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"Es wird noch schlimmer werden"

Fünf Jahre nach dem Abzug der Israelischen Streikräfte aus Gaza: Interview mit Jaber Wishah, Palästinensisches Zentrum für Menschrechte

Am 14. August 2005 begannen israelische Truppen und Siedler sich aus illegal besetzten Gebieten im Gazastreifen zurückzuziehen. Was von Israel als „Zeichen für den Willen zum Frieden“ bezeichnet wurde, stellt sich fünf Jahre später als umfassende Blockade dar. Von seinen Bewohnern wird der Gazastreifen als „großes Freiluftgefängnis“ bezeichnet. Während des 23-tägigen Krieges Israels (Dez.2008/Jan. 2009) gegen Gaza hatten die dort lebenden Menschen keine Möglichkeit zu fliehen.

Fünf Jahre nach dem „Rückzug aus Gaza“ sprach Karin Leukefeld mit Jaber Wishah vom Palästinensischen Zentrum für Menschrechte in Gaza. Das Interview erscheint gekürzt im Neuen Deutschland am 16.8.2020.

Jaber Wishah wurde im Bureij Flüchtlingslager im Gazastreifen geboren. Nach 1967 kämpfte er politisch und militärisch gegen die israelische Besatzung, wurde 1985 verhaftet und zu Lebenslänglich verurteilt. Mit massivem öffentlichem Druck kam er 1999 frei, wozu nicht zuletzt seine Mutter Umm Jaber und das Komitee der „Mütter der Gefangenen“ beigetragen haben. Jaber Wishah ist Vizepräsident des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte in Gaza (www.pchrgaza.org).


Frage: Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an den Rückzug der israelischen Truppen und Siedler aus dem Gazastreifen denken?

Jaber Wishah: Ich möchte ganz deutlich sagen, dass wir nicht von einem „Rückzug“ sprechen. Was damals geschah war eine Verlegung der israelischen Besatzungstruppen. Die Evakuierung der Siedler war in dem Zusammenhang normal, denn sie zogen sich aus illegal besetzten Gebieten zurück. Wir möchten Ihren Lesern und der Öffentlichkeit in Deutschland ganz klar machen, dass alles, was damals geschah keineswegs ein Rückzug war und sechs Jahre später bestätigt die Realität das auch. Sehen wir uns die Tatsachen und Fakten im Gazastreifen und in den besetzten Gebieten an, dann wird klar, dass wir weiter unter juristischer, politischer und physischer Besatzung Israels sind.

Haben Sie damals gedacht, dass sich Ihr Leben zum Positiven wendet und dass sie etwas Neues beginnen können?

Jaber Wishah: Wir hatten alle keine großen Erwartungen. Es gab ja diesen israelischen Plan der einseitigen Loslösung und so waren wir nicht überrascht, als sie es dann machten. Aber um Klartext zu reden, seit dem Oslo Abkommen gibt es keine Freiheit für die Palästinenser. Es gibt keinen Staat, kein zusammenhängendes Verwaltungsgebiet, Israel ist weiterhin Besatzungsmacht, mit der wir tagtäglich von den kleinsten Dingen des Alltags bis hin zu strategischen Planungen unserer Möglichkeiten konfrontiert waren. Nein, ich habe nicht erwartet, dass sich die Lage unseres Volkes im Gazastreifen verbessern würde. Bis heute werden wir kontrolliert, zu Land, zur See und unsere Gewässer werden immer mehr verkleinert. Wir sind von der Welt abgeschlossen. Auch unser Flughafen hier in Gaza wurde komplett zerstört.

Ist die Situation heute also schlimmer als damals?

Jaber Wishah: Und es wird noch schlimmer werden.

Das hört sich ja sehr pessimistisch an.

Jaber Wishah: Es geschieht nichts, überhaupt nichts, was uns Anlass zum Optimismus gäbe. Weder geschieht etwas Positives auf lokaler Ebene, noch auf internationaler Ebene, seitens der Staatengemeinschaft. Das bestätigt diese enttäuschte Schlussfolgerung.

Die Europäische Union und Deutschland geben viel Geld an die palästinensische Autonomiebehörde. Erreicht Sie diese Hilfe auch in Gaza oder fühlen Sie sich vergessen?

Jaber Wishah: Wir sind für jede internationale Hilfe, für Schenkungen und Unterstützung sehr dankbar. Aber solange dieses ganze Geld nicht in Entwicklungsprojekte gesteckt wird und die Ebene der ‚Hilfe’ nicht überwunden wird, solange wird der gewünschte Erfolg ausbleiben. Natürlich wird Hilfe gebraucht, aber gleichzeitig muss etwas für die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Palästinenser getan werden, sich selber zu versorgen und eine eigene, unabhängige Wirtschaft zu entwickeln. Das alles ist einfach eine unmögliche Aufgabe („mission impossible“) solange die Besatzung anhält. Die Internationale Gemeinschaft sollte die Palästinenser unterstützen und sich für Gerechtigkeit einsetzen, damit die Besatzung Israels endlich ein Ende hat. Erst dann können wir etwas optimistischer über unsere Freiheit und Unabhängigkeit sein.

Was ist in diesen Tagen Ihre größte Sorge in Gaza?

Jaber Wishah: Allgemein ist es dieser Zustand der Unsicherheit, der uns große Sorge macht, das muss ein Ende haben. Ich spreche von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit, die jede Dimension des menschlichen Alltags betrifft. Zum Beispiel müssen Studierende, die kurz vor dem Abschluss stehen sicher sein, dass er oder sie danach auch in der Lage ist, seine oder ihre Zukunft selber zu gestalten. Das ist die Sicherheit, die wir brauchen und die es nicht gibt. Unsicherheit ist gefährlicher als jede Gefahr. Die Besatzung hat jede Dimension unseres Alltags behindert, aber immerhin war es eine Besatzung und wir Palästinenser wissen sehr genau, was das heißt und können damit umgehen. Aber nicht zu wissen, was morgen geschieht, ob in der Politik, im Alltag oder ökonomisch, diese Zweideutigkeit, diese Unsicherheit frustriert die Menschen enorm. Und es ist ein guter Boden, auf dem Extremismus gedeiht. Konkret ist unsere größte Sorge der Streit zwischen Fatah und Hamas, das muss aufhören. Sie müssen eine Regierung der nationalen Einheit bilden oder irgendein gemeinsames Gremium, um den Gazastreifen wieder mit der Westbank und Ostjerusalem zu vereinigen. Dann gehören wir alle gemeinsam zu den besetzten palästinensischen Gebieten, für die es einen völkerrechtlichen Status gibt. Nur als geeintes palästinensisches Volk können wir uns an die regionalen und internationalen Mächte wenden und unsere Freiheit und Unabhängigkeit fordern. Nur so können wir die Zukunft nicht nur für unsere Kinder sicher gestalten, sondern auch für die Kinder unserer israelischen Nachbarn. Das ist unser Traum und wir haben das Recht auf diesen Traum.

Können direkte Gespräche zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel diesen Traum realisieren?

Jaber Wishah: Als Palästinenser habe ich meine Erfahrungen mit den Israelis gemacht, ich war 5262 Tage im israelischen Gefängnis, 14 Jahre, 3 Monate und 10 Tage. Das war viel Zeit, um die Israelis kennenzulernen. Es gab Verhandlungen, wir hatten Hungerstreiks im Gefängnis, es gab ein Dialogkomitee und so weiter. Glauben Sie mir, glauben Sie mir jedes einzelne Wort, dass ich jetzt sage: die Israelis wollen die Krise nur steuern, sie wollen sie nicht lösen. Sie werden verhandeln und verhandeln und gleichzeitig zwingen sie uns Fakten auf. Die Mauer, die Siedlungen, die Judaisierung Jerusalems, sie besetzen die Berge, viele Gebiete in der Westbank und im Jordantal und machen damit die Bildung eines palästinensischen Staates zu einer „mission impossible“, unmöglich. Bis heute sind die Israelis nicht reif für einen Frieden, die öffentliche Meinung in Israel ist gar nicht an Frieden interessiert. Das ist auch so, weil es kein Gleichgewicht der Kräfte in der Region gibt. Das wäre anders, wenn die Israelis spürten, dass es eine einflussreiche Macht in der Region gibt, wenn sie merken würden, dass die internationale Gemeinschaft kompromisslos für Gerechtigkeit eintritt. Denn es gibt kein Zwischending zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, entweder ist man für die Besatzung oder dagegen, entweder ist man für einen gerechten Frieden oder man opfert Menschenrechte und Gerechtigkeit für etwas, das man nur Frieden und Sicherheit nennt. Am Ende, werden weder sie noch wir Frieden und Sicherheit haben, weder sie noch wir. Nein, bis heute ist es den Israelis mit dem Frieden nicht ernst und die palästinensische Führung ist schwach. Sie ist nicht einmal in der Lage, eine akzeptable Lösung zu fordern. Diese nutzlosen Verhandlungen dauern nun schon Jahrzehnte, so ist es doch. Also, die israelische Führung und die Bevölkerung sind nicht bereit, Frieden zu schließen und für uns Palästinenser und unsere Führung sind die angebotenen „Lösungen“ nicht akzeptabel. Und so wird das weiter gehen, bis irgendeine dramatische Wandlung in der Region das alles in den Hintergrund drängt.

Vielen Dank für dieses Interview.

* Gekürzt abgedruckt unter dem Titel "Wir stehen weiter unter Besatzung" in: Neues Deutschland, 16. August 2010


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