Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das Schweigen brechen - Soldaten sprechen über Gaza

Bericht mit 54 Zeugenaussagen veröffentlicht

Die Mehrheit der Israelis möchte nicht genau wissen, wie sich das Leben in den besetzten Gebieten anfühlt, wie sich die zweijährige Blockade von Gaza oder die militärischen Angriffe auf die in Gaza eingesperrte Zivilbevölkerung auswirken. Sie möchten auch nicht genau hinschauen, was die israelische Armee dort genau gemacht hat.

Letzteres geht "Breaking the Silence" an. Ihr Name ist Programm: "Breaking the Silence" ist eine Organisation israelischer Reservisten, die als Soldaten die Realitäten der Besatzung erlebt haben und das Schweigen darüber in der israelischen Gesellschaft brechen möchten.

Und: "Breaking the Silence" wird in Israel gehört. Ihre Stimme kann nicht abgetan werden als die Stimme einiger weniger "schöngeistiger Araberfreunde" aus der Tel Aviver Blase. Denn ihre Mitglieder sind ehemalige Kämpfer. Diese genießen in der israelischen Öffentlichkeit hohe Glaubwürdigkeit und Sympathien. Sie stammen aus der Mitte der Gesellschaft, teilweise sogar aus rechtsgerichteten oder Siedler-Haushalten.

Als die israelische Armee begonnen hatte, den Gazastreifen um die Jahreswende 08/09 anzugreifen, haben Mitglieder von "Breaking the Silence" sehr schnell begriffen, dass das Gerede über die "moralischste Armee der Welt" (Ehud Barak, Verteidigungsminister und Vorsitzender der Arbeitspartei) kaum mit den Realitäten vor Ort übereinstimmt. Sie fürchteten, dass die israelische Öffentlichkeit diese Angriffe bejahen und jede Diskussion darüber verweigern würde. Sie behielten Recht. Der Angriff gilt in Israel als die Überwindung der "Schande" des Kriegs im Libanon zwei Jahre zuvor. Eine breite Diskussion über die vielen Toten unter der palästinensischen Zivilbevölkerung hat es nie gegeben.

Deshalb stellte "Breaking the Silence" - unterstützt von medico - eine Dokumentation mit 54 Zeugenaussagen israelischer Soldaten und Offiziere über das Vorgehen der Armee während des Angriffs zusammen. Darin werden Fälle von exzessiver Gewalt dokumentiert und von der weit verbreiteten Zerstörung von zivilem Privateigentum berichtet. Es sind schwer zu ertragende Berichte über Soldaten, die zum Spaß auf Wassertanks schießen ("fun shooting") und bei Hausdurchsuchungen Computer, Fernseher und andere Haushaltsgegenstände mutwillig zerstören.

Darüber hinaus wird aus der Summe der Berichte klar, dass der Angriff auf Gaza einen Einschnitt für die israelische Armee darstellt. Obwohl die Angriffe in einem dicht besiedelten Gebiet durchgeführt wurden, nahm die israelische Armee weniger Rücksicht auf die Zivilbevölkerung als je zuvor. So machte die Armee offensichtlich regelmäßig Gebrauch von Phosphorbomben in Wohnvierteln, nahm Wohnhäuser unter Panzerbeschuss und nutzte Zivilisten als menschliche Schutzschilde.

Diese veränderte Vorgehensweise der Armee geht auf die israelische Isolations- und Trennungspolitik zurück: Seitdem der Gazastreifen eingezäunt und komplett isoliert ist, werden die dort lebenden Menschen nicht mehr als Nachbarn und Individuen, sondern nur noch als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Dies betrifft nicht nur die israelische Armee, sondern wirkt tief in die israelische Gesellschaft hinein.

Die Dokumentation bestätigt andere Menschenrechtsberichte und palästinensische Aussagen über das Vorgehen der israelischen Armee während des Angriffs auf den Gazastreifen. Etwa die der ärztlichen Untersuchungskommission von medico international und seinen Partnern "Ärzte für Menschenrechte - Israel" und "Palestinian Medical Relief Society".

"Breaking the Silence" wurde vor etwa fünf Jahren gegründet. Mithilfe einer starken Freiwilligenbasis sammeln sie Zeugenaussagen von israelischen Soldaten, die in den besetzten Palästinensergebieten gedient haben. Die Soldaten erhalten die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen und diese im Gespräch mit Menschen, die ähnliches erlebt haben, zu reflektieren. Die Zeugenaussagen werden aufgenommen, eine Auswahl getroffen, bei Bedarf werden die Berichte anonymisiert. Die Redaktion der Aussagen wird so vorgenommen, dass der Sprachduktus der Soldaten nicht verändert wird. Dadurch entstehen kraftvolle und detaillierte Beschreibungen der Besatzungsmechanismen, die zuweilen schwere Menschenrechtsverletzungen aufdecken.

Die Unterstützung von "Breaking the Silence" ergänzt die erste und die zweite Hilfe in Gaza. medico und "Breaking the Silence" hoffen, dass die Veröffentlichung eine öffentliche innerisraelische Diskussion über die Realitäten einer militärischen Aktion entfachen, die in einer dichtgedrängten Enklave stattfand und deren Opfer hauptsächlich Zivilisten waren.

Den vollständigen Bericht von "Breaking the Silence" in englischer Sprache (112 Seiten) mit allen Zeugenaussagen können Sie hier als PDF downloaden: http://medico.de/media/operation-cast-lead.pdf

* Aus: medico international, 15. Juli 2009; www.medico.de

"Breaking the Silence": Operation Cast Lead

Im Folgenden dokumentieren wir das Vorwort und das Impressum der Broschüre.

Several months have passed since the end of Operation Cast Lead in Gaza, and many Israelis are still not aware of what really happened there. For lack of basic facts, we are forced to accept unconditionally the positions of the official bodies, which assure us that in spite of any doubts, the IDF's conduct was faultless and public accountability is uncalled for. This publication includes the testimonies of around thirty combatants who took part in the operation in early 2009. The testimonies that appear here were gathered over the past few months from soldiers who served in all sectors of the operation. The majority of the soldiers who spoke with us are still serving in their regular military units and turned to us in deep distress at the moral deterioration of the IDF. Although this publication does not claim to provide a broad, comprehensive review of all the soldiers and the units who carried out the operation, these narratives are enough to bring into question the credibility of the official IDF versions.

There are many significant gaps between the testimonies we gathered. These testimonies describe use of the 'Neighbor Procedure' and of white phosphorus ammunition in densely inhabited neighborhoods, massive destruction of buildings unrelated to any direct threat to Israeli forces, and permissive rules of engagement that led to the killing of innocents. We also hear from the soldiers about the general atmosphere that accompanied the fighting, and of harsh statements made by junior and senior officers that attest to the ongoing moral deterioration of the society and the army. During the operation, the military rabbinate made its own contribution to these expressions when it introduced controversial religious and political interpretation under the auspices of the IDF and with its blessing.

Although certain features characterized this operation as a whole, significant differences can be found among the various geographic areas and units. Such variation is also addressed in this publication.

In the past few months, the IDF spokesperson has gone to great lengths to prove that if there were any moral problems with the war at all, they were merely on the level of the 'delinquent soldier,' rather than a widespread, systemic issue. The stories of this publication prove that we are not dealing with the failures of individual soldiers, and attest instead to failures in the application of values primarily on a systemic level. The IDF's depiction of such phenomena as 'rotten apple' soldiers is a tactic used to place the responsibility solely on individual soldiers on the ground and to evade taking responsibility for the system's serious value and command failures. The testimonies of the soldiers in this collection expose that the massive and unprecedented blow to the infrastructure and civilians of the Gaza strip were a direct result of IDF policy, and especially of the rules of engagement, and a cultivation of the notion among soldiers that the reality of war requires them to shoot and not to ask questions.

This collection of testimonies offers a brief glance at Operation Cast Lead, and what occurred during the operation at the hands of the IDF on behalf of Israeli society. We believe that the existence of a moral society clearly requires a profound, honest discussion, of which the voice of soldiers on the ground is an inseparable part.

That this voice was missing from public discourse around the fighting in Gaza obliged us to hasten publication of these testimonies them. Because of time pressure and the complex process of verifying the testimonies, we are not able to publish here all the materials in our possession. The testimonies in this book are categorized by subject and appear in the exact language of the soldier speaking. Military terminology is explained in parentheses.

Those who break their silence in this publication describe in their testimonies how actions defined as anomalous yesterday become the norms of tomorrow, and how the emissaries of Israeli society continue, along with entire the military system, to slide together down the moral slippery slope. This is an urgent call to Israeli society and its leaders to sober up and investigate anew the results of our actions.

We would like to take this opportunity to thank our many volunteers and supporters who enabled the publication of this booklet on such short notice. Without their extensive assistance and support, this publication would not have reached your hands.

** Source: Operation Cast Lead; http://medico.de (externer Link)

Interessant ist die Liste der Förderer der Broschüre. Im Impressum heißt es dazu:

Breaking the Silence activities are made possible through the generous support of individuals and foundations including: The Moriah Foundation, the New Israel Fund, ICCO, SIVMO, Oxfam GB, medico international, Christian Aid (UK), the British Embassy in Tel Aviv, the Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands, the Spanish Agency for International Development Cooperation and the EU.

This booklet was produced and duplicated thanks to funding from the EU, the Government of the Netherlands, and the Spanish Agency for International Development Cooperation.

The content and opinions expressed in this booklet do not represent the EU, the Government of the Netherlands, or Spanish Agency for International Development Cooperation, and are solely the responsibility of Breaking the Silence.




"Freude am Töten"

Schwere Vorwürfe israelischer Soldaten wegen Gaza-Invasion **

Ein halbes Jahr nach dem Ende des Gaza-Kriegs haben israelische Soldaten schwere Vorwürfe gegen die eigene Militärführung erhoben, die ein brutales Vorgehen gegen palästinensische Zivilisten gefördert habe. Tel Aviv (dpa/AFP/ND). Die vor fünf Jahren gegründete israelische Organisation »Breaking the Silence« veröffentlichte am Mittwoch einen Bericht mit 54 anonymen Aussagen von Kampfsoldaten, die zur Jahreswende an der dreiwöchigen Militärinvasion »Gegossenes Blei« teilnahmen. Bei dem Einsatz, der am 18. Januar endete, waren mehr als 1400 Palästinenser getötet und 5000 weitere verletzt worden. In dem Report wird über Zeugenaussagen berichtet, nach denen Häuser und Moscheen unnötig zerstört und Phosphorbomben in dicht bevölkerten Gebieten eingesetzt worden sein sollen. Zudem wird eine Atmosphäre beschrieben, die Soldaten zu wildem, ziellosem Schießen ermutigt habe. Soldaten hätten auch grundlos auf Wassertanks geschossen und Computer, Fernseher und andere Gegenstände in privaten Wohnungen zerstört. In mehreren Aussagen hieß es, dass palästinensische Zivilisten als »menschliche Schutzschilde« eingesetzt wurden. Die Kommandeure hätten den Soldaten vermittelt, dass sie ohne moralische Einschränkungen vorgehen könnten und das Wichtigste sei, dass kein israelisches Leben verloren gehe. Einer der Soldaten erzählte, sein Kommandeur habe gesagt: »Keinem meiner Soldaten soll ein Haar gekrümmt werden, und ich bin nicht bereit, es einem Soldaten zu erlauben, sich selbst durch Zögern zu gefährden. Wenn du nicht sicher bist - schieße!« Im Zweifelsfalle habe man getötet. »Die Feuerkraft war wahnsinnig.« Im Kampf in Wohngebieten sei »jeder der Feind, es gibt keine Unschuldigen«. Ein Bataillonsführer sagte den Berichten zufolge: »Mein bester Arabisch- Dolmetscher ist mein Granatenwerfer.« Ein anderer Soldat berichtete von »Hass und Freude am Töten« unter seinen Kameraden. »Man fühlt sich wie ein kleines Kind mit einem Vergrößerungsglas, das Ameisen anschaut und sie verbrennt«, sagte ein weiterer Soldat dem Bericht zufolge. »Ein 20-Jähriger sollte anderen Menschen nicht diese Dinge antun müssen.« Michael Manekin von »Breaking the Silence« erklärte, die Zeugenaussagen bewiesen, »dass die unmoralische Art und Weise, auf die der Krieg geführt wurde, Schuld des Systems und nicht des individuellen Soldaten war«. »Dies ist ein dringender Aufruf an die israelische Gesellschaft und Führung, einen unverschleierten Blick auf die Dummheit unserer Politik zu werfen.«

Israels Armee wies die Vorwürfe aus den eigenen Reihen zurück, sie habe während des Gaza- Krieges schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Soldaten hätten sich immer korrekt verhalten, erklärte die Armeeführung am Mittwoch. Dem Bericht der Nichtregierungsorganisation »Breaking the Silence« hielt die Armee eigene Untersuchungen entgegen, wonach die Soldaten trotz der »schwierigen und komplexen Kämpfe im Einklang mit internationalem Recht und den erteilten Befehlen« gehandelt hätten. Da die Aussagen in dem Bericht zumeist anonymisiert und unpräzise seien, könne die Armee sie nicht untersuchen, um »sie zu bestätigen oder zurückzuweisen«. Verteidigungsminister Ehud Barak bekräftigte, die israelische Armee sei »eine der moralischsten der Welt«.

Anfang Juli hatte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ebenfalls in einem Bericht über die Gaza-Offensive der Armee sowie der Hamas »Kriegsverbrechen« vorgeworfen. Bereits damals lauteten die Vorwürfe gegen die Armee ähnlich: Sie soll über dicht besiedelten Gebieten Phosphorgranaten abgeschossen und Zivilisten, unter ihnen Kinder, als »menschliche Schutzschilde« benutzt haben. Außerdem sollen die Soldaten nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden haben.

** Aus: Neues Deutschland, 16. Juli 2009


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