Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Skandal vor Wahl

Georgien: Verhaftungen von Beamten und Ministerrücktritte nach Veröffentlichung von Mißhandlungsvideos

Von Knut Mellenthin *

Kurz vor den Parlamentswahlen am 1. Oktober muß sich die Regierung der Kaukasusrepublik Georgien mit schweren Vorwürfen wegen der Zustände in den Haftanstalten auseinandersetzen. Der Skandal war Anfang der Woche durch Videoaufnahmen öffentlich geworden, die von mehreren privaten Sendern ausgestrahlt wurden. Sie zeigten schwere Mißhandlungen von jugendlichen Gefangenen durch Mitglieder des Wachpersonals, unter anderem durch Schläge und durch Vergewaltigung mit einem Besenstiel oder Schlagstock. Nach dem Bekanntwerden der Bilder kam es in der Hauptstadt Tbilissi und mehreren anderen Städten zu Demonstrationen, an denen mehrere Tausend Menschen, hauptsächlich Schüler und Studenten, teilnahmen. Die Oppositionsparteien hielten sich zunächst zurück und warnten sogar vor nicht genehmigten Kundgebungen. Offenbar befürchten sie, daß Präsident Michail Saakaschwili mögliche »Unruhen« kurz vor dem Wahltermin als Legitimation für repressive Maßnahmen nutzen könnte. Saakaschwilis Partei, die Vereinigte Nationalbewegung, regiert das Land seit November 2003 im Alleingang.

Inzwischen sind im Zusammenhang mit den Mißhandlungen elf einfache und höhere Beamte des Strafvollzugs verhaftet worden. Das erste politische Opfer des Skandals war die für die Gefängnisse verantwortliche Ministerin Khatuna Kalmakhelidze, die am Mittwoch zurücktrat. Die 33jährige hatte das sogenannte Ministerium für Besserung und Rechtsbeistand seit Dezember 2009 geführt. Zu ihrem Nachfolger ernannte Saakaschwili in einem geschickten Schachzug Giorgi Tuguschi, der seit 2009 Ombudsmann für Menschenrechte gewesen war und immer wieder vergeblich auf die Mißstände in den Haftanstalten hingewiesen hatte. Die Nationalbewegung hatte mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament alle Forderungen der Opposition nach einer Untersuchung der Vorwürfe abgeschmettert.

Am Donnerstag abend erklärte auch der von den Demonstranten heftig angegriffene Innenminister Bacho Akhalaia seinen Rücktritt. Er war zwar erst seit Juli im Amt, hatte zuvor aber in den Jahren 2005 bis 2008 das Haftsystem geleitet und war angeblich für dieses gegenüber der Regierung immer noch »informell« verantwortlich. Akhalaia, der bis zum Juli Verteidigungsminister gewesen war, gilt als enger Vertrauter des Präsidenten.

Bei den Protesten wurde außerdem die Entlassung von Justizminister Zurab Adeischwili und Generalstaatsanwalt Murtaz Zodelawa gefordert, die beide noch im Amt sind. Kaum kritisiert wurde jedoch bisher Regierungschef Wano Merabischwili, der vom Dezember 2004 bis zum 4. Juli 2012 Innenminister gewesen war. Er ist der wichtigste Kampfgefährte Saakaschwilis schon seit Ende der 1990er Jahre. Im Jahr 2006 stand Merabischwili im Zentrum eines Verbrechens, weil er verdächtigt wurde, aus Gründen persönlicher Rache die Ermordung des Bankangestellten Sandro Girgwliani veranlaßt zu haben. Der Prozeß endete mit der Verurteilung von vier untergeordneten Beamten des Innenministeriums.

In einer für seinen Politikstil typischen Vorwärtsverteidigung versucht Saakaschwili jetzt, den Gefängnisskandal zur Waffe gegen die Opposition zu machen. Die Videos seien »im Auftrag einer dritten Partei« für »viel Geld« produziert worden. Die in den Aufnahmen zu sehenden Beamten seien für diesen Zweck »gekauft« worden. Als Verbindungsmann für den Handel habe der Gefangene Tamaz Tamazaschwili fungiert. Der ehemalige regionale Polizeichef war unter möglicherweise konstruierten Vorwürfen wie illegaler Waffenbesitz im November 2011 verhaftet worden. Sein Schwiegersohn Irakli Garibaschwili ist ein führender Mitarbeiter und Berater des Milliardärs Bidzina Iwanischwili, der zugleich Chef und Hauptsponsor des Oppositionsbündnisses »Georgischer Traum« ist.

Umfragen vom August prognostizierten einen deutlichen Vorsprung der Regierungspartei mit bis zu 46 Prozent vor dem Oppositionsbündnis, das von 24 bis 33 Prozent der Befragten unterstützt wurde.

* Aus: junge Welt, Samstag, 22. September 2012


Zurück zur Georgien-Seite

Zurück zur Homepage