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Kleiner Staat ganz groß

Georgiens Überfall auf Südossetien: Globale Folgen einer bestellten Kriegsprovokation

Von Knut Mellenthin *

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt: »Wenn wir nicht aufpassen, gerät die gesamte Sicherheitsarchitektur in Europa ins Wanken - mit unabsehbaren Folgen für uns alle.«[1] - Und das alles bloß, weil Georgiens Präsident Michail Saakaschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. August seine Streitkräfte in Marsch setzte, um eine Minirepublik mit vielleicht 70000 Einwohnern zu zermalmen. Entgegen dem Rat aller westlichen Regierungen, versteht sich, die Saakaschwili stets eingeschärft hatten, Georgien dürfe seine nationalen Probleme nicht gewaltsam zu lösen versuchen.

Der Präsident hat auf die unermüdlichen Berater nicht gehört und damit die schwerste Krise der Ost-West-Beziehungen seit dem Zusammenbruch des »sozialistischen Lagers« vor bald 20 Jahren herbeigeführt. Aber ist ihm deshalb irgendein maßgeblicher US-amerikanischer oder europäischer Politiker etwa böse? Im Gegenteil: Noch nie standen sie so geschlossen und solidarisch hinter dem tapferen kleinen Georgien. »Wir werden die Unterstützung für seinen Wunsch, sich der NATO anzuschließen, verstärken«, verspricht der britische Außenminister David Miliband.[2] Die USA haben ein großes Team von Militärs nach Georgien geschickt, um zu ermitteln, welchen Bedarf an neuen Waffen die dortigen Streitkräfte nach dem Krieg haben. Zwei einflußreiche US-Senatoren, der Unabhängige Joe Liberman und der Republikaner Lindsey Graham, machen sich öffentlich dafür stark, Georgien schleunigst mit Luftabwehrsystemen und Waffen zur Panzerbekämpfung auszurüsten, »die notwendig sind, um eine erneute russische Aggression abzuwehren«.[3] Und Saakaschwili freut sich wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum: »Georgien braucht viel mehr Ressourcen, viel mehr Beistand. Wir werden zehnmal, hundertmal stärker als Ergebnis dieser Besetzung.«[4]

Nie zuvor in der Geschichte wurde ein Aggressor, zumal ein militärisch erfolgloser, international so maßlos hofiert und verhätschelt. Wie jemand, der seinen Auftraggebern aus dem Ruder gelaufen ist und ihnen damit eine politische Katastrophe eingebrockt hat, die sie überhaupt nicht gewollt haben, wirkt der georgische Präsident nicht gerade. Damit signalisiert der Westen seinen russischen »Partnern« zwar nicht explizit, aber dennoch unmißverständlich, daß er die Zäsur gewollt hat, die durch den georgischen Überfall auf Südossetien herbeigeführt wurde. Es bleibt Leuten wie Steinmeier überlassen, jetzt dennoch überrascht und bestürzt zu tun.

Der Spiegel hat in seiner jüngsten Ausgabe [5] die Vorgeschichte des Überfalls untersucht und dabei angeblich auch Informationen westlicher Geheimdienste einbezogen, etwa zum georgischen Truppenaufmarsch. Die Autoren kommen zur Schlußfolgerung, der »Kriegsausbruch« sei »beinahe so zwangsläufig wie ein Blitzschlag nach (sic!) dem Donnergrollen« gekommen. »Eigentlich hätte die Welt ahnen können, was da im Südkaukasus auf sie zukam. Und doch war am Ende das Erstaunen groß, als die Waffen sprachen. Eine Rückkehr zum Kalten Krieg hatte keiner gewollt.«

Ein anderes Fazit wäre im Spiegel auch kaum denkbar. Diese Behauptung ist jedoch äußerst unglaubwürdig. Die Kettenreaktion, die Saakaschwilis Angriffsbefehl auslösen würde, war weitgehend vorhersehbar. Also hätte man, wenn man die Folgen nicht gewollt hätte, den auslösenden Schritt verhindern müssen. Zu diesem Zweck hätte es ausgereicht, wenn Condoleezza Rice dem georgischen Präsidenten bei ihrem Besuch in Tbilissi am 10. Juli ganz klar und eiskalt gesagt hätte, daß er nicht die geringste Unterstützung zu erwarten hat, falls er einen Krieg mit Rußland provoziert. Statt dessen versicherte sie ihm auf einer gemeinsamen Pressekonferenz: »We always fight for our friends«[6].

Ein bekennender Revanchist

Saakaschwili und seine »Nationalbewegung« wurden im November 2003 mit Hilfe US-amerikanischer Gelder und Instrukteure an die Macht geputscht. Warum? Sein Vorgänger Eduard Schewardnadse hatte Georgien bereits zu einer engen militärischen Kooperation mit den USA geführt und das Land auf einen Annäherungskurs an die NATO gebracht. Der frühere sowjetische Außenminister, ein Weggefährte und Freund von Michail Gorbatschow, war aber im Gegensatz zu Saakaschwili kein Mann für abenteuerliche Provokationen, die unvermeidlich einen Konflikt zwischen Georgien und Rußland auslösen mußten.

Nach der im Westen als »Rosenrevolution« glorifizierten Erstürmung des Parlaments durch seine Anhänger gewann Saakaschwili die Präsidentenwahl im Januar 2004 mit atemberaubenden 97 Prozent - ein Ergebnis, das nicht gerade für demokratische Verhältnisse sprach und nur erreicht wurde, weil mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten zu Hause blieb. Bei den aufwendigen zweitägigen Feierlichkeiten zu seiner Amtseinführung gelobte Saakaschwili am Grab von König David (1089--1125), dem als ersten die Einigung der Landesteile Georgiens gelungen sein soll: »Georgiens territoriale Integrität ist das Ziel meines Lebens. (...) Wir werden unser Äußerstes tun, damit die nächsten Einführungsfeiern auch in Suchumi - der Hauptstadt Abchasiens - stattfinden können.« Das wäre normalerweise im Januar 2009 gewesen; allerdings gab es inzwischen eine vorgezogene Neuwahl. In seiner damaligen Einführungsrede beschwor Saakaschwili die Notwendigkeit, eine starke Armee aufzubauen, »um die Einheit Georgiens wiederherzustellen«. Am 25. Mai 2004 veranstaltete Georgien die größte Militärparade in der Geschichte des Landes, und Saakaschwili sprach: »Wenn man irgendeinen georgischen Soldaten fragt, warum er in den Streitkräften dient, dann wird jeder von ihnen antworten: 'Um Georgiens territoriale Integrität wiederherzustellen.'«

Es war also von vornherein klar, daß die möglichst schnelle »Wiedervereinigung« mit allen Mitteln, auch militärischen, ein zentraler Punkt in Saakaschwilis Programm war. Neben dem starken georgischen Nationalismus gab es dafür auch einen pragmatischen Grund, über den nur selten gesprochen wird: Für die NATO würde es große Risiken mit sich bringen, wenn sie Staaten aufnähme, die revanchistische Gebietsansprüche durchzusetzen versuchen. Zumindest zum damaligen Zeitpunkt - jetzt, nach dem Krieg, stellt sich die Sache möglicherweise etwas anders dar - stand fest, daß Georgien der NATO erst nach einer Lösung seiner »Territorialprobleme« beitreten könnte: Entweder durch Rückgewinnung der abtrünnigen Republiken oder durch expliziten Verzicht auf diese. Das freilich hat offenbar bis heute kein westlicher Politiker der georgischen Führung geraten.

Saakaschwilis Kampf für die »Wiederherstellung der territorialen Integrität« konzentrierte sich zunächst auf das am leichtesten zu erreichende Ziel, die autonome Region Adscharien mit dem wirtschaftlich wichtigen Hafen Batumi. Die Bewohner sind - anders als Abchasen und Osseten - selbst Georgier. Der adscharische Präsident Aslan Abaschidse hatte die Gültigkeit der georgischen Verfassung und die Autorität der Zentralregierung nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Im Wechselspiel von Verhandlungsangeboten, ökonomischer Erpressung und Androhung eines militärischen Vorgehens gelang es Saakaschwili, die Regierung in Batumi zu erschüttern. Entscheidend war in der letzten Phase, daß der mit hohen finanziellen Anreizen verbundene Aufruf an adscharische Beamte und Militärs zur Desertion erfolgreich war. Nach dem Vorbild der »Rosenrevolution« organisierten schließlich Saakaschwilis Anhänger auch in Batumi Massendemonstrationen, mit dem Ergebnis, daß Abaschidse Anfang Mai 2004 aufgab.

Strategie der Spannung

Der leichte Erfolg berauschte Saakaschwili und führte ihn zu dem Trugschluß, daß durch eine Strategie der Spannung auch in Abchasien und Südossetien schnell Ergebnisse zu erzielen wären. Anfang Juli 2004 begann die georgische Führung, illegal Polizei und Militär nach Südossetien, in die unmittelbare Umgebung der Hauptstadt Tschinwali, zu schicken. Sie errichteten dort zahlreiche »Kontrollstationen« und schließlich sogar ein »Krisenzentrum« im Dorf Eredwi, um von da aus alle militärischen Aktivitäten in Südossetien zu koordinieren.

Nach Wochen der Konfrontation stürmten in den frühen Morgenstunden des 19. August 2004 georgische Eliteeinheiten mehrere strategisch wichtige Hügel in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt Tschinwali. Offenbar sollte das der Auftakt zu einem Großangriff sein. Aber ganz überraschend räumten die georgischen Soldaten wenige Stunden später die eroberten Stellungen wieder. Vermutet wurde damals, daß die US-Regierung durch ihren Botschafter in Tbilissi interveniert hatte.

Das amerikanische Veto war es wahrscheinlich auch, das eine kriegerische Eskalation im September 2006 verhinderte. Damals hatte Verteidigungsminister Irakli Okruaschwili mit seinem Hubschrauber auf südossetischem Gebiet notlanden müssen, nachdem er zuvor eine halbe Stunde lang provozierend über Tschinwali gekreist war. »Jeder sollte verstehen, daß das Treiben dieser Banditen sehr bald beendet werden wird, ein für allemal«, drohte Okruaschwili anschließend und kündigte an, sich demnächst persönlich an die Spitze einer »Strafexpedition« zu stellen. Bei dieser Gelegenheit wurde bekannt, daß es schon am 28. August 2006 einen ähnlichen Vorfall gegeben hatte. Dabei soll über südossetischem Gebiet ein Hubschrauber beschossen worden sein, der einen zweiten begleitete, in dem sich Präsident Saakaschwili und eine Gruppe Senatoren aus USA befanden. Unklar ist, ob die Gäste sich bewußt an der riskanten Provokation im südossetischen Luftraum beteiligten oder mißbraucht wurden. Leiter der Senatsdelegation war übrigens John McCain, derzeit Präsidentschaftskandidat der Republikaner.

Schon im Juli 2006 hatten georgische Armeeeinheiten das zu Abchasien gehörende Obere Kodori-Tal besetzt. Im September 2006 benannte die georgische Führung dieses Gebiet in Oberabchasien um und verlegte dorthin den Sitz der »abchasischen Exilregierung«, die bis dahin in Tbilissi residiert hatte. Im Mai 2007 schuf Saakaschwili sich mit Dmitri Sanakojew einen »südossetischen Präsidenten« eigener Wahl, der unter militärischem Schutz Georgiens ein Quartier auf dem Territorium Südossetiens bezog. Es wurde in Moskau als schlimmes Vorzeichen vermerkt, daß Condoleezza Rice bei ihrem Besuch in Tbilissi am 10. Juli zu einem öffentlichen Händedruck mit Sanakojew, den die US-Regierung bis dahin ignoriert hatte, zusammentraf.

Aufrüstung zum Krieg

Saakaschwili bewegte sich schon seit Jahren, und zwar vom Beginn seiner Amtszeit an, immer wieder hart am Rande eines Angriffskrieges gegen die abtrünnigen Republiken. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Motiven für die gezielte Modernisierung und Ausrüstung der georgischen Armee durch die NATO, insbesondere die USA. Im April 2002, also noch unter Schewardnadse, begann das US-amerikanische Verteidigungsministerium mit dem Georgia Train and Equip Program (GTEP), das zunächst 20 Monate dauern sollte, tatsächlich aber zwei Jahre lang lief. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung bildeten über 100 amerikanische Offiziere vier leichte Infanteriebataillone und eine Panzerkompanie der georgischen Armee aus, zusammen rund 2400 Mann. Es handelt sich um Elitetruppen, deren Sold um ein Mehrfaches über den normalen Bezügen georgischer Armeeangehöriger liegt. Die Differenz zahlte das Pentagon. Zum GTEP gehörte auch die Lieferung moderner Waffen und Ausrüstung, einschließlich neuer Kampfhubschrauber.

Mit Gesamtkosten von 65 Millionen US-Dollar stellte das GTEP ein in Art und Umfang absolut einmaliges Pilotprojekt auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion dar. Aufs Jahr umgerechnet bekamen beispielsweise die kaukasischen Nachbarrepubliken Armenien und Aserbaidschan zusammen nur ein Fünftel der US-Militärhilfe, die Georgien erhielt. Soll man es für Zufall oder Ungeschick halten, daß ausgerechnet die Armee eines Staates mit gefährlichen territorialen Ambitionen in so außerordentlicher Weise verstärkt und modernisiert wurde? Gegen welchen Gegner, wenn nicht gegen die abtrünnigen Republiken und gegen deren Schutzmacht Rußland? Offenbar dienten und dienen die revanchistischen Ambitionen der georgischen Führung der NATO als willkommener Hebel, um in der Kaukasusregion der früheren Sowjetunion Fuß zu fassen und Rußlands durch den Tschetschenienkrieg ohnehin schon angeschlagene kaukasische Flanke weiter zu destabilisieren.

Nach seinem offiziellen Ende 2004 lief das GTEP in angeblich verkleinertem Umfang weiter, jetzt getarnt als vom Pentagon bezahltes Privatunternehmen. Ehemalige Offiziere der US-Armee, deren Zahl zunächst mit 14 angegeben wurde, sollten sich künftig um die »Umstrukturierung und Reform« der georgischen Truppen, insbesondere um deren Anpassung an Technik und Militärdoktrin der NATO, kümmern, hieß es damals. Schon im Januar 2005 begann aber ein neues, direkt vom Pentagon geleitetes Programm [7], in dessen Rahmen zwei Infanteriebataillone für den Einsatz im Irak ausgebildet werden sollten. Georgien stellte vor dem Krieg mit 2000 Mann das nach den USA und Großbritannien stärkste Kontingent der Besatzungstruppen im Irak. Nach Beginn der georgisch-russischen Kämpfe befanden sich laut Angaben des Pentagon 127 US-amerikanische Militärausbilder in Georgien, von denen 35 sogenannte Civil Contractors, also Angestellte von Privatfirmen, waren.

In Georgien befand sich zu diesem Zeitpunkt, 9.August, aus unerklärten Gründen auch noch eine nicht genau bezeichnete Zahl von Soldaten, die zuvor am Manöver »Immediate Response« (Prompte Antwort) mit georgischen Truppen teilgenommen hatten.[8] Dieses Manöver war allerdings schon am 31. Juli beendet worden.

Die starke Präsenz von US-Militärs ist einer der Gründe, aus denen der US-Regierung und ihren Geheimdiensten der georgische Aufmarsch zum Überfall auf Südossetien gar nicht verborgen bleiben konnte, selbst wenn sie nicht ohnehin genau informiert gewesen wären. US-Diplomaten behaupten, daß sie noch am Tag vor dem Angriffsbeginn die georgische Führung gewarnt hätten: »Macht es nicht, laßt euch nicht in einen militärischen Konflikt hineinziehen, es liegt nicht in eurem Interesse.«[9] Der Spiegel berichtet, daß der stellvertretende russische Außenminister Grigorij Karasin nach Beginn des georgischen Angriffs noch Kontakt zu seinem US-Kollegen Daniel Fried hatte, der versprach, man werde »sich darum kümmern«. Zu dieser Zeit war es in Washington erst Nachmittag. Später dann, so der Spiegel, sei im amerikanischen Außenministerium niemand mehr ans Telefon gegangen, obwohl dort normalerweise zu dieser Zeit immer noch gearbeitet wurde.[10]

Wenige Stunden nach Beginn des georgischen Überfalls trat am Abend des 7. August (Ortszeit) in New York der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zusammen. Der US-Vertreter weigerte sich beharrlich, irgendeiner Resolutionsformulierung zuzustimmen, in der zur Ablehnung militärischer Gewalt aufgerufen wurde. Die Situation erinnerte stark an das Verhalten der US-Regierung nach Beginn des israelischen Überfalls auf den Libanon im Sommer 2008. Zu diesem Zeitpunkt hätte eine deutliche Reaktion der USA, die noch nicht einmal in einer Verurteilung des georgischen Vorgehens bestehen mußte, wahrscheinlich ausgereicht, um die georgischen Angriffe zu stoppen und den Krieg schadensbegrenzend sofort abzubrechen. Rußland ließ sich, anscheinend als bewußte Geste, noch rund zwölf Stunden Zeit, bis es mit eigenen Streitkräften eingriff.

Das amerikanische Agieren im Sicherheitsrat rundet das Bild ab: Washington war über den Angriffsplan informiert, Saakaschwili hatte grünes Licht erhalten, die dann zwangsläufig folgende Kettenreaktion war erwünscht.

Operation mißglückt, Ziele erreicht

Man mag spekulieren, wie groß die Hoffnung Saakaschwilis war, er könne durch einen »Blitzkrieg« gegen Tschinwali die Russen überrumpeln und von einem Eingreifen abhalten. Letztlich könnte diese Frage nur sein Psychiater beantworten. Fakt ist, daß für einen solchen Kriegsplan die schnelle Besetzung des Roki-Tunnels - der einzigen Landverbindung zwischen Rußland und Südossetien - durch Fallschirmjäger erste Voraussetzung gewesen wäre. Jahrelang waren alle internationalen Beobachter davon ausgegangen, daß ein georgischer Angriff mit einer Luftoperation gegen den Roki-Tunnel beginnen würde. Statt dessen ließ Saakaschwili Tschinwali von seiner Artillerie plattmachen und rein provokatorisch die russischen Friedenstruppen beschießen, die sich in ihre Kaserne zurückgezogen hatten. Zwölf von ihnen starben - ein todsicherer Weg, um eine russische Intervention unvermeidlich zu machen.

Daß jemand ganz bewußt und ohne Notwendigkeit einen Krieg beginnt, den er militärisch nur verlieren kann, kommt selten vor, aber in diesem Fall macht es, aus der speziellen Zielstellung der georgischen Führung, durchaus Sinn. So wie es jetzt aussieht, ist ihr Kalkül vollständig aufgegangen. Zweifel, die es bisher im Westen am Konfrontationskurs der Regierung in Tbilissi gab, werden in einem Meer von geistesschwachen Bekundungen bedingungsloser Solidarität mit dem armen kleinen Opfer der russischen Aggression ertränkt. Den georgischen Streitkräften steht eine neue Welle der Aufrüstung bevor. Noch mehr und modernere Waffen als vor dem Krieg. Bisher stammte ein Großteil des Waffenarsenals noch aus russischer Produktion, und nicht nur aus der allerneuesten. Rundum modernisiert wird auch die gesamte militärische Infrastruktur des Landes. Und das Beste: Die georgische Staatskasse wird kaum einen Lari dazubezahlen müssen.

Wichtig auch: Georgien hat nach dem von seiner Führung ausgelösten Krieg von den USA, Großbritannien und einigen anderen Staaten Bündniszusagen für die nächste »russische Aggression« - also mit anderen Worten: für seinen nächsten Revanchekrieg - bekommen, die nahe an eine De-facto-Mitgliedschaft in der NATO heranreichen. Georgien kann darüber hinaus auch damit rechnen, daß die nächste Tagung der Allianz im Dezember den Weg zur definitiven Aufnahme in die NATO beschleunigen wird.

Georgiens »territoriale Integrität« - das heißt die Rückgewinnung Südossetiens und Abchasiens, die sich nur Idioten oder Zyniker heute noch als freiwilligen Akt vorstellen können - ist zur Herzenssache der gesamten »freien Welt« geworden. »Es ist wichtig, daß die ganze Welt versteht, daß das, was jetzt in Georgien geschieht, die gesamte Weltordnung berühren wird. Das ist nicht bloß Georgiens Sache, sondern die Sache der ganzen Welt«, proklamiert Georgiens Minister für »Reintegration« (Anschluß der abtrünnigen Republiken), Temur Jakobaschwili.[11]

Fußnoten
  1. Bild, 27.8.2008
  2. Times, 19.8.2008
  3. Graham und Liberman, Artikel in der New York Times vom 26.8.2008
  4. Civil Georgia, 21.8.2008
  5. Chronik einer Tragödie, Spiegel 35/2008, S. 126-131
  6. »Wir kämpfen immer für unsere Freunde.« -- Civil Georgia, 10.7.2008
  7. Georgia Sustainment and Stability Operations Program (GSSOP)
  8. Stars & Stripes, 9.8.2008
  9. Reuters, 21.8.2008
  10. In Washington nahm niemand das Telefon ab, Spiegel on­line, 26.8.2008
  11. YNet, 10.8.10.2008

* Aus: junge Welt, 29. August 2008


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