Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Raketen unter Betten der Kinder?

Israels Regierenden fällt es immer schwerer, den Sinn des Gaza-Krieges zu erklären

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Zum Ende des Fastenmonats Ramadan hat es für die Menschen im Gaza-Streifen kaum Entspannung gegeben; eine informelle Waffenruhe währte nur kurz. Und nun streiten sich auch die Vermittler.

»Mama, hat da überall die Hamas gewohnt?«, ruft der Junge, um die acht. Im Fernseher, der in wohl nahezu jedem israelischen Café hängt, zeigen sie gerade Satellitenbilder eines Stadtteils von Gaza: vorher und nachher. Intakt. Und zu einem großen Teil verwüstet. Das Militär will damit vermutlich der Öffentlichkeit zeigen, dass der Militäreinsatz erfolgreich ist. Denn einer Umfrage zufolge sind zwar 86 Prozent der Israelis gegen einen Waffenstillstand. Aber nur rund 24 Prozent sind der Ansicht , dass die Operation gute oder sehr gute Erfolge erzielt hat.

Das ist kein Wunder: Die Zustimmung zu Militäreinsätzen ist in Israel immer hoch, während sie am Laufen sind. Denn jeder, der gedient hat, hat vom ersten Tag der Grundausbildung an beigebracht bekommen, dass man Politik in der Knesseth macht und dass nur totale militärische Überlegenheit das Ziel erreicht. Auch dieser Junge im Café wird dies wahrscheinlich einmal beigebracht bekommen.

Doch im Moment gehört er zu jenen Kindern und Jugendlichen, die tagtäglich Bilder von flüchtenden Menschen mitbekommen, die Sirenen hören und manchmal auch einen Raketeneinschlag. In den Schulen würden momentan sehr oft kritische Fragen gestellt, berichtet die Lehrergewerkschaft, deren Mitglieder den Schülern den Sinn des Krieges erklären sollen, ohne Hass zu schüren, so die Richtlinien. »Die Hamas versteckt Tunnel und Raketen unter den Betten der Kinder«, sagt die Mutter im Café und putzt dem Kleinen Schokolade vom Mund. Der erwidert: »Aber muss die Armee den Kindern dann nicht helfen?«

Die nur 24 Prozent, die an den Erfolg glauben, machen auch den Politstrategen in Jerusalem Sorgen. Denn dort weiß man: Ziemlich bald werden die kritischen Fragen auch von viel mehr Erwachsenen gestellt werden als jenen, die am Samstagabend in Tel Aviv demonstriert haben. Anderen Umfragen zufolge lehnen vor allem so viele Israelis einen Waffenstillstand ab, weil sie keine vernünftigen Ansätze für eine diplomatische Lösung sehen. 53 Prozent bezweifeln, dass die Ziele des Krieges überhaupt umsetzbar sind. Bislang beschränken sich Regierung und Militär auf eine verwirrende Serie aus Waffenstillständen und Kämpfen, die eher aus der Not heraus geboren sind. Denn am Montag ging mit dem Feiertag Eid al-Fitr der Ramadan zu Ende. Das gesamte Wochenende über bemühten sich Vermittler aus aller Welt, beide Seiten dazu zu bewegen, für die Zeit des Festtages eine humanitäre Feuerpause einzulegen. Doch mal wollte die eine Seite nicht, dann die andere. Am Ende schaffte man es in der Nacht zum Sonntag und einige Stunden am Montag zumindest, das Feuer einzudämmen. Israels Soldaten wurden angewiesen, nur im Falle von Angriffen zu schießen; von Seiten der Essedin-al-Kassam-Brigaden wurden nur vereinzelt Raketen abgeschossen, auf die Israel dann mit Artilleriefeuer reagierte.

Dass man sich nicht einmal auf eine humanitäre Waffenruhe einigen kann, die länger als ein paar Stunden hält, liegt daran, dass es derzeit nicht nur keinen Vermittler gibt, der für beide Seiten akzeptabel ist – die betreffenden Regierungen sind auch untereinander zerstritten.

So wirft die Hamas Ägypten vor, auf Seiten Israels in den Krieg einzugreifen, während Israel auf eine Initiative Ägyptens als Verhandlungsgrundlage besteht: Erst soll das Feuer eingestellt, dann geredet werden. Die Hamas hingegen besteht auf einem Vorschlag Katars und der Türkei, der die Erfüllung von Forderungen beider Seiten im Austausch für eine Waffenruhe vorsieht, was Israel aber ablehnt, und sowohl Kairo als auch die palästinensische Regierung aufgebracht hat. Dort wirft man den beiden Regierungen vor, sie seien Ägypten und Ramallah in den Rücken gefallen; man fühlt sich marginalisiert.

Noch größer wurde der Ärger, als US-Außenminister John Kerry am Freitag einen Vorschlag vorlegte, der auf der Doha/Ankara-Initiative aufbaut. Israels Sicherheitskabinett lehnte die Vorlage einstimmig ab; Regierungschef Benjamin Netanjahu nannte den Vorstoß »inakzeptabel«. Berater des Premiers warfen Kerry zudem »Realitätsverlust« vor. Am Sonntag meldete sich deshalb Präsident Barack Obama telefonisch bei Netanjahu, nannte das Verhalten »beleidigend«. Ein Waffenstillstand, der die langfristigen Bedürfnisse Gazas mit einbezieht, sei ein strategischer Imperativ, so das Weiße Haus. Israel müsse die Auswirkungen des Einsatzes stärker berücksichtigen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. Juli 2014


Hoffen auf Waffenruhe

UN-Sicherheitsrat fordert Ende des Krieges in Gaza

Von Karin Leukefeld **


In einer einstimmig verabschiedeten Erklärung [pdf, externer Link] haben die 15 Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrates in der Nacht zum Montag einen »sofortigen und bedingungslosen humanitären Waffenstillstand« im Gazastreifen gefordert. Der Schutz der Zivilbevölkerung müsse gewährleistet und das Völkerrecht respektiert werden, verlangte das Gremium in der rechtlich nicht bindenden Erklärung. »Alle Parteien« seien dringend aufgefordert, die Waffen »während des Eidfestes und darüber hinaus« ruhen zu lassen. Muslime in aller Welt feiern mit dem Eid-Al-Fitr-Fest das Ende des Fastenmonats Ramadan.

Die »Präsidialerklärung« war von Jordanien vorgelegt worden. Der palästinensische UN-Vertreter Rijad Mansour zeigte sich nach der Sitzung allerdings enttäuscht darüber, daß der Text nicht als bindende Resolution beschlossen werden konnte. Es sei weder der Abzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen noch die Aufhebung der Belagerung gefordert worden. Mansour erinnerte an die »Realität in Gaza heute« mit »mehr als 1000 Toten, darunter viele Kinder, mehr als 6000 Verletzte, Tausende zerstörte Wohnungen und Häusern, Hunderttausende Vertriebene ohne die grundlegenden Dinge, die man zum Leben braucht«. Demgegenüber bemängelte Israels UN-Botschafter Ron Prosor, daß der Sicherheitsrat weder die Hamas noch das »Recht Israels, sein Volk zu verteidigen, « erwähnt habe. Sein Land sei es leid, als »einzige Demokratie im Mittleren Osten« dämonisiert zu werden, so Prosor. Mit »Hunderten Milliarden Dollar von euren Regierungen« habe die Hamas »Terrortunnel« gebaut, die »vor den Haustüren unserer Kibbuzim« endeten. Mehr als 2000 Raketen habe die Hamas willkürlich auf »unsere Kindergärten, Häuser, Schulen, Fabriken, Büros« abgefeuert, die »in unseren Wohnzimmern, Küchen und Schlafzimmern unserer Kinder« einschlügen. »Jede Rakete, die aus Gaza abgeschossen wird, könnte die Inschrift tragen: ›Gefördert durch Teheran‹. Jeder Terrortunnel kann die Inschrift tragen: ›Gefördert durch eine freundliche Gabe des Emirs von Katar‹.«

Am Montag stoppte die israelische Armee offenbar den Beschuß des Gazastreifens. Unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten »Insider« meldete die Nachrichtenagentur Reuters, die Feuereinstellung sei »unbeschränkt«. Allerdings setzte die Armee nach eigenen Angaben die Zerstörung von Tunnelanlagen fort. Die palästinensische Nachrichtenagentur Maan News berichtete, daß am frühen Montag nachmittag zwei Palästinenser durch israelisches Artilleriefeuer getötet worden seien, darunter ein Kind. Sieben weitere Todesopfer wurden aus Trümmern des Dorfes Khuzaa im südlichen Gazastreifen geborgen. Die Al-Qassam-Brigaden der Hamas feuerten Granaten auf israelische Soldaten ab.

US-Präsident Barack Obama hatte sich am Sonntag in einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu besorgt über die hohe Zahl der Opfer und die humanitäre Lage in Gaza gezeigt. Gleichzeitig bekräftige Obama das Recht Israels auf »Selbstverteidigung« und verurteilte die Angriffe der Hamas. Bewaffnete Gruppen im Gazastreifen sollten entwaffnet und das Küstengebiet zu einer entmilitarisierten Zone werden, unterstützte Obama eine Forderung der israelischen Regierung. Dagegen warnte die linke Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) vor einer einseitigen Abrüstung der Palästinenser. »Die Waffen des Widerstandes werden niemals Gegenstand von Verhandlungen sein, solange auch nur ein Meter palästinensischen Bodens noch besetzt ist oder Siedlungen dort sind«, sagte DFLP-Führer Saleh Zeidan.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Juli 2014


Ziel ist die Zerschlagung

»Israel leidet«, sagt Armeesprecher Shalicar ***

Major Arye Sharuz Shalicar ist Pressesprecher der Israelischen Streitkräfte (IDF). Shalicar ist deutscher Schriftsteller, 2001 wanderte er nach Israel aus. Martin Lejeune befragte ihn.

Wer sagt die Wahrheit in diesem Krieg, die IDF oder die Hamas?

Beide. Hamas-Sprecher Sami Abu Zuhri sagte offen auf Al-Aqsa TV, dass der Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde gegen unsere Luftangriffe auf Abschussrampen und Waffenlager der Hamas ein legitimes Mittel sei. Unsere Seite ist bemüht, größtmögliche Transparenz für Zivilisten und Journalisten zu schaffen. Unter anderem, indem wir über warnende Flugblätter und SMS unser militärisches Vorgehen im Vorfeld offenlegen und die Grenze zwischen Israel und dem Gaza-Streifen für humanitäre Zwecke und Reporter offen halten.

Weshalb tötet die IDF in diesem Krieg – nach Angaben der UN-Organisation OCHAoPt – vorrangig Zivilisten, unter ihnen mindestens 200 Kinder?

Die Israelischen Verteidigungskräfte sind die einzige Partei in diesem Konflikt, die den Status von internationalen Organisationen respektiert. Wir bemühen uns nach bestem Gewissen, Schaden von diesen abzuwenden und zivile Opfer zu vermeiden. Im Gegensatz zur Terrororganisation Hamas, die deren Gebäude als Waffenlager benutzt und unschuldige Zivilisten, zu unser aller Schrecken leider auch Kinder, als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Worin besteht das Ziel der IDF und ihrer militärischen Handlungen?

Das Ziel der Israelischen Verteidigungskräfte ist es, den Frieden und die Sicherheit für die israelische Zivilbevölkerung wiederherzustellen. Sie leidet unter dem wahllosen Dauerbeschuss mit Raketen und lebt mit der Gefahr, von Terroristen, die aus Tunneln kommen, im eigenen Land ermordet und entführt zu werden.

Hat die IDF das Ausmaß der Tunnelsysteme unterschätzt und braucht daher nun mehr Zeit als vermutet für die Militäraktion?

Wir waren uns im Klaren, dass die Hamas fortwährend bemüht war, ein immer weiter ausgeklügeltes und verzweigtes Tunnelnetz zu schaffen für Waffenschmuggel und Terrorvorhaben wie Mordanschläge und Entführungen. Bisher haben wir über 30 solcher Tunnel offengelegt und fast 40 Prozent des Raketenarsenals der Hamas zerstört. Wir haben über 240 Terroristen ausgeschaltet. Über die Dauer der Operation entscheidet unsere politische Führung. Wir als Armee unterstützen die Regierung in ihrem Ziel, die Infrastruktur der Hamas zu zerschlagen und dauerhafte Sicherheit für die israelische Bevölkerung zu schaffen.

Hat die IDF so viel Widerstand erwartet?

Die Israelischen Verteidigungskräfte waren auf den Widerstand vorbereitet, den man von einer Terrororganisation wie der Hamas erwarten kann, die jahrelang enorme finanzielle Mittel in den Aufbau ihrer Strukturen und Waffenlager gesteckt hat.

[Gaza-Blog des Autors auf www.martin-lejeune.tumblr.com ]

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. Juli 2014


Zurück zur Gaza-Seite

Zur Gaza-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Israel-Seite

Zur Israel-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage