Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Blühende Lügen

Georgien: Im Vorfeld der Neuwahlen wächst der Druck auf Russland

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel von Jürgen Elsässer aus der kritischen Wochenzeitung "Freitag".


Von Jürgen Elsässer

Was würde der Bundesgrenzschutz wohl tun, wenn ein zur Fahndung ausgeschriebener Steuerflüchtling - sagen wir: Jürgen Schneider - wieder deutschen Boden beträte? Vermutlich hätten die Beamten dem Verdächtigen sehr schnell Handschellen angelegt. Und würde der Flüchtling dann einen ausländischen Pass mit einem ganz anderen Namen vorlegen, wäre der Schwindel mit ein, zwei Telefonanrufen schnell geklärt.

Anders in Georgien. Am 3. Dezember landete Boris Berezowski auf dem Flughafen von Tbilissi. Der Oligarch gilt in Russland als Hauptprofiteur der Raubprivatisierung der Jelzin-Ära und wird wegen Diebstahl von über 2000 Ladas über Interpol steckbrieflich gesucht. "Guten Tag, Boris Abramowitsch, wir haben sie lange nicht hier gesehen", begrüßten ihn die Grenzer. Dass der Gast einen britischen Pass mit dem Namen Platon Jelenin vorlegte - dessen Ausstellung die Londoner Regierung später bestritt -, irritierte die Polizisten nur wenig. Wie selbstverständlich ließen sie Berezowski passieren, der von Badri Patarkazischwili, seinem Partner beim Lada-Coup, in Empfang genommen wurde. Später kommentierte der neue starke Mann Georgiens, der bisherige Oppositionsführer Michail Saakaschwili, er sehe in Berezowskis Besuch keine Gefahr, und unterstrich, dass "jeder Geschäftsmann das Recht hat, nach Georgien zu reisen und zu investieren."

Mit der Verhaftung des Gangsters hätte die neue georgische Regierung ein freundschaftliches Signal nach Moskau senden können. Immerhin hatte sich der große Nachbar im Norden bei den Novemberwirren sehr konstruktiv gezeigt. Nach dem Sturm der oppositionellen Demonstranten auf das Parlament am 22. November schickte Präsident Putin in derselben Nacht seinen Außenminister Iwanow nach Tbilissi. Der traf sich mit der siegreichen Opposition und richtete an die Demonstranten - in bestem Georgisch - eine bejubelte Grußbotschaft. Später am Tag war er es, der Schewardnadse zum Rücktritt überredete, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil man sich in Moskau keine Illusionen über den US-amerikanischen Hintergrund der sogenannten Rosenrevolution machte - Megaspekulant George Soros schoss allein mindestens 50 Millionen US-Dollar zu - und den Sturz Schewardnadses zu Recht als Verfassungsbruch bezeichnete. Schließlich war bei den Wahlen vom 2. November, deren Manipulation die Unruhen auslösten, nur das Parlament bestimmt worden, während Schewardnadses Amtszeit noch weitergelaufen wäre. Warum also das russische Bemühen?

Georgien war in den neunziger Jahren - neben Aserbaidschan - zum wichtigsten westlichen Verbündeten in der Region geworden. Schewardnadse hatte als sowjetischer Außenminister frühzeitig den Weg zur deutschen Einheit gebahnt und tatkräftig an der Auflösung der UdSSR mitgewirkt. Als Präsident des selbständigen Georgien torpedierte er den Versuch, das postsowjetische Archipel über die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) wenigstens ein bisschen zusammenzuhalten, von Anfang an. 1997 gründete Georgien mit der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien das Konkurrenzbündnis GUAM, 1999 kam Usbekistan hinzu.

Nach dem 11. September beantragte Schewardnadse die Mitgliedschaft in der NATO und ließ, gegen scharfen Protest aus Moskau, 150 US-Militärberater in Georgien stationieren. Die schlimmste Provokation gegen Russland erlaubte sich seine Regierung im Oktober 2001: Terroristen aus dem benachbarten Tschetschenien erhielten freies Geleit in Georgien, sie wurden im Auto des Innenministers vom grenznahen Pankisi-Tal in die Kodori-Schlucht am anderen Ende des Landes kutschiert. Dort griffen die Mudjahedin Dörfer der pro-russischen Abchasen an und ermordeten Zivilisten. Die Sache flog auf, als die Gotteskrieger auch einen Hubschrauber mit UN-Beobachtern abschossen, ein deutscher Soldat starb.

Das alles war für die USA und die NATO noch kein Grund, auf Distanz zu Schewardnadse zu gehen. Auch der Wahlbetrug vom 2. November wurde im Westen solange nicht kritisiert, wie die Hoffnung bestand, dass sich der "weiße Fuchs" mit der pro-westlichen Opposition einigen könnte. Als dies scheiterte, weil Saakaschwili zu keinerlei Kompromissen bereit war, suchte sich der angeschlagene Präsident in höchster Not einen neuen Partner: Aslan Abaschidse, Präsident der Teilrepublik Adscharien. Seine "Union der Demokratischen Wiedergeburt" war bei den Wahlen landesweit zur zweitstärksten Kraft geworden, weil sie allein in Adscharien 95 Prozent aller Stimmen bekommen hat. Mit ihrer Hilfe hätte Schewardnadses Partei im neuen Parlament die Regierung stellen können. Obwohl beim Traumergebnis in der Provinz mit Sicherheit nachgeholfen wurde, darf man von einer gewissen Beliebtheit des "Großväterchens" - "Babu" ist der Kosename für Abaschidse - ausgehen: Der Lebensstandard in der autonomen Region ist höher als im Rest des Landes, Bürgerkriegstruppen und Mafiaclans hält der Adscharenführer auf Distanz.

In der Hinwendung zu Abaschidse gipfelte Schewardnadses pragmatischer Kurs gegenüber den sezessionistischen Regionen. Anfang der neunziger Jahre hatten sich Abchasien und Südossetien für unabhängig und ihren Wunsch nach Beitritt zur Russischen Föderation erklärt. Mehrere Versuche der Rückeroberung durch die georgische Zentralregierung scheiterten, der Blutzoll war immens. Seither sind in Abchasien 3.000 russische Soldaten als "Peace Keeper" stationiert, etwas weniger in Adscharien, das Georgien nicht verlassen hat. Schewardnadse beließ es bei papierenen Protesten.

Die neue Regierung und ihre Freunde in Washington machen jetzt verstärkt Druck auf Russland, die Truppen zurückzuziehen - die georgisch-amerikanische Militärzusammenarbeit, die Ende 2003 auslaufen sollte, wurde hingegen um drei Jahre verlängert. Gefährlich weiten Interpretationsspielraum bietet ein Satz des US-Außenministers Colin Powell: "Die internationale Gemeinschaft sollte alles tun, was möglich ist, um Georgiens territoriale Integrität während des Wahlprozesses und über diesen hinaus zu unterstützen." Soll das heißen: Die Durchführung der für den 4. Januar angesetzten Wahlen soll auch in Abchasien, Südossetien und Adscharien erzwungen werden? Die Führer der drei Provinzen haben sich Ende November nach Moskau zur Beratung zurückgezogen und sind bis dato nicht zurückgekehrt. Abaschidse hat aus Furcht vor einem Militärschlag den Ausnahmezustand verhängt und alle Grenzen geschlossen.

Derweil häufen sich in Tbilissi die Morde, es gab Bombenanschläge auf das Staatsfernsehen, auf die Schewardnadse-Partei "Für ein neues Georgien" und die Arbeitspartei. Letztere hatte bei den Wahlen am 2. November zwölf (offizielle Zählung) beziehungsweise 14 Prozent (US-amerikanische Parallelschätzung) errungen und steht in Opposition zu den alten wie den neuen Machthabern. Saakaschwili und seine Verbündeten beabsichtigen eine Terrorkampagne gegen die Linke, heißt es in einer Stellungnahme der Arbeitspartei.

Aus: Freitag 51, 12. Dezember 2003


Zurück zur Georgien-Seite

Zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage