Wie die Täter müssten auch die »hochrangigen Verantwortlichen, die das zuließen«, vor Gericht gestellt werden. Zehntausende gingen deshalb in den letzten Wochen in Georgien auf die Straße, und der Patriarch ließ die Kirchenglocken läuten. In Anlehnung an die »Rosenrevolution«, die 2003/2004 Saakaschwili an die Macht brachte, ist inzwischen angesichts der Vergewaltigungspraxis im Strafvollzug von einer »Besenrevolution« die Rede.

Öffentlich wurde das Foltervideo durch den privaten Fernsehsender »TV9«, der Bidsina Iwanischwili gehört, einem einstigen Weggefährten Saakaschwilis. Der 56- Jährige hat im Vorjahr eine neue Partei gegründet, die er nach der Musikgruppe seines Sohnes »Georgischer Traum« nannte. Im April gab er die Bildung einer Oppositionskoalition mit sechs Parteien bekannt. Ironischerweise könnte der reichste Mann Georgiens – das US-Magazin »Forbes« spricht von einem Vermögen von 6,4 Milliarden Dollar – beim Urnengang von der wachsenden Armut im Lande profitieren. Zwar verweist die Regierung auf durchschnittlich sechs Prozent Wirtschaftswachstum seit 2004, doch Wohlstand findet sich fast nur in der Hauptstadtregion. Andernorts ist die Unzufriedenheit so hoch wie die Arbeitslosigkeit, die offiziell bei 15 Prozent liegt.

Das ist für viele wohl wichtiger als der Vorwurf Saakaschwilis, der Oligarch, einst russischer Staatsbürger, sei ein Agent Putins. Zumal sich laut Umfragen 88 Prozent der Georgier bessere Beziehungen zu Russland wünschen. Vor allem viele der verarmten Landbewohner erhoffen sich von Iwanischwili ein besseres Leben, verspricht er doch im falle seines Sieges u.a. eine kostenlose Krankenversicherung für alle einzuführen und die Renten zu erhöhen. Der Parlamentseinzug seiner Partei scheint sicher. Ob es auch zum Machtwechsel reicht, ist jedoch offen. Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission wurden insgesamt 29 Parteien und Kandidaten für das Votum registriert. Letzte Umfragen sehen die Regierungspartei bei 36 Prozent, den »Georgischen Traum« bei 22 Prozent. Allerdings zeigten sich 40 Prozent der Wähler noch unentschlossen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 1. Oktober 2012


"Schicksalswahl" in Georgien

Großdemonstration der Opposition in Tbilissi. Prognosen sehen Regierung vorn

Von Knut Mellenthin **


Georgien, ein im Kaukasus gelegener Nachfolgestaat der Sowjetunion, wählt am heutigen Montag ein neues Parlament. Die Opposition beendete ihren Wahlkampf am Sonnabend in der Hauptstadt Tbilissi mit der größten Demonstration, die das 4,5 Millionen Einwohner zählende Land jemals erlebt hat. Nach einem Sternmarsch aus vier Richtungen trafen sich ungefähr 200000 Menschen auf dem Freiheitsplatz und in den umliegenden Straßen. Tbilissi hat rund 1,16 Millionen Einwohner. Zur selben Zeit zog eine Oppositionskundgebung in Kutaisi, mit 200000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Georgiens, Zehntausende Teilnehmer an – die Opposition selbst sprach von 100000.

Die Auseinandersetzungen zwischen der seit Jahren alleinregierenden Nationalbewegung von Präsident Michail Saakaschwili und dem vom Milliardär Bidzina Iwanischwili geführten Oppositionsbündnis Georgischer Traum wurden mit äußerster verbaler Härte ausgetragen. Beide Lager stilisierten die Wahl zu einer hochdramatischen Entscheidung über das Schicksal des Landes.

Saakaschwili und die ihm auch persönlich eng verbundenen Politiker der Regierungspartei zogen die Register, die sie auch bisher schon immer wieder erfolgreich zur Dämonisierung jeder Opposition eingesetzt hatten: Mindestens zwei Milliarden Dollar seien aus Rußland in den Wahlkampf des Georgischen Traums geflossen, behauptete Saakaschwili wiederholt bei seinen Auftritten in den letzten Wochen. »Das ist russisches Geld, dasselbe russische Geld, das uns aus Abchasien vertrieben hat.« Rußland wolle Georgien »von der Landkarte tilgen« und bediene sich dazu verräterischer und krimineller Elemente, die »Putinsche Verhältnisse« und »organisiertes Verbrechen« nach Georgien bringen wollten. Das Land stehe vor der Entscheidung »zwischen Vergangenheit und Zukunft«. »Wollen wir frei sein von Kriminellen, Dieben und Gewalt – oder sind wir bereit, uns in Ketten legen zu lassen?«, rief der Präsident am Freitag seinen Anhängern auf einer Kundgebung in Tbilissi zu.

Dagegen ist sich die Opposition weitgehend einig, daß mit Saakaschwili und seinen Freunden eine Clique von Halunken das Land autoritär regiert und sich dabei im großen Stil persönlich bereichert. Wie die Mehrheit der Georgier will die Opposition schon aus wirtschaftlichen Gründen eine Normalisierung der Beziehungen zu Rußland. Und wie viele Georgier macht die Opposition Saakaschwili für die abenteuerliche Entfesselung des Kriegs mit Rußland im August 2008 verantwortlich. »Die Stunden von Saakaschwilis Regime sind gezählt«, gab sich Iwanischwili am Sonnabend auf der Kundgebung in Tbilissi absolut zuversichtlich. »Saakaschwilis System wird zusammenbrechen«, daran zweifle niemand.

Indessen sehen die meisten Prognosen die Nationalbewegung immer noch mit einem zwar kontinuierlich abschmelzenden, aber zum Machterhalt ausreichenden Vorsprung. Zu vergeben sind 150 Mandate. Im derzeitigen Parlament hat die Regierungspartei mit 119 Abgeordneten eine solide Mehrheit.

Der Staatsapparat hat in den letzten Tagen des Wahlkampf 20 bis 30 Kandidaten und Aktivisten des Georgischen Traums wegen angeblicher Vergehen wie Raufereien bei Wahlveranstaltungen, Beleidigung von Polizisten oder Verstößen gegen die Verkehrsregeln im Schnellverfahren zu Strafen zwischen 10 und 40 Tagen Haft verurteilen lassen. Mit einer Flut fragwürdiger Videos und Tonaufnahmen, die in der vergangenen Woche vom Innenministerium verbreitet wurden, wird Oppositionspolitikern Bestechung und Einschüchterung von Beamten vorgeworfen. Das könnte ein Vorgeschmack auf den Umgang mit der Opposition nach dem Wahltag gewesen sein.

** Aus: junge Welt, Montag, 01. Oktober 2012


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