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Truppenrückzug aus Gaza – und dann?

Israels Regierung ist sich offenbar über ihre strategischen Pläne gegenüber den Palästinensern nicht einig

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Israels Militär zieht einen Großteil der Soldaten aus dem Gaza-Streifen ab; die Zerstörung der Tunnel sei beendet. Der Krieg geht dennoch weiter. Die Zahl der Opfer liegt nun bei über 1800.

Die Vorbereitungen für die Zeit nach dem Krieg laufen auf Hochtouren. Doch sie sie sehen nicht so aus, wie man es erwarten würde: In Jerusalem bereiten sich Politiker aller Couleur darauf vor, jede Entscheidung, jeden Einsatz dieses Konflikts auseinander zu nehmen: Untersuchungsausschüsse drohen: »Es gibt schwierige Fragen, auf die wir gerne eine Antwort hätten«, sagt Zeew Elkin, Abgeordneter der rechten Jisrael Beitenu und Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Parlament: Sobald der Krieg vorbei sei, werde der Ausschuss die Entscheidungsträger befragen, und einen Schwerpunkt werde die Frage bilden, warum das Militär nicht auf die Tunnel vorbereitet gewesen sei.

Deren Zerstörung ist, so die offizielle Position der Armee, nun abgeschlossen. Am Sonntag wurde ein Großteil der Militäreinheiten aus dem Gazastreifen zurück beordert; die Luftwaffe flog nur noch vereinzelte Angriffe. Es ist ein Ende, das recht abrupt wirkt, und nicht nur Israels Rechte, auch Linke wollen nun gerne wissen, warum das so ist. »Ganz ehrlich: Aktuell stehe ich hier etwas auf dem Schlauch,« sagt Jitzhak Herzog, Vorsitzender der Arbeiterpartei: »Dass der Militäreinsatz beendet werden muss, sagen wir bereits seit langer Zeit. Aber das wirkt doch sehr wie aus heiterem Himmel.«

Denn zum einen dringen immer wieder Berichte an die Medien, denen zufolge die Tunnel keinesfalls komplett zerstört seien: Soldaten fänden noch kurz vor dem Abzug immer weitere Eingänge. Zum anderen hatte Operation »Schutzrand« ursprünglich ein ganz anderes Ziel: Den Raketenbeschuss auf Israel zu beenden und dauerhaft zu unterbinden. In der vergangenen Woche hatte Regierungschef Benjamin Netanjahu sogar noch angekündigt, das Militär werde den Gazastreifen selbst entmilitarisieren, falls die internationale Gemeinschaft nicht aushelfe. Doch am Sonntag wurden nach wie vor Raketen abgeschossen, während die Soldaten unter heftigem Feuer durch Kämpfer von Ezzedin-al-Kassam-Brigaden und Islamischem Dschihad abzogen; für die Menschen im Umland hat sich die Lage nicht verbessert.

Noch am Freitag war ein Waffenstillstand, der auf Druck der USA und der Vereinten Nationen zustande gekommen war, bereits nach kurzer Zeit gescheitert. Der Grund dafür war, sagt die Hamas, eine Panne: Da die Strom- und Telefonverbindungen weitgehend zerstört sind, habe man Schwierigkeiten gehabt, mit den einzelnen Milizen zu kommunizieren. Allerdings ist es auch so, dass die Kassam-Brigaden einen Waffenstillstand kategorisch ablehnten.

Kurz darauf kam es erneut zu einem Eklat zwischen Netanjahu und US-Präsident Barack Obama: Der solle künftig die Entscheidungen Netanjahus nicht mehr hinterfragen, habe der Premier gefordert, so die offizielle Version seines Büros.

Dort betont man, der Krieg sei keineswegs vorbei: Es habe sich nur die Gangart geändert; man werde zurückschlagen, wenn man angegriffen werde. Doch der Rechten ist das nicht genug: Sie fordert schärfer denn je eine Fortsetzung der Bodenoffensive und eine weitgehende Zerschlagung der Hamas, damit die palästinensische Regierung in Ramallah Gaza unter alleinige Kontrolle nehmen kann.

Doch dort gibt man sich mittlerweile zurückhaltend: Ein solcher Machtwechsel sei ein langwieriger Prozess, sagen Mitarbeiter von Präsident Mahmud Abbas, und äußern die Befürchtung, dass ein solcher Schritt, wenn er schlecht geplant ist, das Todesurteil für die Fatah-Fraktion bedeuten könnte. Denn sie wird, dessen ist man sich in Ramallah sehr bewusst, von vielen im Westjordanland und noch mehr Menschen im Gazastreifen als Erfüllungsgehilfin Israels gesehen.

Pläne für die Zeit nach dem Kriegsende gibt es nach wie vor noch nicht; bekannt ist nur, was Israels Regierung nicht will: Die Blockade aufheben, so lange die Hamas noch einigermaßen im Sattel sitzt – man wolle ihr keinerlei Möglichkeit bieten, einen Sieg für sich in Anspruch zu nehmen. Doch der internationale Druck ist hoch: Auch wenn Washington, und viele andere Regierungen den Bruch des Waffenstillstandes verurteilen, wird die hohe Zahl an Opfern, die humanitäre Lage in Gaza kritisiert. Selbst wenn Israels Regierung sich aktuell nicht nur dagegen, sondern auch gegen die Lieferung von Materialien für den Wiederaufbau sperrt, weil sie von der Hamas für den Raketenbau eingesetzt würden: Man braucht selbst ebenfalls Hilfe, um die Milliardenkosten des Krieges zu stemmen.

Viele europäische Länder, aber auch die USA, machen die Unterstützung, vor allem im militärischen Bereich, davon abhängig, dass Israel Hilfen für den Gazastreifen zulässt.

* Aus: neues deutschland, Montag 4. August 2014


Erneut Angriff auf Schule

Zehn Tote bei erneutem Beschuß von UN-Schule im Gazastreifen durch Israel. Zahl der getöteten Palästinenser steigt auf mehr als 1750

Von Karin Leukefeld **


Die israelische Armee hat den 23jährigen Leutnant Hadar Goldin für tot erklärt. Er gehörte zu einem Trupp, der am Freitag morgen eine Tunnelanlage in Rafah an der palästinensisch-ägyptischen Grenze zerstören sollte. Dabei waren die Soldaten von einem palästinensischen Kampfverband überrascht worden. Zwei Soldaten wurden offenbar direkt getötet, Goldin galt zunächst als vermißt. Der Vorfall hatte der israelischen Regierung dazu gedient, die vereinbarte Waffenruhe mit der Hamas für beendet zu erklären.

Justizministerin Tzipi Livni beschuldigte die Hamas, Goldin entführt zu haben. Vertreter der Organisation wiesen das zurück. Man habe den Kontakt zu einem Kampfverband verloren, der in dem Gebiet operierte, wo der Soldat vermißt werde, hieß es in einer Stellungnahme der Al-Kassam-Brigaden der Hamas. »Möglich, daß unsere Kämpfer und der Soldat getötet wurden.« Dennoch nahmen die israelischen Streitkräfte den Vorfall zum Anlaß, ihre Angriffe auf den Küstenstreifen wiederaufzunehmen. Allein bis Samstag morgen zerstörte die israelische Armee mehr als 200 Ziele. Besonders hart traf es Rafah. Hilfskräfte sagten, daß innerhalb von 24 Stunden 110 Menschen getötet wurden. Zehn Mitglieder der Familie Al-Ghul, darunter zwei Neugeborene, starben, als eine Rakete ihr Haus zerstörte. Am Sonntag wurden beim Beschuß einer weiteren UN-Schule nahe Rafah mindestens zehn Menschen getötet, wie der Sprecher des palästinensischen Gesundheitsministeriums, Aschraf Al-Kidra, mitteilte. Die Schule in Rafah habe rund 3000 Menschen aufgenommen, die vor dem Krieg geflohen seien, erklärte ­UNRWA-Sprecher Christopher Gunness. Fast eine halbe Million Menschen sind im Gazastreifen auf der Flucht. Insgesamt wurden allein am Sonntag morgen nach Angaben der Nachrichtenagentur Maan News 37 Menschen getötet.

Seit Beginn der israelischen Offensive vor 27 Tagen wurden den Angaben zufolge mehr als 1750 Palästinenser getötet und rund 10000 Menschen verletzt. Auf israelischer Seite starben 66 Soldaten und drei Zivilisten, darunter ein Gastarbeiter aus Thailand. Tel Aviv rechtfertigt die Angriffe auf die zivile Infrastruktur im Gazastreifen damit, daß sich dort Stützpunkte oder Waffenlager der Hamas befänden. Am Sonntag hieß es von seiten der israelischen Armee, daß einige Truppen innerhalb des Gazastreifens in einem »vorübergehenden Sicherheitsstreifen« gesammelt würden. Das bedeute aber nicht, daß die Bodenoffensive beendet sei, so Armeesprecher Peter Lerner: »Wir wechseln den Gang, aber es geht weiter.«

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier erörterte in der Welt am Sonntag einen »Friedensplan« der Bundesregierung. Für eine »langfristige Lösung« im Gazastreifen müßten die Hamas entmachtet und die Grenzübergänge geöffnet werden. Diese könnten unter internationale Kontrolle gestellt werden, schlug Steinmeier vor. Von 2005 bis 2007 hatte es eine EU-Mission an der Grenze von Gaza zu Ägypten gegeben, dieses Modell könne reaktiviert werden. Gespräche darüber könnten aber nur mit der palästinensischen Autonomiebehörde und Mahmud Abbas geführt werden, nicht mit der Hamas.

Delegationen der Hamas und des Islamischen Dschihad sind am Sonntag in Kairo eingetroffen, wo sie mit Vertretern Ägyptens und der USA über einen Waffenstillstand sprechen wollen. Israel verweigert die Teilnahme.

** Aus: junge Welt, Montag 4. August 2014


Israel weist Obama zurecht

Netanjahu verbittet sich Kritik an Kriegführung gegen die Bevölkerung von Gaza

Von Knut Mellenthin ***


Spiegel online meldete am Sonntag, »der israelische Geheimdienst« – welcher? Es gibt mehrere – habe »offenbar« Telefongespräche von US-Außenminister John Kerry abgehört. Das Nachrichtenmagazin behauptet, die Neuigkeit »aus Geheimdienstkreisen« erfahren zu haben. Daß es sich um israelische Quellen handeln muß, liegt auf der Hand. Nicht der Abhörvorgang als solcher, sondern das Bekanntmachen dieser Tatsache ist die jüngste gezielte Provokation der Regierung in Jerusalem gegen die US-Administration.

Am Sonnabend hatten israelische Medien über ein »schroffes« Telefongespräch von Premier Benjamin Netanjahu mit US-Botschafter Dan Shapiro berichtet, das angeblich am Freitag stattgefunden hatte. Die Geschichte, die nur aus Netanjahus Büro gekommen sein kann, war zunächst der Nachrichtenagentur AP zugespielt und von dieser verbreitet worden. Den Meldungen zufolge hatte der israelische Regierungschef den Diplomaten äußerst undiplomatisch zurechtgewiesen, daß er »nie wieder« Kritik aus Washington an seinen Entscheidungen zur Behandlung des Gaza-Gebiets hören wolle. Er »erwarte« jetzt, daß die USA »und andere Länder« die israelische Kriegführung »voll unterstützen«.

Ebenfalls am Freitag zeigte Präsident Barack Obama bereits das gewünschte Verhalten: Ohne daß irgendwelche Beweise vorlagen, übernahm »der mächtigste Mann der Welt« die israelische Darstellung, daß die palästinensische Hamas die kurz zuvor in Kraft getretene, von Kerry vermittelte Waffenruhe gebrochen habe. Gleichzeitig verlangte Obama von der Hamas die »sofortige und bedingungslose« Freilassung eines angeblich in Gefangenschaft geratenen israelischen Soldaten. Süffisant schrieb Israels meistgelesene Tageszeitung, yedioth Achronoth, am Sonnabend: »Es ist unklar, ob das Telefongespräch zwischen Netanjahu und dem US-Botschafter vor oder nach Obamas Äußerungen stattfand.«

Die israelische Führung hatte dem US-Präsidenten schon einige Tage vorher einen üblen Streich gespielt: Ein staatlich finanzierter Fernsehsender hatte am Dienstag das angebliche »Protokoll« eines Telefongesprächs zwischen Obama und Netanjahu veröffentlicht, das den Amerikaner als grobschlächtigen, herrischen Ignoranten dastehen ließ (jW berichtete). Um sich über den Wert dieses zumindest stark und sinnentstellend bearbeiteten »Protokolls« klar zu werden, reicht die Tatsache, daß es dem US-Präsidenten die barsche Forderung nach einer »einseitigen« Einstellung der israelischen Militäraktionen zuschrieb.

Israelische Dienststellen haben eine langjährige Übung im Verbreiten von Falschmeldungen, die die bedingungslose Solidarität der USA mit Israel in Frage stellen. In der Regel treten die angestrebten Ergebnisse ein: Proisraelische Milliardäre, von deren Spenden die Parteipolitiker und Kongreßmitglieder abhängen, bekommen Gelegenheit zu besorgten Anrufen, ob denn noch alles in Ordnung sei. Prompt müssen der jeweilige Hausherr des Weißen Hauses und seine Leute heftig dementieren und sind bestrebt, die Gerüchte durch noch größere Unterwürfigkeit zu widerlegen.

Besonders infamen Angriffen nicht nur durch israelische Medien, sondern auch durch Mitglieder von Netanjahus Kabinett ist seit zwei Wochen Außenminister Kerry ausgesetzt. Seine Bemühungen um einen Waffenstillstand und seine Gespräche mit den Regierungen der Türkei und Katars in diesem Zusammenhang werden als »Komplizenschaft mit den Terroristen« verurteilt. Kommentatoren des US-amerikanischen Mainstreams stimmen in die Vorwürfe ein. Da hilft es Kerry wenig, daß er beteuert, in ständiger enger Abstimmung mit Netanjahu gehandelt zu haben. Vergeblich auch seine entlarvende Verteidigung, daß sich weder er selbst noch der Präsident der Vereinigten Staaten um einen Waffenstillstand in Gaza bemüht hätten, wenn das nicht Netanjahus explizit geäußerter Wille gewesen wäre.

*** Aus: junge Welt, Montag 4. August 2014


Gaza – Symbol der Untätigkeit

Roland Etzel zur Krise der Diplomatie in der Nahostfrage ****

Fast 1800 Tote sind es nunmehr im Gaza-Krieg, aber die internationale Diplomatie hat es nicht eilig. Selbst bei einem Abzug Israels wäre nichts gelöst. Aber: Keine Dringlichkeitssitzungen bei der UNO in New York; am potenziellen Konferenzort Kairo tut sich wenig bis nichts. Auch der US-Kongress, der sonst gern über die Verhängung von Flugverbotszonen nachdenkt, hat eine solche über Gaza bislang nicht ins Spiel gebracht. Das äußerste, was zu hören war, blieb die Mahnung, »umgehend Verhandlungen aufzunehmen«.

Darin lag nichts Dramatisches – es sei denn, man bewertet schon die Tatsache so, dass die »Mahnung« an beide Seiten erging. Dass Kerry keinerlei Druck auf Israel ausüben sollte, wussten die Israelis ja längst. Wie man jetzt weiß, wurde er von ihnen bei seinen Nahostmissionen abgehört. Proteste? Konsequenzen Kerrys? Keine. Es ist sehr schwer vorstellbar, dass dieser Mann auf internationalem Parkett noch jemals ernstgenommen wird.

Warum aber tun andere nichts? Zum Jubiläum des Weltkriegsausbruchs war auf dem Alten Kontinent allerorten von Verantwortung zu hören. Wenn man heute zu recht meint, dass Verdun und Ypern keine unabwendbaren Ereignisse waren, warum dann nicht auch Gaza? Es sagt ja keiner, dass dies einfach sei.

Doch selbst der deutsche Bundespräsident, sonst eifrigster Mahner, dass sich Deutschland nicht länger vor internationaler Verantwortung drücken dürfe, bleibt dazu stumm.

**** Aus: neues deutschland, Montag 4. August 2014 (Kommentar)


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