Gaza und deutsches Mitläufertum
Von Rolf Verleger *
Seit 2005 ist Gaza ein großes Gefängnis; Israel hat es verriegelt, Ägypten bewacht den Hinterausgang. Israel erlaubt Ein- und Ausfuhren nur insoweit, dass niemand verhungert. Boote dürfen nur bis drei Meilen vor die Küste fahren, den EU-finanzierten Flughafen hat Israel zerbombt. Das hat die bescheidene Industrie und Landwirtschaft ruiniert. Womit sollen sich also die Einwohner beschäftigen? Ist es so erstaunlich, dass sie Tunnel bauen, um die Gefängnismauern zu durchlöchern? Ist es so erstaunlich, dass sie versuchen, ihren Gefängniswärtern zu schaden?
Das geschieht auf dem Hintergrund, dass die meisten Bewohner des Gazastreifens Nachkommen von Vertriebenen sind: Leute, die von ihren Häusern in Jaffa seit 1948 nur noch den Schlüssel haben, Menschen aus Aschkalon, die noch in den 50er Jahren eingesammelt und per Lastwagen nach Gaza deportiert wurden.
Als Weltbürger im schicken Tel Aviv würde man gerne in Frieden leben, aber die Universität ist auf den Trümmern eines vertriebenen Dorfs errichtet und die schönen arabischen Häuser in Jaffa wurden mit Gewalt ihren Vorbesitzern weggenommen. Hat Israel je ernsthaft versucht, die Palästinenser um Verzeihung zu bitten? Ist es so erstaunlich, dass Israel auf geraubtem Land nicht in Frieden leben kann?
Vor kurzem sind die Friedensverhandlungen von US-Außenminister John Kerry gescheitert. Dafür verantwortlich war laut Kerry Israel, weil es fortgesetzt Land im Westjordanland annektierte („Siedlungsbau“) und die Zusage nicht einhielt, Gefangene freizulassen. Daraufhin bildeten die zerstrittenen Parteien Fatah und Hamas eine Einheitsregierung. Dies wurde von EU und USA begrüßt, aber Israels Premier Benjamin Netanjahu erklärte, dies nicht zu dulden. Er benutzte die bis heute unaufgeklärte Ermordung dreier Siedler-Jugendlicher, um Hunderte Hamas-Mitglieder zu verhaften; mehrere Palästinenser wurden vor und nach diesen Morden von Israels Polizei und Armee umgebracht. Ist es so erstaunlich, dass die Hamas dann wieder begann, ihre Rohrgeschosse und Raketen abzufeuern?
Als die israelische Attacke begann, war durch diese Raketen aktuell glücklicherweise noch kein Mensch zu Schaden gekommen. Trotzdem startete Israel diese Kampagne und hat nun bereits 1000 Gaza-Bewohner vom Leben zum Tod befördert. Das ist ein Massaker.
Manche Leute äußern Verwunderung, warum Deutsche gegen dieses Massaker – das zweite in fünf Jahren – auf die Straße gehen. Warum nicht gegen Putin, Syrien, Nigeria? Nun, die Antwort ist einfach: Weil wir – zu Recht oder zu Unrecht – das Gefühl haben, dass deutsche Politiker und Medien mit diesen anderen Konflikten nicht viel zu tun haben oder neue Gesichtspunkte wenigstens zur Kenntnis nehmen. Diesen Eindruck kann man bei den Äußerungen der Spitzenpolitiker zu Gaza nicht haben. Sie wiederholen mantra-artig, Israels Attacke sei gerechtfertigt, denn jeder Staat habe das Recht, sich gegen terroristische Attacken zu verteidigen. Dagegen richtet sich unser Protest: Wir wollen, dass unsere Politiker Vernunft annehmen.
Mich beschleicht bei solchen Politiker-Äußerungen ein Verdacht. Die meisten Deutschen waren in der Nazi-Zeit Mitläufer: Sie sahen das Unrecht an den Juden, aber sie taten nichts dagegen – weil sie mit ihren Wertevorstellungen in der Vergangenheit hängengeblieben waren und weil sie sich das tatsächliche Ausmaß des Unrechts nicht vorstellen wollten. Könnte es sein, dass diese Mitläufer-Mentalität die eigentliche Konstante in der deutschen Politik ist? Ich meine, ich lebe gerne in Deutschland, auch deswegen, weil heute ein ehrliches allgemeines Bedauern darüber zu spüren ist, was im deutschen Namen den deutschen und europäischen Juden angetan wurde. Aber ist es nicht ziemlich billig, die Schuld bei den eigenen verstorbenen Vorfahren zu belassen und auf Gedenktagen zu zelebrieren und gleichzeitig aktuelles Unrecht zu rechtfertigen? Ist das nicht Mitläufer-Mentalität?
Dazu kommt noch, dass Europa und insbesondere Deutschland Mitverursacher dieses Konflikts sind. Das Zarenreich drangsalierte seine jüdische Bevölkerung, das britische Empire richtete daraufhin eine jüdische Heimstätte in Palästina ein, das deutsche Reich vertrieb die Juden aus Europa oder brachte sie um. Wir, Europa, haben unser Minderheitenproblem nach Arabien exportiert und beschweren uns nun über den angeblichen Antisemitismus der Araber.
Glauben deutsche Politiker wirklich, es sei eine Wiedergutmachung der Ermordung meiner Verwandtschaft, dass nun Israel haltlos und bindungslos alles machen darf, was ihm so gerade einfällt? Es würde im Gegenteil Israel unendlich gut tun, wenn es aus seiner fantasierten Position, das ewige Opfer zu sein, herausgeführt würde und wie jeder andere Staat fest in das internationale Regelsystem eingebettet würde. Die EU sollte Israel daran messen, welche Fortschritte es bei der Beachtung von Völkerrecht und Menschenrechten macht. Und sie sollte darauf bestehen, dass es den Forderungen der Palästinenser nachkommt. Das heißt, dass die EU die andauernde Diskriminierung nichtjüdischer Israelis in Praxis und Gesetzgebung, die Militärdiktatur über das Westjordanland und seine Besetzung, die jahrelange Belagerung Gazas, verbunden mit periodischen Massenmorden an seinen Einwohnern, mit Sanktionen gegen Israel belegen muss. Statt Antisemitismus herbeizureden, sollten unsere Politiker und Medien mit ihrem Mitläufertum bei dem aktuellen Unrecht aufhören.
* Dieser Artikel erschien am 1. August 2014 auf der Meinungsseite der Frankfurter Rundschau. Der Autor hat ihn mit folgenden Worten verschickt:
"Liebe Freunde,
da viele in Deutschland meinen, Israels Gasa-Massaker habe mit Raketen der Hamas begonnen, habe ich die Meinungs-Seite der FR dafür benutzt (heute, 1.8.), die Entwicklung der Ereignisse nochmals im Zusammenhang darzustellen.
Mit separater mail leite ich einen Hilferuf aus Gasa weiter, von Martin Lejeune, einem deutschen Journalisten."
Hilferuf aus dem Gazastreifen
Martin Lejeune, Gaza Stadt, der 31. Juli 2014
Seit dem 22. Juli bin ich im Gazastreifen und ich kann einfach nicht
glauben, was hier passiert. Ich erlebe die schlimmsten Tage meines
Lebens. Alle Menschen in Gaza erleben die schlimmsten Tage ihres Lebens. Denn so massiv wie in dieser Wochen waren noch keine Angriffe auf Gaza. Hinter diesen Worten verbergen sich menschliche Tragödien. Die humanitäre Katastrophe in Gaza hat einen neuen Höhepunkt erreicht.
Der Krieg in Gaza ist ein Krieg gegen Zivilisten. Das sage nicht nur
ich, sondern auch die Menschen in Gaza und die Journalisten, mit denen
ich spreche, von denen einige so ziemlich sämtliche Kriege der letzten
zehn Jahre abgedeckt haben (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, etc…).
Was hier passiert, hat eine besondere Qualität.
Überall schlagen Raketen ein. In Wohnhäuser, in denen Familien leben,
in Moscheen, in denen Menschen beten. Am frühen Abend des 30. Juli
bombardierte ein F16-Kampfjet das Wohnhaus, das bis dahin schräg
gegenüber unseres Hauses stand. Wir saßen gerade auf dem Balkon als
die Rakete 50 Meter entfernt einschlug. Kurz zuvor hörte ich noch einen
Esel hysterisch wiehern, als ob er den Angriff schon ahnte und uns
warnen wollte.
Trümmer fliegen in schneller Geschwindigkeit gegen unsere Hausmauer und
verfehlen uns nur knapp. Wir sitzen plötzlich inmitten einer
Staubwolke. Der Staub bedeckt meine Brillengläser und meinen Laptop.
Der Staub knirscht zwischen meinen Zähen. Es dauert etwa eine halbe
Minute bis sich der Rauch legt. Jetzt sehe ich den Vater, mit dem ich
mich vorhin noch auf der Straße unterhalten habe, wie er sich mit
seinen Kindern hinter einem Bagger verschanzt, um Deckung zu finden,
falls ein zweiter Schlag folgt. Der Bagger steht auf einem Parkplatz
gegenüber unseres Hauses und gehört einem Baumunternehmer. Ich laufe
sofort zu den Trümmern des bombardierten Wohnhauses und sehe die
Verletzten. Ich habe die Familie schon mehrmals in unserer Straße
spazierengehen sehen. Ich filme mit meinem Handy wie die Rettungswagen
eintreffen und die Verletzten ins Krankenhaus bringen. Auf der Straße
liegen Steine, Scherben, umgekippte Strommasten.
Seit dem ich hier bin, wurden jeweils am hellichten Tag bei unbedecktem
Himmel und bei freier Sicht zahlreiche zivile Ziele bombardiert. Zum
Beispiel eine Mädchengrundschule der Vereinten Nationen in Beit Hanoun,
in der sich Hunderte Flüchtlinge aufhielten, und dies, obwohl die UN
zuvor die GPS-Koordinaten der Schule dem Generalkommando der
israelischen Streitkräfte durchgegeben hatte. Ich erinnere schon gar
nicht mehr die genaue Zahl der Toten und habe auch kein Internet, um es
zu recherchieren. Auch wurde auch ein Park im Schatti-Flüchtlingslager,
vor dessen Eingang acht Kinder spielten, die alle durch den Angriff
getötet wurden, bombardiert. Und am späten Nachmittag des 30. Juli
fielen der Bombardierung eines Marktes im Norden des Gazastreifens 17
Menschenleben zum Opfer. 160 Palästinenser wurden verletzt, die dort
gerade ihre Einkäufe erledigten. Diese Aufzählung an Massakern an der
Zivilbevölkerung ließe sich beliebig lang fortsetzen, da seit dem 8.
Juli bereits um die 1000 Zivilisten getötet wurden. Ich kann nicht
verstehen, weshalb die israelischen Streitkräfte so etwas tun. Weshalb
werden offenbar gezielt zivile Ziele und große Menschenansammlungen
bombardiert? Die genaue Kenntnis der zu attackierenden Ziele dürfte
durch die allgegenwärtigen Aufklärungsdrohnen, die gestochen scharfe
Bilder liefern, vorhanden sein. Weshalb töten die Bomberpiloten immer
wieder vorsätzlich Frauen und Kinder? Welchen ethischen Maßstäben
folgen diese Herren der Lüfte über Leben und Tod? Sie sitzen in den
modernsten Kampfjets, die jemals entwickelt wurden und brüsten sich mit
"zielgenauen Schlägen". Daß in einem Krieg Soldaten Soldaten töten
müssen, ist durch das Völkerrecht legitimiert, aber Zivilisten gezielt
zu attackieren, so wie die Familie in unserem Nachbarhaus, die Kinder im Park, die Flüchtlinge in der UN-Schule, das ist rechtlich durch keine Kriegsordnung gedeckt. Die Menschen im Gazastreifen fragen sich, weshalb deutsche und westeuropäische Regierungschefs diese Verstöße gegen internationale Konventionen nicht scharf verurteilen. Das sind
Kriegsverbrechen, die hier jeden Tag im Gazastreifen durch die
israelischen Streitkräfte verübt werden.
Auch Krankenhäuser, ein Wasserwerk und das einzige Kraftwerk des
Gazastreifens wurden bombardiert. In unserem Viertel im Zentrum von Gaza Stadt, das "Beverly Hills" genannt wird und bis vor drei Wochen noch über eine ziemlich intakte Infrastruktur verfügte, hat niemand mehr fließendes Wasser. Wir waschen uns mit Wasser aus Plastikflaschen, die wir im Tante-Emma-Laden um die Ecke kaufen. Wir haben seit der Nacht auf den 29. Juli, in der das Kraftwerk bombardiert wurde, keinen Strom und kein Internet mehr. Das Festnetztelefon ist tot. Das Handy ist das einzige Kommunikationsmittel, das noch funktioniert, was natürlich auf Dauer sehr kostspielig ist. Diesen Text schreibe und versende ich im Al Deira Hotel, das über einen eigenen Generator verfügt und in dem die französische Nachrichtenagentur AFP ihr eigenes WLAN-Netz hat.
Es gibt kein Brot mehr im Gazastreifen. Es gibt nirgendwo mehr Brot zu
kaufen. Wir essen das Brot, das die Ehefrau meines Gastgebers Maher zu
Hause bäckt im Innenhof unseres Hauses in einem selbstgebauten Ofen,
den sie mit Holzkohle befeuert. Wir tunken das Brot in Olivenöl und
Za'tar, eine Paste aus Thymian, Sesam und Salz. Das essen wir jeden Tag.
Selbst wenn es noch Brot zu kaufen gäbe, hätten wir kein Geld, um es
bezahlen zu können. Seit Beginn des Krieges gibt es kein Bargeld mehr
an den Geldautomaten, sind die Banken geschlossen, wurde das
Finanzministerium komplett zerstört, funktionieren EC- und Kreditkarten
nicht mehr. Wenn wir Mehl und Öl kaufen gehen im Laden um die Ecke,
lassen wir anschreiben, so wie das alle derzeit tun müssen.
Es gibt kein öffentliches Leben mehr im Gazastreifen. Alle Behörden
und Büros, fast alle Geschäfte und Restaurants sind geschlossen. Die
Menschen gehen nur aus dem Haus, falls unbedingt nötig. Die Strände
und Parks sind menschenleer. Die letzten vier Kinder, die am Strand
Fußball spielten, sind von einer israelischen Rakete getötet worden.
Es war kein Hamas-Kämpfer oder Raketenabschußrampen in der Nähe,
berichteten Augenzeugen übereinstimmend.
Ich wohne in einem zweistöckigen Haus um die Ecke der am 29. Juli
zerbombten Al Amin Moschee. Zehn Menschen lebten in dem Haus, bevor der
Krieg begann. Jetzt sind es 70, die sich die zwei Wohnungen im Haus
teilen. Meine Gastgeber haben 60 Flüchtlinge aus dem Norden des
Gazastreifens, der dem Erdboden platt gemacht wurde, bei sich
aufgenommen. Die Männer müssen im Hauseingang und im Hausflur
schlafen, die Wohnungen sind den Kindern und Frauen vorbehalten. Auf so
engem Raum mit fremden Menschen zusammen zu leben und nebeneinander zu
schlafen ist für alle nicht leicht und Privatsphäre gibt es gar keine.
Auch liegen die Nerven blank nach dreieinhalb Wochen Dauerbombardement,
von dem ich ja nur anderthalb Wochen mitbekommen habe. Trotzdem
verhalten sich alle 70 Bewohner der zwei Wohnungen immer ruhig und
rücksichtsvoll, sind solidarisch und teilen das wenige miteinander, was
sie noch haben: das selbstgebackene Brot, den Handy-Akku, die letzte
Zigarette, ein Stück Seife zum Waschen. Ich war gestern in einem
Kindergarten in unserem Viertel, in dem nachts 80 Menschen pro
Gruppenraum schlafen.
Palästinenser sind so schlau wie die Libanesen, intelligent wie die
Iraker, starke Kämpfer wie die Algerier und gastfreundlich wie die
Syrer. Vielleicht ist es diese Vielzahl an guten Eigenschaften, die es
den Menschen in Gaza ermöglicht, mit dieser schweren Situation
umzugehen ohne zu resignieren. Trotz seit dreieinhalb Wochen anhaltender Bombardierung aus der Luft, zu See und zu Land spielen die Kinder noch tagsüber auf der Straße, singen die Frauen beim Brotbacken noch ihre Lieder, leisten die Männer noch immer Widerstand. Maher, mein
Gastgeber, erklärt: "Unseren Willen zu leben und zu kämpfen, können
keine Raketen und Granaten brechen."
Teilweise abgedruckt in "neues deutschland" vom 2. August 2014 ("Wir essen das Brot aus selbstgebauten Öfen")
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