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"Wie viele Tote braucht es noch?"

Trotz Waffenruhe Raketenangriff auf Gaza / Frankreich: Israels Gewalt nicht gerechtfertigt *

Eine fragile Feuerpause prägte den Montag im Gaza-Streifen. Es gab zudem Enthüllungen über US-Schützenhilfe für Israel.

Kurz nach Beginn einer befristeten Feuerpause ist im Gaza-Streifen ein Kind bei einem Angriff getötet worden. Nach Angaben der palästinensischen Rettungsdienste wurde ein Haus in einem Flüchtlingslager im Westen von Gaza beschossen, wobei ein achtjähriges Mädchen starb und etwa 30 Menschen verletzt wurden. Sanitäter erklärten, der Angriff sei durch die israelische Luftwaffe erfolgt. Die Rakete schlug wenige Minuten nach Beginn einer von Israel verkündeten »humanitären« Waffenruhe in dem Camp ein. Die siebenstündige Feuerpause galt ab 9 Uhr MESZ für den Großteil des Gaza-Streifens. Ausgenommen war nur der östliche Teil der im Süden gelegenen Stadt Rafah, wo israelische Bodentruppen weiter im Einsatz waren. Die Hamas hatte angekündigt, dass sie sich nicht an die Waffenruhe gebunden fühle. Israel hatte am Wochenende mit dem Teilabzug seiner Bodentruppen begonnen. Einsatzkommandos sollen aber bleiben.

Unterdessen wurde bekannt, dass die US-Regierung und ihre Verbündeten direkt an Angriffen Israels in Nahost – wie aktuell in Gaza – beteiligt sind. Unterlagen des früheren NSA-Mitarbeiters Edward Snowden zeigten, dass der Geheimdienst NSA sein israelisches Pendant SIGINT National Unit (ISNU) seit Jahren verstärkt unterstütze, unter anderem bei der Überwachung und Zielerfassung von Palästinensern, schrieb der Journalist Glenn Greenwald am Montag auf dem Onlineportal »The Intercept«. »In vielen Fällen haben NSA und ISNU gemeinsam mit dem britischen und dem kanadischen Geheimdienst, GCHQ und CSEC, zusammengearbeitet.« Dazu gehöre in mindestens einem Fall auch die verdeckte Zahlung an israelische Agenten. »Die neuen Snowden-Dokumente machen eine entscheidende Tatsache deutlich: Die israelische Aggression wäre nicht möglich ohne die konstante, großzügige Unterstützung und den Schutz der US-Regierung, die bei diesen Angriffen alles andere als eine neutrale, friedensvermittelnde Partei ist«, schreibt Greenwald.

Mit scharfen Worten hat Frankreichs Außenminister Laurent Fabius die israelischen Angriffe im Gaza-Streifen verurteilt. Das Recht Israels auf Sicherheit »rechtfertigt nicht, dass man Kinder tötet und Zivilisten massakriert«, erklärte Fabius am Montag in Paris. Die internationale Gemeinschaft müsse eine politische Lösung des Konflikts durchsetzen, forderte er: »Wie viele Tote braucht es noch, bis das aufhört, was man wohl das Blutbad von Gaza nennen muss?« Zwar habe die Palästinenserorganisation Hamas »überwältigenden« Anteil an der gewaltsamen Entwicklung im Nahen Osten, erklärte Fabius. Doch dies rechtfertige nicht das israelische Vorgehen, fügte er mit Blick auf den Angriff auf eine UN-Schule in Rafah mit mindestens zehn Toten hinzu.

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon beklagte derweil die Zunahme antisemitischer Attacken in Europa. Als Reaktion auf die Eskalation der Gewalt in Gaza hätten sich die Übergriffe gehäuft, erklärte Ban in New York.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 5. August 2014


Schlüsselrolle der USA

Snowden-Dokumente: US-Geheimdienste und ihre Partner machen israelische Angriffe auf Palästinenser erst möglich. Wachsende Kritik auch aus Europa

Von Karin Leukefeld **


Eine von Israel angekündigte siebenstündige »humanitäre Feuerpause« im Gazastreifen ist am Montag mehrmals gebrochen worden. Die Einstellung der Angriffe sollte den Menschen ermöglichen, Leichen und Verletzte zu bergen und sich mit Medikamenten und Lebensmitteln zu versorgen. Fahrzeuge mit Hilfsgütern passierten die von Israel kontrollierten Grenzübergänge in den abgeriegelten Küstenstreifen. Allerdings hielten die israelischen Streitkräfte selber die Feuerpause nicht ein. Beim Beschuß des Flüchtlingslagers Schati wurde ein achtjähriges Mädchen getötet. Auch das Flüchtlingslager Nuseirat wurde beschossen. Ohnehin ausdrücklich ausgenommen von der »Feuerpause« war die Region um die Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen. Bei Angriffen der israelischen Armee wurde dort auch ein hochrangiger Kommandeur des »Islamischen Dschihad« getötet.

Der erneute Beschuß einer UN-Schule in Rafah am Sonntag (jW berichtete) wurde international scharf verurteilt. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon nannte den Vorgang eine »moralische Schandtat« und einen »kriminellen Akt«. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bezeichnete gegenüber dem Deutschlandfunk das wiederholte Bombardieren von Schulen als »Verbrechen«. In Israel müsse ein Umdenken gegenüber den Palästinensern in Gang kommen: »Palästina braucht einen eigenen Staat, sonst gibt es keinen Frieden.« Auch der französische Außenminister Laurent Fabius kritisierte das militärische Vorgehen Israels scharf. Das Recht auf Sicherheit rechtfertige nicht das Töten von Kindern und Massaker an Zivilisten, so Fabius. Israel hatte den Beschuß der Schule damit begründet, er habe »drei Militanten auf einem Motorrad« in der Nähe der Schule gegolten.

Die USA sind indessen offenbar direkter an den israelischen Angriffen auf die Palästinenser beteiligt, als bisher bekannt war. Das geht aus Unterlagen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden hervor, über die der Journalist Glenn Greenwald am Montag auf dem Onlineportal The Intercept berichtete. Die NSA habe seit Jahren Israels Abhördienst ISNU bei der Überwachung und Zielerfassung von Palästinensern unterstützt. Die israelische Aggression wäre nicht möglich ohne die konstante, großzügige Unterstützung und den Schutz der US-Regierung, so Greenwald in seinem Beitrag unter der Überschrift »Bargeld, Waffen und Überwachung – Die USA spielen bei jedem israelischen Angriff eine Schlüsselrolle«. Die Geheimdienste verweigerten jede Stellungnahme zu dem Bericht.

In einem Interview mit dem US-Fernsehender CNN wies der Vorsitzende der Hamas im Exil, Kalid Meschaal, Vorwürfe zurück, seine Organisation nutze die Zivilbevölkerung als »menschliche Schutzschilde«. Es sei »unmöglich«, daß Hamas-Kämpfer überall dort gewesen seien, wo Zivilisten getötet wurden. Die Hamas »opfert sich für das Volk auf und benutzt Zivilisten nicht als menschliche Schutzschilde für ihre Soldaten«.

Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza wurden bis Montag durch israelische Angriffe 1830 Palästinenser getötet, zwei Drittel davon seien Zivilisten. Auf israelischer Seite starben seit Beginn der Offensive 64 Soldaten und drei Zivilisten. Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman hat derweil eine UN-Verwaltung über den Gazastreifen ins Gespräch gebracht.

** Aus: junge Welt, Dienstag 5. August 2014


Netanjahu am Ende seines Kriegslateins

Israels Regierungschef gerät in der Debatte über die Gaza-Strategie zunehmend in die Kritik

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv ***


Die Bodentruppen sind aus dem Gaza-Streifen abgezogen; der Krieg geht weiter. Mittlerweile hält keine Waffenruhe mehr. In Israel wird das weitere Vorgehen diskutiert.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu gibt sich staatsmännisch: Am Montag besucht er Soldaten, die im Gaza-Krieg verletzt wurden, lobt deren Opfer »für die Sicherheit Israels«. Das hat er oft, sehr oft getan, im Laufe der vergangenen Wochen. Doch etwas ist anders geworden. Noch in der vergangenen Woche hatte er sich bei der Beerdigung eines Soldaten kämpferisch gegeben, mit unverzagter, autoritativer Stimme erklärt: »Ich werde tun, was notwendig ist, um sicherzustellen, dass alle Israels sicher leben können.« Und dann hatte er wie immer bei solchen Äußerungen die Hamas dafür verantwortlich gemacht, dass die Menschen im Gaza-Streifen nicht sicher leben können. Am Sonntag wandte er sich bei einer weiteren Beerdigung fast bittend an die Angehörigen: Die Tunnel seien nun zum größten Teil zerstört; die Söhne hätten ihr Leben nicht ohne Grund gelassen.

Doch Äußerungen wie diese können nicht verhindern, dass nun Netanjahu selbst unter Beschuss von allen Seiten gerät. Denn für viele Israelis kam der Abzug eines Großteils der Bodentruppen sehr abrupt. Und viele, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch der Politik, reagieren verwirrt darauf, dass aus der Bekämpfung des Raketenbeschusses, die ursprünglich das erklärte Ziel war, nun nur noch die Zerstörung der Tunnel das Operationsziel gewesen sein soll. Dass Israels Regierung den Krieg als Operation bezeichnet, hat übrigens finanzielle Gründe. Als Krieg deklariert, müssten den Geschädigten auf der israelischen Seite höhere Entschädigungen gezahlt werden.

Netanjahu selbst betonte am Sonntagmorgen, nachdem der Abzug der meisten Bodentruppen bekannt gegeben worden war, die »Operation« gehe weiter, man ändere nur die Gangart: »Ruhe für Ruhe« sei künftig der Weg. Verhandlungen über einen Waffenstillstand schloss er dabei aus.

Doch nun, nur einen Tag später, wird zunehmend deutlich, dass diese Vorgehensweise weder von der israelischen Öffentlichkeit, noch von der Politik, noch von der internationalen Gemeinschaft oder vom Kriegsgegner akzeptiert werden wird. Denn die Kämpfe gehen unvermindert weiter. Es werden weiter Raketen auf Israel abgeschossen, und Israels Militär greift immer wieder Ziele im Gaza-Streifen an. Und so gab man in Israel allerorten das bis dahin praktizierte öffentliche Schweigen auf und begann sehr laut zu fordern, Netanjahu möge bitte endlich seine Strategie vorlegen. Es sei offensichtlich, dass der Krieg nicht das Ergebnis gebracht habe, dass man erwartet habe, sagt man auf der Linken wie der Rechten.

Doch einen Pan für die Zeit nach dem Krieg können auch Mitarbeiter Netanjahus, der sich selbst nicht äußert, nicht nennen. Viel lieber spricht man darüber, was man nicht möchte: dass die Hamas Material bekommt, um Tunnel und Raketen zu bauen, und auch einen formellen Waffenstillstand will man nicht. Denn dies könnte die Hamas als Sieg auslegen. Und im Hause Netanjahu verweist man nach wie darauf, dass die Hamas nachhaltig geschwächt sei.

Aber selbst Außenminister Avigdor Lieberman von der rechten Jisrael Beitenu bezweifelt, dass dies der Fall ist. Er hat mittlerweile seine Forderung nach einer Zerschlagung der Hamas zugunsten eines diplomatischen Prozesses aufgegeben, der die Stärkung der palästinensischen Regierung in Ramallah beinhaltet. An den Grenzen Gazas sollte seiner Ansicht nach eine ausländische Beobachtermission stationiert werden.

Ein enger Mitarbeiter Liebermans bezeichnete den gemeinsamen Forderungskatalog, den die palästinensischen Fraktionen, darunter die Fatah von Präsident Mahmud Abbas, vorgelegt hatte, als »diskussionswürdig«. Vor allem hat man zur Kenntnis genommen, dass in der Vorlage die Verwaltung von Wiederaufbauhilfen, acht Milliarden Euro werden dafür insgesamt notwendig sein, und Hilfsgütern an die Verwaltung von Abbas übertragen wird.

Auch die Linke fordert nun einen diplomatischen Prozess. Jitzhak Herzog, Vorsitzender der Arbeitspartei, sagte, der palästinensische Vorschlag öffne die Tür auch für eine Wiederaufnahme über einen endgültigen Friedensvertrag: »Dies ist eine einmalige historische Chance.«

*** Aus: neues deutschland, Dienstag 5. August 2014


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