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"Sperrt uns alle weg!"

Von Yves Wegelin, Tel Aviv/Hebron *

Soldaten sollen im Gazakrieg etliche Kriegsverbrechen begangen haben, berichten israelische Zeugen. Keine Einzelfälle, sagt der einstige Unteroffizier Yehuda Shaul.

«Wir besitzen immer noch die moralischste Armee der Welt; vielleicht gibt es Ausnahmen, doch ich bin überzeugt, dass diese fallweise untersucht werden.» So reagierte Israels Verteidigungsminis­ter Ehud Barak am Wochenende auf den jüngsten Eklat, der durch Zeugenaussagen zum Gazakrieg ausgelöst wurde: Israelische Soldaten hätten palästinensische ZivilistInnen «leichtfertig» bis «kaltblütig» getötet.

Moralische Armee? Einzelfälle? Stimmt nicht, sagt Yehuda Shaul - und dies seit Jahren: Mit seiner Organisation Breaking the Silence versucht er, die israelische Gesellschaft mit der Kriegsrealität zu konfrontieren. «Niemand, der dort war, hat saubere Hände: Es sind nicht einzelne Äpfel, die faul sind, der ganze Sack ist faul - und jede neue Frucht, die du da reinsteckst, wird es auch.» Shaul spricht nicht nur über die spektakulären Kriege - sondern über den normalen Besatzungsalltag im Westjordanland.

Shauls Worte haben in Israel besonderes Gewicht. Denn er ist kein typischer «lefty», kein Linker. Hier im trendigen Café eines Tel Aviver In-Quartiers wirkt der korpulente 26-Jährige, der Bart und auf dem Kopf eine Kippa trägt, fremd. Er stammt aus einer politisch rechten und orthodoxen Familie und hat die Highschool in einer Siedlung im Westjordanland besucht.

Das Schweigen ...

Shaul spricht nicht über Dinge, die er gesehen hat, sondern über solche, die er getan hat: Zwischen 2001 und 2004 war er zwei Jahre im besetzten Westjordanland - vor allem in Hebron, als Unteroffizier. Und Verbrechen habe er - wie alle israelischen Soldaten - eine Menge verübt. «Unser Hauptauftrag war: Präsenz markieren», sagt Shaul und fährt mit trockenem Zynismus fort: «Du beginnst deine Patrouille um zehn Uhr abends, gehst in die Altstadt von Hebron, stürmst ein zufällig ausgesuchtes Haus, reisst die Familie aus dem Schlaf, schliesst sie in ein Zimmer ein, wühlst die Wohnung um, gehst zurück auf die Strasse, schiesst in die Luft, zündest ein Feuer an und stürmst das nächste Haus; das ist dein Job - und während wir hier Kaffee trinken, ziehen in Hebron zwei Patrouillen durch die Strassen.»

Erst als er aus der Armee entlassen wurde, fing Shaul an, seine Taten als Soldat zu hinterfragen. Seither sammelt er Zeugenaussagen von Soldaten und hält Vorlesungen. Die wenigen Zweifel habe er als Soldat stets verdrängt, sagt Shaul. Schon an seinem ersten Tag in Hebron erhielt er den Befehl, mit einem Granatenwerfer ziellos in ein Wohnquartier zu feuern, von dem aus seine Einheit beschossen wurde. «Zuerst dachte ich: Seid ihr bescheuert?!» Dann habe er die Prozedur jeden Abend wiederholt. «Ich musste mich bereits am ersten Tag zwischen richtig und falsch entscheiden - und habe versagt». Mit der Zeit habe alles seine eigene militärische Logik erhalten. Eine suspekte ­Tasche am Strassenrand? «Ich schnappte mir den nächs­ten Palästinenser und befahl ihm, die Tasche aufzuheben - das übliche Prozedere: Fliegt er in die Luft, wird dir niemand mehr eine solche Falle stellen.» Irgendwann betrachte man die PalästinenserInnen nicht mehr als gleichwertige Menschen.

... brechen

Hier liege die erste Stufe des Schweigens, sagt Shaul: Die grosse Mehrheit der Israelis, die alle Militärdienst leis­ten, verstehe nicht, was sie als Soldaten tun: «Wer hässlich ist, stellt sich nicht gerne vor den Spiegel.» Dazu komme das Schweigen der Gesellschaft: «Hier in Tel Aviv» - Shaul zeigt auf die hippen Galerien und Cafés um uns herum - «kümmert sich niemand um die Besatzung, sie leben in ihrer Blase.» Auch die Medien machten mit: Jeden Morgen, nachdem er in Hebron Granaten in ein Wohnquartier gefeuert habe, hätten seine Eltern am Radio denselben Satz gehört: Streitkräfte hätten in Hebron feindliches Feuer erwidert - «tönt sauber, oder?». Für eine israelische Mutter sei es schwer zu akzeptieren, dass ihr Sohn Menschen umgebracht habe - ­also schaue man weg. «Auch ich ging am Wochenende nicht nach Hause und habe gesagt: Hey, Mum, ich habe zwei Palästinenser getötet.» Dies ist in Israel ein ungeschriebenes Gesetz: Kriegserlebnisse lässt man in den besetzten Gebieten zurück.

Gebrochen wird das Schweigen nur von Zeit zu Zeit. Dann, wenn konkrete Verbrechen an die Medien gelangen - wie kürzlich. Diese würden jedoch stets als Einzelfälle dargestellt, kritisiert Shaul: «Die Fälle dienen dazu, sich als Gesellschaft reinzuwaschen - es ist die Ausnahme, die beweisen soll, dass das System funktioniert.» Der Staat schnappe sich einen Soldaten und stecke ihn hinter Gitter.

Er sage: «Wenn ihr jemand ins Gefängnis stecken wollt, dann unsere gesamte Generation. Internationales Recht? Fuck it!» Er spreche nicht von einzelnen Verbrechen, sondern von einer täglichen Realität. Auch wenn man es fertigbringe, die Verbrechen um zwanzig Prozent zu reduzieren - achtzig Prozent würden bleiben: «Weil es ohne sie nicht geht; weil es eine menschenrechtskonforme Besatzung nicht geben kann».

www.breakingthesilence.org.il

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 26. März 2009


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