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"Gegossenes Blei" liegt schwer auf Gaza

Atempause für Palästinenser / Sicherung der zerbrechlichen Waffenruhe bleibt problematisch

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Israels Luftwaffe bleibt am Boden, die Truppen bleiben vor Ort – das ist der Waffenstillstand, wie ihn Israels Regierung am Samstagabend angekündigt hat. Die Hamas spielt, vorerst, mit. International wurde die Waffenruhe mit Skepsis begrüßt. Man befürchtet, dass sie nur Vorspiel für das Nachspiel sein könnte. Denn Israel zeigt keinerlei Bereitschaft, auf die Forderungen der Hamas einzugehen.

Ruhe sei so schön, sagt Judith, arbeitslos, Mutter von drei Kindern. »Du glaubst gar nicht, wie schön«, fügt sie hinzu und erklärt, sie werde jetzt mit dem Nachwuchs in den Park gehen, denn das war hier in Sderot in unmittelbarer Nähe zum Gaza-Streifen in den vergangenen Wochen unmöglich.

Ruhe sei schön, sagen die Menschen auch ein paar Kilometer weiter jenseits des Grenzzaunes zum ersten Mal nach Wochen, die, so ein palästinensischer Familienvater, »wie Jahre waren, Jahre voller Angst und Schrecken«. Außerhalb des Flüchtlingslagers, einer wilden Ansammlung von ärmlich wirkenden Häusern, von denen die meisten nicht einmal verputzt sind, warten immer noch israelische Soldaten mit Panzern und gepanzerten Truppentransportern, jederzeit bereit, den Kampf gegen die Hamas, aber auch gegen den kleineren, doch radikaleren Islamischen Dschihad wieder aufzunehmen.

Die Ziele der Operation »Gegossenes Blei« seien noch längst nicht erreicht, sagt man beim Militär hinter vorgehaltener Hand; man müsse also jederzeit damit rechnen, dass es wieder los geht – eine Aussage, die auch in den Reihen der Hamas zu hören ist an diesem Sonntag nach dem Samstag, an dessen Abend Israels Premier Ehud Olmert offiziell verkündete, dass die Waffen des Militärs vorerst schweigen. Will heißen: Die Luftwaffe stellt ihre Angriffe ein, die Bodentruppen, die mittlerweile mit mehreren Tausend Soldaten im Gaza-Streifen sind, kämpfen nicht mehr, aber sie bleiben.

Und genau das ist der Knackpunkt, der für Skepsis sorgt. »Natürlich sind wir froh, dass die Waffen schweigen, aber kaum jemand glaubt daran, dass das so bleiben wird«, fasst ein europäischer Diplomat in Tel Aviv die allgemeine Gemütslage zusammen. Denn zwar haben sich Hamas und Islamischer Dschihad umgehend dem Waffenstillstand angeschlossen, und das vor allem, weil die kriegsmüde Gaza-Bevölkerung zunehmend Druck ausübte. Aber sie stellen Bedingungen, die Israels Regierung »keinesfalls«, so ein Sprecher, zu erfüllen bereit ist. Ja, sagt er, man werde Hilfsgüter in den dicht bevölkerten, nun noch ärmeren Landstrich lassen, »wie wir das ja in den vergangenen Wochen ohnehin immer wieder getan haben« (die Lieferungen, merkt ein Sprecher der UN dazu an, hätten die Bedürftigen allerdings wegen der Kämpfe nur selten erreicht). Nein, auf eine vollständige Öffnung der Übergänge und einen Abzug der Bodentruppen werde man sich nicht eher einlassen, bis ein »zuverlässiger Mechanismus« gefunden sei, der die Raketenangriffe auf den Süden Israels verhindere.

Aber wie genau der aussehen könnte, ist nach wie unklar. »Die Ägypter wollen keine ausländischen Truppen auf ihrem Boden; die Hamas will sich nicht in die Karten schauen lassen, und Israel will das deutliche Versprechen, dass die Beobachter dazu bereit und in der Lage sind, die Raketenangriffe zu verhindern«, beschreibt ein ausländischer Vermittler die vertrackte Situation.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2009

Fragile Waffenruhe

Von Karin Leukefeld **

Positiv hat die Führung der palästinensischen Hamas am Sonntag auf eine einseitig von Tel Aviv verkündete Waffenruhe für den Gaza­streifen reagiert. Man gebe Israel eine Woche Zeit, seine Truppen aus dem Gebiet zurückzuziehen und die Grenzübergänge zu öffnen, damit humanitäre Hilfe die Bevölkerung in Gaza erreichen könne, erklärte in Damaskus Hamas-Politbüromitglied Mussa Abu Marsuk nach Beratungen mit anderen palästinensischen Organisationen. Die Palästinenser seien offen für Vermittlungsbemühungen Ägyptens, der Türkei, Syriens sowie anderer arabischer Staaten.

In der Nacht zu Sonntag hatte der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert 22 Tage nach Beginn des »Gegossenes Blei« genannten Überfalls die proklamierte Waffenruhe mit der Drohung verbunden, die Armee werde sofort »in Selbstverteidigung« zurückschlagen, sollte die Hamas Israel erneut angreifen. Ansonsten werde das Land »zu einer Zeit, die uns paßt«, seine Truppen abziehen. Von palästinensischer Seite waren am Sonntag morgen noch einmal vier Raketen auf Israel abgeschossen worden, woraufhin Kampfjets palästinensisches Gebiet bombardierten.

Zuvor war tagelang in Kairo unter ägyptischer Vermittlung mit Vertretern der Hamas und einem Abgesandten Israels über einen Waffenstillstand verhandelt worden. Die Palästinenser hatten dabei eine zunächst einjährige Waffenruhe angeboten, sofern sich alle israelischen Truppen innerhalb einer Woche zurückziehen würden. Weiter forderte die Hamas eine Öffnung aller Grenzübergänge zum Gazastreifen, die durch Sicherheitskräfte der palästinensischen Autonomiebehörde sowie türkische und EU-Beobachter kontrolliert werden könnten. Mit diesem Angebot sollte die Forderung Israels nach einer »Sicherheitsgarantie« erfüllt werden, daß keine weiteren Waffen in den Gazastreifen gelangen. Westliche Lieferungen an Israel waren dagegen nicht Gegenstand der Verhandlungen.

Augenzeugenberichten zufolge haben sich im Verlauf des Sonntags (18. Jan.) israelische Einheiten aus Vororten von Gaza-Stadt zurückgezogen. Aus dem Trümmerfeld, das sie dort und an anderen Orten hinterließen, bargen palästinensische Rettungssanitäter am Sonntag weitere 95 Leichen, die meisten aus Ruinen zerbombter Gebäude im Flüchtlingslager Dschabalija und in Beit Lahija im Norden des Gazastreifens. Noch am Samstag hatte die israelische Armee eine Schule der Vereinten Nationen im nördlichen Gazastreifen bombardiert und zwei Kinder getötet. Der Leiter des UN-Hilfswerks für Palästinensische Flüchtlinge (UNWRA), John Ging, sagte, es müsse geklärt werden, ob es sich bei diesem Angriff um ein Kriegsverbrechen handle.

Anfang Januar waren bei zwei Angriffen auf UN-Schulen 43 Menschen getötet worden, am Donnerstag zerstörte die israelische Artillerie das zentrale Lager der UNWRA in Gaza-Stadt. Seit Beginn des israelischen Überfalls auf den Gazastreifen am 27. Dezember kamen dort rund 1300 Palästinenser ums Leben, darunter mehr als 400 Kinder. Mehr als 5300 Menschen wurden verletzt. Auf israelischer Seite starben 13 Menschen, darunter zehn Soldaten.

Im ägyptischen Scharm Al-Scheich trafen am Sonntag (18. Jan.) Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die Regierungs­chefs von Tschechien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Ägypten und der Türkei ein, um zur Lage in Nahost zu beraten. Ob Israel einen Vertreter schicken würde, war bei jW-Redaktionsschluß unklar. Hamas-Vertreter waren nicht eingeladen.

** Aus: junge Welt, 19. Januar 2009


Olmerts Ziele

Von Detlef D. Pries

Als Israels Premier Ehud Olmert am Sonnabend eine Waffenruhe für den Gaza-Streifen ankündigte, begründete er sie mit den Worten: »Wir haben die Ziele, die wir uns gesetzt haben, erreicht - und noch mehr.« Noch mehr? Olmert sollte sich nicht beschweren, wenn ihm die Frage gestellt wird, ob er seiner Armee etwa die Tötung von »nur« 1000 Palästinensern vorgegeben hatte. In solchem Fall wäre das Ziel in der Tat übertroffen, denn auf palästinensischer Seite zählt man mindestens 1300 Opfer, deren Angehörige das ausdrückliche Bedauern Olmerts nicht zu würdigen wissen werden.

Gibt es ein anderes Ziel, das Israel erreicht haben könnte? Gewiss ist die Hamas militärisch geschwächt. Ihr Siegesjubel ist jedenfalls mindestens so grotesk wie Olmerts Erfolgsmeldung. Doch schon Stunden nach der zunächst einseitig verkündeten Waffenruhe flogen wieder Kassam-Raketen gen Sderot. »Zerstört« ist die Hamas also nicht - militärisch nicht, politisch schon gar nicht. Im Gegenteil: Israels bisher blutigster Gaza-Kriegszug hat unter den Palästinensern neuen Hass entfacht. Und solange israelische Soldaten im Gaza-Streifen stehen, solange die erstickende Blockade des Gebiets nicht aufgehoben ist, solange Israelis den Palästinensern nicht Rechte zubilligen, die sie für sich selbst beanspruchen, wird dieser Hass Gewalt hervorbringen. Sicherheit für Israel ist ein akzeptables Ziel, das aber mit Kriegszügen nicht zu erreichen ist.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2009 (Kommentar)




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