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Hoher Preis für nichts

Hintergrund: Die Hamas und die palästinensische Linke nach dem jüngsten Gaza-Krieg

Von Gerrit Hoekman *

Seit dem 26. August hält nun schon der Waffenstillstand in Gaza. Doch wie lange noch? Am Dienstag vergangener Woche flog zumindest wieder die erste Granate auf israelisches Gebiet, allerdings ohne Schaden anzurichten. Die islamistische Hamas beteuerte umgehend ihre Unschuld und gab vor, nicht zu wissen, wer hinter dem Beschuß steckt. Sie fühle sich jedenfalls weiter dem Waffenstillstand verpflichtet. »Wir haben der Hamas klargemacht, daß sie nach ihren Taten beurteilt wird, nicht nach ihren Worten«, sagte ein israelischer Offizieller gegenüber der Presse. »Wenn die Hamas keine harte Hand zeigt bei Waffenstillstandsbrechern, dann sind wir zum Handeln gezwungen.« Die Warnung wirkte: Noch am selben Abend teilte die palästinensische Vereinigung der israelischen Regierung über Dritte mit, daß die Täter hinter Schloß und Riegel seien. Angeblich soll es sich um zwei Salafisten handeln, berichtete die Tageszeitung Ash-Sharq al Awsat am 18. September.

Handzahme Islamisten

Die Islamische Widerstandsbewegung, wie Hamas ausgeschrieben heißt, zeigt sich im Moment recht handzahm. Das brutale Dauerbombardement der israelischen Armee auf Gaza hat bei den Fundamentalisten ganz klar Spuren hinterlassen, auch wenn die Hamas den Waffenstillstand als Sieg feierte. Über 5000 Ziele hatte Israel nach eigenen Angaben angegriffen und dabei weder Rücksicht auf Zivilisten noch auf den anhaltenden internationalen Protest genommen. Im Gegenzug feuerte die Hamas rund 4600 Raketen und Granaten auf Israel. Während die israelischen Bomben jedoch verheerenden Schaden anrichteten, der Gaza um Jahre zurückgeworfen hat, verpufften die palästinensischen Attacken fast wirkungslos.

Alleine schon die nackte Zahl der Opfer spricht Bände über das Kräfteverhältnis in diesem Krieg: Über 2000 Toten in Gaza (die meisten von ihnen Frauen und Kinder) stehen 70 gestorbene Israelis gegenüber, darunter sechs Zivilisten. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dann hat ihn der 50-Tage-Krieg geliefert: Militärisch ist Israel nicht beizukommen, seitdem es über das mobile Luftabwehrsystem »Iron Dome« verfügt, ganz sicher nicht mit selbstgebastelten Geschossen vom Typ Kassam. »Die Palästinenser sollten sich ernsthaft die Frage stellen, ob es wirklich Sinn macht, daß die Hamas weiter nutzlose Raketen ziellos in Richtung Israel feuert, wenn der Preis dafür ein so hohes Maß an Zerstörung in Gaza ist«, kommentierte das der konservativen, islamischen Gülen-Bewegung nahestehende Deutsch-Türkische Journal am 19. September.

Niemand weiß, wieviel ihres Pulvers die Hamas im Sommer verschossen hat. Beobachter glauben, das Waffenarsenal der religiösen Fundamentalisten habe sich deutlich gelichtet und die Verluste unter den Kämpfern seien erheblich. Bestätigen läßt sich das nicht, denn die Hamas macht darüber keine Angaben. Nicht verheimlichen konnte die Organisation aber den Tod von drei Kommandanten ihres bewaffnenten Arms, den Kassam-Brigaden, die Israel gezielt umgebracht hat. Ein herber Schlag gegen die militärischen Strukturen der Islamisten.

Spätestens während der letzten Angriffswelle auf Gaza, der heftigsten, dürfte der Hamas-Führung klar geworden sein, daß sie eine Fortsetzung des Waffengangs nicht mehr lange durchhält und sie jeder weitere verlustreiche Tag auch innenpolitisch schwächt. Ihre Herrschaft über Gaza gründet sich nämlich zu einem guten Teil auf die militärische Dominanz gegenüber den anderen palästinensischen Gruppen. Von dieser Überlegenheit macht sie immer wieder Gebrauch, wenn es darum geht, politische Gegner einzuschüchtern. Die Hamas ist dabei nicht zimperlich, das zeigte die öffentliche Hinrichtung von mehreren Palästinensern, die angeblich mit Israel kollaboriert haben sollen. Sie waren von Schnellgerichten zum Tode verurteilt worden.

Unerfüllte Forderungen

Die Hamas-Führer hatten während des sieben Wochen langen Kriegs um Gaza vollmundig und unverdrossen angekündigt, die Waffen erst dann niederlegen zu wollen, wenn Israel die Blockade über den Gazastreifen komplett aufheben werde. Davon aber ist im Waffenstillstandsabkommen, das Palästinenser und Israelis bei indirekten Verhandlungen in Kairo geschlossen haben, nicht die Rede. Israel stimmt darin zwar zu, weitere Grenzübergänge für den Warenverkehr zu öffnen und auch die Einfuhr von Baumaterial zu erlauben, solange es zivilen Zwecken dient. Ägypten will außerdem den Grenzposten in Rafah erneut in Betrieb nehmen. Bauern dürfen wieder bis zu 100 Meter an den Grenzzaun zu Israel heran, um ihr Land zu bestellen, 200 Meter näher als bisher. Außerdem wird die Fischereizone vor der Küste von fünf auf sechs Seemeilen erweitert. Später irgendwann sollen es sogar einmal zwölf Seemeilen sein.

Inshallah, bukra, mumkin, so Gott will, morgen, kann sein – das Abkommen von Kairo ist voll von hehren Absichtserklärungen. Praktisch scheint es schon bei der Umsetzungen kleiner Veränderungen zu hapern. Palästinensische Fischer etwa berichten gegenüber dem arabischen Onlineportal Al-Monitor, daß Israel sie nach wie vor daran hindert, weiter hinauszufahren als vor dem Krieg. Ein 200 Meter breiter Streifen Land und vielleicht eine Seemeile weiter hinauszufahren aufs Meer – so viel mehr an Freiheit hat der verlustreiche Waffengang den Palästinensern also bis jetzt de facto gebracht. Die weite Welt, die die Hamas den Einwohnern von Gaza versprochen hatte, ist das nicht.

Die beiden wichtigsten Forderungen der Hamas bleiben nämlich bis auf weiteres unerfüllt: Der seit 14 Jahren geschlossene Jassir-Arafat-Flughafen bleibt bis auf weiteres zu, und es werden auch erst einmal keine Handelsschiffe an der Mole von Gaza festmachen. Erst wenn das sich ändert, wird man berechtigterweise von einem Ende der Blockade sprechen können. In der Angelegenheit, die der direkte Auslöser des Konflikts war, hat die Hamas bis jetzt auch nichts erreicht: Israel weigert sich nach wie vor, 300 palästinensische Gefangene freizulassen, die im Zuge der Fahndung nach den Mördern von drei jüdischen Jungen auf der Westbank verhaftet wurden.

»Mehr war nicht drin«, gibt Musa Abu Marzouk, stellvertretender Hamas-Chef, in einem Interview mit dem Onlinemagazin Al-Monitor vom 15. September einigermaßen kleinlaut zu. »Wenn wir unsere Ziele nicht heute erreichen können, dann werden wir einige von ihnen morgen erreichen.« Die Hamas-Führung hat angekündigt, die Waffen ruhen zu lassen, auch wenn es mit der Umsetzung des Abkommens zuweilen haken sollte. »Gerüchte über eine Wiederaufnahme der Kämpfe sind ein Versuch, die Dinge zu verkomplizieren«, sagte ein Hamas-Offizieller ebenfalls gegenüber Al-Monitor.

Im Hamas-eigenen TV-Sender Al-Quds schloß Abu Marzouk sogar direkte Verhandlungen mit Israel nicht mehr aus – bislang ein absolutes No-Go bei den Fundamentalisten. »Bis jetzt war unsere Politik, nicht mit Israel zu verhandeln. Aber wir reden da über etwas, das nach der Scharia nicht verboten ist«, stellte Abu Marzouk am 11. September in einem Interview mit BBC-Arabic fest. Die Scharia, das islamische Gesetz, ist bei der Hamas praktisch die Grundlage allen Tuns.

Für die zahlreichen Falken in der Islamischen Widerstandsbewegung grenzen solche Gedanken an Blasphemie. Ismail Al-Ashqar, Abgeordneter der Hamas im Palästinensischen Legislativrat, dem Parlament, und Vorsitzender des Innenausschusses, drohte einen Tag zuvor in der arabischen Presse damit, den Krieg fortzusetzen, falls Israel die Blockade über den Gazastreifen nicht komplett aufhebt. Die Einheizer können beruhigt sein: Bis Vertreter der Hamas und Israelis gemeinsam an einem Tisch sitzen, wird vermutlich noch viel Wasser im Toten Meer verdunsten. Denn Tel Aviv hat ebenfalls zwei hohe Hürden für die Aufnahme direkter Gespräche aufgestellt. Die Hamas muß das Existenzrecht des jüdischen Staats anerkennen und dem bewaffneten Kampf abschwören. Zwei Bedingungen, die – würden sie erfüllt – wahrscheinlich im Moment zur Spaltung der Islamischen Widerstandsbewegung führten.

Die Hamas räumt inzwischen sogar indirekt ein, daß sie Raketen aus Wohngebieten abgefeuert hat. »Die Israelis behaupten weiterhin, daß Raketen aus Schulen oder Krankenhäusern abgefeuert wurden, wenn sie in Wirklichkeit 200 bis 300 Meter entfernt waren«, sagte der hochrangige Hamas-Politiker Ghazi Hamad gegenüber der Nachrichtenagentur AP am 12. September. »Gaza, von Beit Hanun im Norden bis nach Rafah im Süden, ist eine ununterbrochene urbane Kette, die Israel zur Kriegszone gemacht hat.« Soll heißen: Es gibt keine freien Flächen in Gaza, von denen aus Raketen ohne nachträgliche Gefährdung der Zivilbevölkerung abgefeuert werden können. Schon während des Kriegs gaben zahlreiche internationale Journalisten an, gesehen zu haben, wie die Hamas ihre Abschußrampen in dicht bewohnten Stadtvierteln in Stellung brachte.

Im Kampf gegen Assad

Die politischen Gegner innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung trauen dem Braten nicht. Sie wittern hinter den moderaten Tönen einiger Funktionäre der Islamisten einen perfiden Plan: »Die Hamas hat ihr Vorhaben noch nicht aufgegeben, die PLO zu ersetzen«, glaubt ein hohes Mitglied der Fatah von Mahmud Abbas, dem palästinensischen Präsidenten. Zur Erinnerung: Im Gegensatz zu den radikalen Organisationen der Linken wie der Volksfront und der Demokratischen Front ist die Hamas bis heute kein Mitglied der PLO.

Die Islamisten gefährdeten mit ihrer Haltung gegenüber dem Rest des palästinensischen Widerstands die nationale Einheit, kritisierte das Politbüromitglied der marxistisch-leninistischen Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), Moatasem Hamadeh. »Die Hamas muß endlich wählen: Palästina oder die Muslimbruderschaft«, wetterte er Anfang des Jahres auf der Homepage der DFLP. Es sei bekannt, daß die Hamas in Ägypten mit den Muslimbrüdern von Mohammed Mursi kooperiere. Ihre in Kairo lebenden Mitglieder hätten sich sogar an militanten Aktionen gegen die ägyptische Regierung beteiligt. Die Folge: Der neue ägyptische Präsident Abd el-Fattah as-Sisi erklärte neben den Muslimbrüdern auch die Hamas zur Terrororganisation.

Als palästinensische Filiale der Muslimbrüder sei Hamas offenbar stärker religiösen Zielen verpflichtet als dem Befreiungskampf der Palästinenser, glaubt Hamadeh. Durch ihre Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer arabischer Staaten bringe sie die Palästinenser immer wieder in große Schwierigkeiten. Zum Beispiel auch in Syrien, was die Genossen der Demokratischen Front besonders ärgert, denn die Hamas hat sich auch dort eindeutig auf die Seite der stark islamisch geprägten Rebellen gegen Baschar Al-Assad gestellt. »Es ist kein Geheimnis, daß die Hamas mit den Militanten in Yarmuk verbunden ist und sie mit allem Notwendigen versorgt«, sagte Hamadeh.

Yarmuk ist das größte palästinensische Flüchtlingslager in Syrien und liegt am Stadtrand von Damaskus. Als der Bürgerkrieg ausbrach, wollten sich viele Palästinenser neutral verhalten, ob es die Mehrheit war, ist schwer zu sagen. Die politischen Organisationen unterstützten diesen Wunsch jedenfalls einvernehmlich. Die Auseinandersetzung sei eine innere Angelegenheit der Syrer, so der Tenor. Die Palästinenser riefen die Konfliktparteien auf, die Neutralität zu achten und die Flüchtlingslager nicht zum Schlachtfeld zu machen. Ein frommer Wunsch.

Es dauerte nicht lange, da drangen die ersten Rebellen in Yarmuk ein und provozierten eine Reaktion der syrischen Armee. Das Lager war gespalten. Plötzlich gingen Anhänger der überwiegend islamistischen Aufständischen und Sympathisanten der syrischen Regierung aufeinander los. Palästinenser schossen auf Palästinenser. Ohne an den Kämpfen direkt teilzunehmen, stellte sich die Hamas eindeutig gegen Baschar Al-Assad. »Diese Haltung hat die palästinensische Einheit geschwächt«, fand Moatasem Hamadeh. Das Lager ist inzwischen einer der grausamsten Kriegsschauplätze in Syrien. Seit einem Jahr belagert die syrische Armee den Stadtteil, in dem sich islamische Fundamentalisten verschanzt haben. Der Stadtteil ist zwischen islamistischen Rebellen und der syrischen Armee hart umkämpft. Seit über einem Jahr sind die noch verbliebenen 18000 Bewohner eingeschlossen und werden nur durch die UNRWA notdürftig versorgt. »Die Lage dort ist hoffnungslos«, sagt das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen in einem Lagebericht am 18. September. Vor dem Krieg hatten weit mehr als 100000 Menschen dort gelebt. Das Viertel liegt weitgehend in Schutt und Asche.

Das Regime in Damaskus hat Hamas-Führer Khalid Meshaal, dem es lange Unterschlupf gewährte, 2012 des Landes verwiesen. Er lebt nun in Qatar, was nicht nur ein Wohnortwechsel ist, sondern auch, zumindest vorläufig, eine neue politische Orientierung anzeigt. Bis dahin war die sunnitische Hamas Teil eines Vierer-Bündnisses mit dem säkularen Syrien, dem schiitischen Iran und der ebenfalls schiitischen Hisbollah-Miliz aus dem Libanon. Ein in der Tat ungewöhnliches Quartett, das durch gemeinsame Interessen zusammengehalten wurde. Der Bruch mit Baschar Al-Assad hat auch die Kooperation mit dem Iran und der Hisbollah beendet, die weiterhin in Treue fest die syrische Regierung unterstützen. Allerdings hat es während des Gaza-Kriegs wieder eine leichte Annäherung zwischen dem Iran, der Hisbollah und der Hamas gegeben. Man spricht zumindest wieder miteinander.

Acht vergeudete Jahre

Qatar ist jetzt der neue Mäzen der palästinensischen Islamisten. Die Herrscherfamilie unterstützt mit ihren Petrodollars seit geraumer Zeit in der ganzen arabischen Welt islamistische Bewegungen. Sie hat deshalb erheblichen Anteil daran, daß sich der sogenannte arabische Frühling zu einem reaktionären Winter entwickelt hat, in dem radikale Kleriker immer stärker versuchen, die Gesellschaft mit ihren rigiden religiösen Regeln zu knechten. Für den Generalsekretär der Demokratischen Front, Nayef Hawatmeh, ist die Hamas vom selben Schlag. »Unter der Verwaltung der Hamas gibt es nun rechtliche Änderungen zur Einführung von Bestrafungen, wie Auspeitschen, Abschlagen von Händen und Stockschlägen für Frauen«, klagte der DFLP-Chef im März in einem Interview mit der Onlineseite kommunisten.de. Die Hamas sei in Gaza dabei, die Gleichberechtigung von Frauen zu beseitigen.

Während Hamas-Chef Meshaal im kommoden Qatar auf weichen Kissen sitzt, harrt Nayef Ha­watmeh in Damaskus aus. Weil Israel ihm vorwirft, früher bei Terroranschlägen die Fäden gezogen zu haben, hat der bald 79jährige Einreiseverbot für Palästina. Letztes Jahr geriet er auf dem Weg in sein Büro in der Damaszener Innenstadt in einen Bombenanschlag, bei dem über 30 Menschen starben. Nayef Hawatmeh hatte Glück, er wurde nur leicht verletzt, als ihn Glassplitter trafen. Jahrzehntelang hat die Ga­lionsfigur der palästinensischen Revolution die sozialistische Fahne hochgehalten, jetzt muß er fast tatenlos mitansehen, wie überall im Nahen Osten islamistische Extremisten die hart erkämpften Freiheiten kurzerhand wieder einkassieren. Auch in Palästina. »Solche Schritte werden die Trennung zwischen Gaza und dem Westjordanland weiter vertiefen, sie werden einen gewaltigen Riß im palästinensischen politischen System erzeugen. Nun wird es zwei Systeme geben: eines davon basiert auf konfessionell-religiöser Ideologie«, warnte Hawatmeh auf kommunisten.de. Seiner Meinung nach ist die Hamas vor acht Jahren nur durch einen »Militärputsch in Gaza« an die Macht gekommen. »Acht vergeudete Jahre«, findet der Generalsekretär.

Nun sitzt Hawatmeh weit weg von Gaza, wo seine Genossen in der DFLP die Dinge eben so nehmen müssen, wie sie sind: Die Hamas hat das Sagen. Deshalb bleibt der Demokratischen Front nicht viel mehr übrig, als die militärische Zusammenarbeit mit den anderen Organisationen zu loben. »Der Widerstand hat die Landblockade über Gaza erfolgreich überwunden und ist in das Herz israelischer Stellungen gedrungen«, feierte sie auf ihrer Onlineseite den Gaza-Krieg. »Der palästinensische Widerstand hat sich auf dem Schlachtfeld vereinigt.«

Im allgemeinen Medienhype um die Hamas ist hierzulande komplett untergegangen, daß auch linke Gruppen an vorderster Front gegen Israel kämpften. Neben den Nationalen Widerstandsbrigaden der DFLP beispielsweise auch die Abu-Ali-Mustafa-Brigaden der marxistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas. Die DFLP mußte dabei einen besonders schweren Verlust hinnehmen: Bei einem Bombenangriff auf Khan Yunis im südlichen Teil des Gazastreifens am 30. Juli starb Wadah Abu Amer, einer der führenden Köpfe der Demokratischen Front in Gaza. Auch seine Frau und seine fünf Söhne im Alter zwischen vier und zwölf Jahren kamen um, als ein mehrstöckiges Mietshaus einen Volltreffer erhielt und komplett einstürzte. Die Demokratische Front spricht von einem gezielten Anschlag, der zum Tod von mehr als 30 Menschen führte, fast ausschließlich Frauen und Kinder.

Keine neue Intifada

Die von der Demokratischen Front beschworene Einheit im Feld wird sich nicht auf politischer Ebene fortsetzen, dazu braucht es keinen Propheten. Zwischen Marxisten und Islamisten liegen naturgemäß Welten. Der Hamas geht es ausschließlich um die nationale Freiheit, die persönliche will sie dagegen durch die strengen Regeln der Religion einschränken. Davon betroffen sind vor allem Frauen, die bereits seit langem in Gaza von den Eiferern gemaßregelt werden. Die palästinensische Linke will hingegen die doppelte Befreiung – die von der israelischen Besatzung und als Marxisten natürlich auch die von jeder anderen Art der Unterdrückung. Das Weltbild der religiösen Gängelung steht dem diametral entgegen.

Noch übertüncht der gerade erst beendete Gaza-Krieg die Differenzen. Wenn jedoch die Welt nicht mehr auf den Küstenstreifen blickt, werden die Menschen schnell merken, daß die über 2000 Toten ein zu hoher Preis waren für das, was letztendlich als Ergebnis herauskommt. Die Arbeitslosigkeit wird immer noch 80 Prozent betragen und die Jugend in Gaza wird ihren Frust angesichts der Zukunftslosigkeit weiterhin mit Drogen betäuben. Und irgendwann wird es wieder zu Demonstrationen gegen die Herrscher von der Hamas kommen. Alles wie gehabt.

Die Hamas hat seit dem Ende des Kriegs angeblich 32 Millionen Dollar Hilfsgelder ausgeschüttet, berichtete Al-Monitor unter Berufung auf eine anonyme Quelle aus der Führungsebene. Andererseits kann die Widerstandsbewegung den Beamten in Gaza keinen Lohn mehr zahlen. Sie verhandelt im Augenblick mit der Fatah-dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah über die Bezahlung. Die internationale Unterstützung für die Palästinenser fließt in der Regel über die Westbank, wo die anerkannte Regierung ihren Sitz hat. Inzwischen hat das Finanzministerium von Gaza angekündigt, daß die Angestellten zumindest die Hälfte ihres Lohns überwiesen bekommen. Woher das Geld stammt, ist unbekannt.

Die Hamas versucht, den Waffenstillstand als Sieg zu verkaufen. Die Fakten sprechen allerdings eine andere Sprache. Israel hat sein wichtigstes Ziel erreicht – die Zerstörung fast aller Tunnel. Es hat außerdem eindrucksvoll bewiesen, daß es militärisch unantastbar ist. Hunderte von Raketen haben die Kassam-Brigaden auf israelische Städte abgefeuert, der angerichtete Schaden war durchaus überschaubar. Besonders enttäuschend für die Brigaden: Die Brüder und Schwestern auf der Westbank demonstrierten zwar ihre Solidarität, militärisch sprangen sie dem Widerstand aber nicht bei, es kam zu keiner neuen Intifada.

* Gerrit Hoekman hat in Münster und Damaskus Islamwissenschaften studiert. 1999 erschien von ihm im Unrast-Verlag das Buch »Zwischen Ölzweig und Kalaschnikow. Geschichte und Politik der palästinensischen Linken«.

Aus: junge Welt, Mittwoch 24. September 2014



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