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Gaza – Waffenruhe oder noch mehr Krieg?

USA legen Plan für einwöchige Feuerpause vor / Demonstrationen pro und kontra Israel in Berlin *

Im Gaza-Streifen stieg die Zahl der Toten auf mehr als 820. Der Großraum Tel Aviv wurde erneut mit Raketen angegriffen. Derweil legten die USA einen Zwei-Stufen-Plan vor.

Die USA wollen eine rasche Waffenruhe zwischen der im Gaza-Streifen herrschenden Palästinenserorganisation Hamas und Israel erreichen. US-Außenminister John Kerry hat den Konfliktparteien nach Medienberichten einen konkreten Vorschlag über eine einwöchige Feuerpause unterbreitet.

Nach Kerrys Vorstellungen sollen mit Einstellung der Kämpfe von Sonntag an unter ägyptischer Vermittlung Gespräche über eine längerfristige Friedenslösung aufgenommen werden, wie die israelische Zeitung »Haaretz« am Freitag berichtete. Israel darf demnach in dem Zeitraum weiterhin Tunnel im Gaza-Streifen zerstören, die die Hamas gebaut hat. Die »New York Times« berichtete von einem Zwei-Stufen-Plan, wonach zuerst die Waffen schweigen und dann Gespräche folgen sollen. Unklar sei, ob israelische Truppen während der Feuerpause in Gaza bleiben können.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ließ am Freitag keine Bereitschaft erkennen, die Angriffe einzustellen. Einige Minister forderten eine Fortsetzung und sogar Verstärkung der Angriffe im Gaza-Streifen. Der israelische Rundfunk berichtete, die Armee sei angewiesen worden, sich auf eine »echte Ausweitung« der Offensive in der kommenden Woche vorzubereiten, sollte Hamas die Vorschläge zu einer Feuerpause ablehnen. Hamas macht ihr Einverständnis von eine Ende der Blockade abhängig.

Unterdessen ging der Schlagabtausch zwischen beiden Seiten am Freitag in unverminderter Härte weiter. Die Zahl der Toten im Gaza-Streifen stieg auf mehr als 820. Der Gouverneur von Gaza, Abdallah al-Frangi, bezeichnete im nd-Interview die »militärischen Schläge Israels als so brutal, wie wir sie in der Geschichte von Palästina und der gesamten arabischen Welt noch nie erlebt haben«.

Tausende Iraner protestierten am Freitag in mehr als 700 Städten gegen Israel und die Gaza-Offensive. Am sogenannten Al-Quds-Tag kam es auch in Berlin und anderen deutschen Städten zur jährlichen stattfindenden Demonstration. In Berlin hatte die Ankündigung der Aktion erregte Debatten ausgelöst, schon im Vorfeld war vor antisemitischen Ausfällen gewarnt worden. Bereits seit Tagen kommt es immer wieder zu Protesten gegen Israel und zu emotional geführten Debatten über Antisemitismus.

Auf Al-Quds-Gegenveranstaltungen forderten Antifa-Demonstranten »Free Gaza from Hamas« (Befreit Gaza von der Hamas). Die Polizei trennte mehrmals Demonstranten der verschiedenen Lager voneinander. Markus Teervoren, Geschäftsführer der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten, warnte mit Blick auf antisemitische Parolen: »Sich als links und antifaschistisch verstehende Menschen sollten wissen, dass sie auf Demonstrationen, die Antisemitismus ein Forum bieten, nichts, aber auch gar nichts verloren haben.«

* Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Juli 2014


»Palästinenserstaat soll verhindert werden«

Gaza-Gouverneur Frangi sieht den neuen Nahostkrieg »in der Tradition israelischer Politik« **

Abdallah al-Frangi (geboren 1943) war von 1993 bis 2005 Generaldelegierter der Palästinensischen Autonomiegebiete in Deutschland. Zuvor baute er trotz großer Widerstände in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn eine »Informationsstelle Palästina« auf, die ab 1978 als inoffizielle Vertretung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) fungierte. Frangis Familie kommt aus Beer Sheva, einer Stadt, die heute im Süden Israels liegt. Sie flüchtete nach Ausrufung des Staates Israel 1948 in den Gaza-Streifen. Mit dem jetzigen Gouverneur von Gaza sprach Martin Lejeune.

Sie haben am 7. Juli Ihren Eid als Gouverneur von Gaza abgelegt. Was hat Sie dazu bewogen, in einer solchen schweren Zeit so viel Verantwortung zu übernehmen?

Ich reiste am 7. Juli über Jordanien von Deutschland nach Ramallah und bekam dort von Präsident Mahmud Abbas das Angebot, Gouverneur von Gaza zu werden. Ich war zuvor der politische Berater des Präsidenten für internationale Beziehungen und ich dachte, wenn es zum Angriff auf Gaza käme, könnte ich meinem Volk in der neuen Funktion mehr helfen. Ich wusste von der bevorstehenden Konfrontation und wollte den Bewohnern beistehen. Am 8. Juli bin ich über Erez in Israel nach Gaza gereist. Bei meiner Ankunft in Erez schlugen die ersten Raketen in Gaza ein.

Dieser Gaza-Krieg verläuft seit seinem ersten Tag äußerst blutig. Wie erleben Sie als Gouverneur von Gaza die Situation?

Wir haben seit dem 8. Juli jeden Tag neue Tote und Verletzte. Die Zahl der Toten beträgt bisher fast 800, die Zahl der Verletzten über 5000, die Zahl der zerstörten Häuser über 2300 und die Zahl der beschädigten Häuser an die 9000. Wir haben 160 000 Flüchtlinge, die in Moscheen, Schulen und Kirchen Zuflucht gefunden haben. Sie mussten ihre Wohnungen sofort ohne Matratzen, Kopfkissen, Decken und Kleider verlassen. Wir haben große Schwierigkeiten, diese Flüchtlinge in ihren Notunterkünften zu versorgen, vor allem mit Essen und Trinken – und das im Fastenmonat Ramadan. Auch haben wir keine ausreichenden Schlafplätze für die Flüchtlinge.

Wie geht es der Bevölkerung von Gaza, die nun den dritten Krieg innerhalb weniger Jahre erleiden muss? Wie wirkt sich der ständige Kriegszustand auf das Gemüt der Menschen aus?

Die Durchführung der militärischen Schläge ist so brutal, wie wir sie in der Geschichte von Palästina und der gesamten arabischen Welt noch nie erlebt haben. Ich kann noch gar nicht fassen, was hier passiert. Ich besuche sehr viele Kriegsopfer. Die Menschen sind in großer Trauer, weil sie so viele Verwandte und Freunde verloren haben. Die Menschen fühlen sich hilflos, weil sie keine Möglichkeit haben, sich zu wehren. Die israelische Armee konzentriert ihre Schläge auf die Bevölkerung, die den Bomben und Raketen schutzlos ausgeliefert ist. In Sedschaija, einem Stadtteil im Osten von Gaza, in dem 100 000 Menschen leben, hat die Armee die Bevölkerung mit Panzern beschossen und ein Massaker angerichtet. Dabei gibt es keine Kämpfer von der Hamas oder dem Islamischen Dschihad dort. Diese Massaker wiederholen sich Tag um Tag. Ich verstehe nicht, warum die Israelis so etwas tun.

Was ist Ihrer Ansicht nach die Ursache für diesen Krieg?

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat diesen Krieg vom Zaun gebrochen, ohne Beweise vorgelegt zu haben, dass die Hamas hinter den Morden an drei Jugendlichen stecke. Die wahren Ziele dieses Krieges sind die Verhinderung eines palästinensischen Staates. Genauso wie seine Vorgänger Ehud Barak und Ariel Sharon treibt Netanjahu die Spaltung der Einheit der Palästinenser voran, damit der Staat Palästina nicht entstehen kann, Gaza weiterhin vom Westjordanland getrennt bleibt und die Israelis ihre Siedlungspolitik ausweiten können. Dieser Angriff auf Gaza steht in der Tradition israelischer Politik, die das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser in Frage stellt.

Während wir sprechen, hören wir nicht nur ständig um uns Bomben einschlagen, sondern auch das Sirren von Kampfdrohnen. Fühlen Sie sich sicher hier in Ihrem Büro?

Niemand ist irgendwo in Gaza sicher. Das Sirren dieser Drohnen hören wir Tag und Nacht. Ich weiß, dass diese Drohnen von der Technik her sogar noch besser sind als die amerikanischen Drohnen und sie können jederzeit jede Person in Gaza töten, derer sie gewahr werden. Sie können immer und überall ihr Ziel erreichen. Das ist die totale Bedrohung. Und es gibt ja noch die Artillerie, die Luftwaffe mit ihren F16- und F22-Bombern, den Kampfhubschraubern und die Kriegsschiffe der Marine, die uns vom Meer aus beschießt.

Wie wirkt diese totale Gewalt auf das politische Klima in der Region?

Israel vergiftet mit diesem brutalen Vorgehen das politische Klima. Der Handlungsspielraum für Friedensbemühungen wird völlig eingeschränkt. Diese Politik vernichtet die Chancen auf gerechten Frieden.

Was muss passieren, damit dieser Krieg endlich gestoppt wird?

Der Druck auf die israelische Regierung darf nicht nur von den westlichen Regierungen kommen, sondern muss auch von der Bevölkerung im Inneren Israels ausgehen. Ich hoffe auf die Israelis, die für Frieden sind und die auf die Straße gehen und demonstrieren. Sie werden Einfluss nehmen auf die Entwicklung der israelischen Gesellschaft. Die Politiker der westlichen Staaten, die vom Recht Israels reden, sich selbst zu verteidigen, erwähnen nicht das Leid der Palästinenser. Die reden nicht vom Recht der Palästinenser zu leben. Die sprechen überhaupt nicht von den Palästinensern. Wir brauchen Politiker in Westeuropa, die fordern, dass die Angriffe auf Gaza aufhören, dass die 6000 palästinensischen Gefangenen in Israel freigelassen werden müssen und dass ein selbstständiger Palästinenserstaat in Westjordanland, Gaza-Streifen und Ostjerusalem entstehen muss. Das ist nur ein Viertel des Gebietes von Palästina.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Juli 2014


Opfer sind selbst schuld

Israel bombardiert Schulen und Krankenhäuser – und macht die Palästinenser für die getöteten Zivilisten verantwortlich

Von Karin Leukefeld ***


Israel hat am Freitag den 18. Tag in Folge seine Offensive gegen den Gazastreifen fortgesetzt. Auch der Raketenbeschuß israelischen Territoriums von palästinensischem Gebiet aus ging weiter. Die Zahl der getöteten Palästinenser stieg auf 825, unter den Opfern sind mindestens 150 Kinder. 5240 Menschen wurden verletzt. Die israelische Armee meldete am Freitag den Tod eines weiteren Soldaten. Die Zahl der getöteten Israelis stieg damit seit Beginn der Offensive auf 36. Drei von ihnen waren Zivilisten – ebenso wie 80 Prozent der palästinensischen Opfer. Ein zweieinhalbjähriger Junge starb am späten Donnerstag abend, als eine israelische Granate das Mohammad-Al-Durra-Krankenhaus in Gaza-Stadt traf. Ibrahim Al-Sheikh Omar, der wegen schwerer Verletzungen auf der Intensivstation des Krankenhauses gelegen hatte, wurde von Granatsplittern getroffen und war sofort tot. 30 Personen wurden bei dem Angriff verletzt.

Am Donnerstag nachmittag waren 15 Menschen getötet worden, als die israelische Armee eine Schule der Vereinten Nationen angriff, in der 800 Personen Schutz gesucht hatten. Man müsse den Vorfall »untersuchen«, erwiderte General Micky Edelstein, der die israelische Bodenoffensive in Gaza befehligt, auf Kritik daran. Die palästinensischen Kampfverbände »benutzen zivile Infrastruktur und internationale Symbole als menschliche Schutzschilde«, so Edelstein. Mit diesem Argument haben Sprecher der israelischen Armee schon wiederholt gezielte Angriffe auf Schulen, Moscheen, Wohn- und Krankenhäuser gerechtfertigt. Diese Orte seien Waffenlager der Hamas. Somit sei die Organisation für den Tod der palästinensischen Zivilbevölkerung verantwortlich, heißt es in Israel.

Der UN-Menschenrechtsrat hat bereits am Mittwoch in einer Dringlichkeitssitzung die Bildung einer Untersuchungskommission beschlossen, um mögliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die israelischen Streitkräfte während der aktuellen Gaza-Offensive zu untersuchen. 29 der 47 Mitglieder des Gremiums stimmten für die Entschließung, die der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu anschließend als »Travestie« verhöhnte. Die USA stimmten gegen die Entscheidung, Deutschland und andere EU-Staaten enthielten sich. US-Außenminister John Kerry sagte derweil seine Unterstützung für einen von Ägypten vorgelegten Waffenstillstandsvorschlag zu. Um Verhandlungen in Gang zu bringen, sollten eine Woche lang die Waffen ruhen. Ausgenommen davon seien jedoch Angriffe der israelischen Armee auf Tunnelanlagen und Raketenabschußrampen. Es ist unwahrscheinlich, daß die Hamas sich darauf einlassen wird. Sie fordert ein Ende der Blockade des Gazastreifens. Auch das israelische Sicherheitskabinett, das am Freitag über den Vorschlag beriet, lenkte nicht ein. Der israelische Rundfunk berichtete vielmehr, die Armee sei angewiesen worden, sich kommende Woche auf eine »echte Ausweitung« der Offensive vorzubereiten.

Die US-Luftfahrtbehörde FAA hat am Donnerstag das von ihr verhängte Flugverbot nach Israel aufgehoben. Dagegen verlängerte die Lufthansa am Freitag ihren Stopp aller Verbindungen nach Israel um weitere 24 Stunden. Am Freitag waren erneut drei Raketen auf den Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv abgeschossen worden. Die Verantwortung dafür übernahmen die Al-Qassam-Brigaden der Hamas. Schaden richteten die Geschosse nicht an, sie wurden vom israelischen Raketenabwehrschirm abgefangen.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 26. Juli 2014


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