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Streit nach Stichwahl

Präsidentenwahl in Südossetien annulliert. Gewaltsame Auseinandersetzungen drohen

Von Knut Mellenthin *

In Südossetien ist am Dienstag (29. Nov.) die Stichwahl zum Präsidentenamt vom vergangenen Sonntag (27. Nov.) annulliert worden. Während die Anhänger der mutmaßlichen Siegerin in der Hauptstadt Tschinwali bereits gefeiert hatten, fochten ihre Gegner die Abstimmung an. Der Oberste Gerichtshof der kleinen Republik, die 2008 ihre Unabhängigkeit von Georgien erlangte, aber bislang nur von Rußland, Nicaragua, Venezuela und drei Südseestaaten anerkannt wurde, gab dem Antrag am Dienstag statt. Die Wahl wurde für null und nichtig erklärt und soll nun wiederholt werden.

Die Stichwahl war erforderlich geworden, weil im ersten Wahlgang am 13. November keiner der elf Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht hatte. Der bisherige Präsident Eduard Kokoity durfte nach zwei Amtsperioden nicht noch einmal antreten. Er hatte seine Unterstützung für Notstandsminister Anatoli Bibilow signalisiert, der zudem auch als Favorit der russischen Regierung galt. Mit 25,44 Prozent führte Bibilow das Feld an, dicht gefolgt von der Lehrerin Alla Dschiojewa, auf die 25,37 Prozent der Stimmen entfielen. Dschiojewa hatte der Regierung von 2002 bis 2008 als Erziehungsministerin angehört und war entlassen worden, als sie Korrup­tionsvorwürfe gegen leitende Beamte erhob.

Nach diesem Ergebnis gab es am vergangenen Sonntag (27. Nov.) eine Stichwahl zwischen Bibilow und Dschiojewa. Am Montag gab die Zentrale Wahlkommission bekannt, daß die Oppositionskandidatin nach Auszählung von 74 der 85 Wahlbezirke mit 56,74 Prozent deutlich vor ihrem Gegner lag, für den 40 Prozent der Wähler gestimmt hatten. Bibilow rief daraufhin den Obersten Gerichtshof an. Er wirft seiner Gegnerin Bestechung und Einschüchterung von Wählern sowie Verstoß gegen das Wahlgesetz vor. Angeblich hatten einige Wahlkämpfer noch am Sonntag Werbung für Dschiojewa betrieben, obwohl das verboten ist.

Aufgrund dieses Antrags verbot der Gerichtshof der Wahlkommission am Montag (28. Nov.), weitere Ergebnisse zu veröffentlichen. Noch während das Gericht am Dienstag tagte, feierten Hunderte Anhänger Dschiojewas auf dem zentralen Platz von Tschinwali ihren Sieg und forderten vor dem Büro der Wahlkommission die Bekanntgabe des Endergebnisses. Nach dem Maßstab der kleinen Republik handelte es sich um eine ungewöhnlich große Menschenmenge. Kenner der Verhältnisse schätzen, daß in Südossetien nur noch zwischen 20000 und 30000 Menschen leben. Zehntausende sind wegen der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage Südossetiens nach Rußland, hauptsächlich nach Nordossetien, ausgewandert. In Tschinwali sind viele Häuser, die während der georgischen Aggres­sion im August 2008 zerstört wurden, noch nicht wieder aufgebaut worden. Ein erheblicher Teil der russischen Hilfsgelder in Millionenhöhe ist in privaten Taschen südossetischer Regierungs- und Verwaltungsbeamter gelandet.

Die Kommunistische Partei Südossetiens hat in einer am Dienstag (29. Nov.) veröffentlichten Erklärung ihre »Besorgnis angesichts der nach den Wahlen entstandenen Lage« ausgedrückt und alle politischen Kräfte aufgerufen, »ausschließlich verfassungsmäßige und gesetzliche Mittel zur Problemlösung« anzuwenden. Es bestehe die »ernsthafte Gefahr«, daß »die Lage im Land außer Kontrolle gerät«. An die derzeitige Führung der Republik richtete die KP den dringenden Appell, »von verfassungsfeindlichen Versuchen des Machterhalts Abstand zu nehmen«. Genau diese Gefahr scheint zu drohen: Der Oberste Gerichtshof hat verfügt, daß Alla Dschiojewa zur Neuwahl, die in zwei Monaten stattfinden soll, nicht wieder antreten darf.

* Aus: junge Welt, 30. November 2011


Betrogen

Alla Dschiojewa glaubte die Präsidentenwahl in Südossetien gewonnen zu haben **

»Russland, warum magst du mich nicht? Ich bin Russin dem Pass nach und im Geiste.« Warum also, fragt Alla Dschiojewa, will Moskau sie nicht als Präsidentin Südossetiens sehen? Offenbar sei man dort falsch informiert worden – von Eduard Kokoity und seiner »verbrecherischen Clique«.

Kokoity ist derzeit noch Präsident der kleinen Republik Südossetien, die für die Mehrzahl der Staaten ein Teil Georgiens ist, dies aber partout nicht sein will und nach dem Kaukasuskrieg 2008 von Russland, Nicaragua, Venezuela und Nauru als souverän anerkannt wurde. Als Nachfolger Kokoitys, der den Präsidentensessel nach zehn Jahren räumen muss, haben die herrschenden Klans Zivilschutzminister Anatoli Bibilow ausersehen. Doch der bekam schon in der ersten Wahlrunde einen Dämpfer: Alla Dschiojewa, die 62-jährige frühere Lehrerin, Schuldirektorin und ab 2002 Bildungsministerin Südossetiens, lieferte ihm ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Nachdem sie 2008 als Ministerin wegen »Amtsmissbrauchs und illegaler Unternehmertätigkeit « entlassen und danach zu zwei Jahren und zwei Monaten bedingter Haft verurteilt worden war, hatte Dschiojewa im Wahlkampf den Missbrauch russischer Hilfsgelder durch Kokoity und dessen Mannschaft angeprangert: Kein Wunder, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg 2008 nicht vorankomme.

Offenbar sind viele Südosseten ihrer Meinung. Denn obwohl Dmitri Medwedjew durch ein Treffen mit Bibilow im nordossetischen Wladikawkas klar gemacht hatte, wen Moskau favorisiert, gewann Dschiojewa die Stichwahl am vergangenen Sonntag mit gut 56 Prozent der Stimmen.

Bibilows Partei aber beklagte Wahlrechtsverstöße, und das Oberste Gericht urteilte kurzerhand, die Wahl sei ungültig und werde im März 2012 wiederholt – ohne Dschiojewa! Die couragierte Frau indes verteidigt ihren Sieg: Den Richterspruch habe Kokoity – die »Verkörperung der Gesetzlosigkeit in Südossetien« – erzwungen.

Unterstützt von Tausenden Demonstranten, erklärte sie sich selbst zur Präsidentin und rief Moskau auf, dem Willen der Mehrheit Geltung zu verschaffen. Die Lage in Zchinwali ist gespannt, beide Seiten warnen vor neuem Blutvergießen!

Detlef D. Pries

** Aus: neues deutschland, 1. Dezember 2011


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