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UN-Generalsekretär fordert Aufhebung der Gaza-Blockade / Hamas stoppt Einfuhr der Hilfsgüter / Neuer Konvoi geplant

Augenzeugen berichten von Widerstand gegen israelischen Armeeeinsatz. Weitere Berichte

Von 2010-06-05

Die Debatte um den bewaffneten Angriff Israels auf einen Hilfskonvoi für Gaza reißt nicht ab, auch wenn sie hier zu Lande mittlerweile von anderen Themen (z.B. Bundespräsidentenkür) in den Hintergrund gedrängt wurde. Der Ton zwischen Israel und seinen Kritikern wird dabei schärfer. Erfreulich aus unserer Sicht, dass immer häufiger der eigentliche Stein des Anstoßes, die israelische Blockade des Gazastreifens, in den Mittelpunkt der Disussion rückt. Die Forderung nach einer Aufhebung des israelischen Embargos ist weltweit und nicht mehr zu überhören.
Im Folgenden geht es um die Blockade, Forderungen von Hamas an Israel, den Widerstand auf dem überfallenen Schiff "Marmara" und um die Planung eines erneuten Hilfskonvois.


Kontraproduktiv und unrecht

UNO-Generalsekretär fordert sofortige Aufhebung der Gaza-Blockade *

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon hat Israel in aller Deutlichkeit aufgefordert, die Gaza-Blockade mit sofortiger Wirkung aufzuheben.

Die Gaza-Blockade »ist kontraproduktiv, nicht nachhaltig und unrecht«, sagte Ban vor Journalisten in New York. Die schon seit Jahren anhaltende Isolation des Gaza-Streifens »straft unschuldige Bürger«, bekräftigte der UNO-Chef. Er habe Israels Regierung seit Monaten »auf höchster Ebene« zum Einlenken gedrängt. Wenn sie seinem Ruf gefolgt wäre, hätte sich die blutige Konfrontation im Mittelmeer nicht ereignet. »Die Tragödie unterstreicht nur die Schwere des ihm zugrunde liegenden Problems«, erklärte Ban.

Israel müsse nach dem Tod von neun Aktivisten auf den mit Hilfsgütern für den Gaza-Streifen beladenen Schiffen nun einen detaillierten Bericht über das Geschehen abgeben. Auf die Frage, wann und in welcher Form er die Vorgänge klären lassen werde, erwiderte Ban: »Bis zu meiner Entscheidung müssen Sie noch eine Weile warten«. Er werde zunächst im Gespräch mit allen Betroffenen, den Israelis eingeschlossen, Vorschläge sammeln.

Der UNO-Sicherheitsrat hatte sich nach langen Verhandlungen auf die Forderung nach »glaubhaften und transparenten« Ermittlungen der Ereignisse im Mittelmeer verständigt. Die USA ließen anschließend durchblicken, dass Israel die Klärung selbst liefern könnte. Dagegen beschloss der Menschenrechtsrat in Genf, ein unabhängiges internationales Team mit der Untersuchung zu beauftragen.

Nach der israelischen Militäraktion hat die Palästinenserbeauftragte bei der EU, Leila Shahid, mehr internationalen Druck auf Israel gefordert. Die tödliche Attacke gegen die Schiffe sei »nicht vom Himmel gefallen«, sagte sie am Donnerstag in Brüssel vor Journalisten. Sie sei vielmehr die Konsequenz der seit über 40 Jahren andauernden Besetzung der Palästinensergebiete durch Israel. Die internationale Gemeinschaft müsse dieser Besetzung nun »ein für alle Mal ein Ende setzen«.

Mehrere pro-palästinensische Menschenrechtsorganisationen forderten die EU in einer gemeinsamen Erklärung auf, ihr Assoziierungsabkommen mit Israel unverzüglich auf Eis zu legen. Außerdem solle der vor einigen Tagen erfolgte Beitritt Israels zur Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OECD) »überprüft« werden. Nach dem Völkerrecht müsse Israel zudem für den tödlichen Angriff zur Verantwortung gezogen werden, so der Sprecher der Union europäischer türkischer Demokraten, Mehmet Saygin.

Die sozialistische Europaabgeordnete Veronique de Keyser erinnerte daran, dass die EU für die Palästinensergebiete jährlich rund 500 Millionen Euro bereit stellt. Bei dem israelischen Angriff auf Gaza 2009 seien viele von der EU finanzierte Infrastrukturen zerstört worden, betonte de Keyser. Krankenhäuser, Schulen, Anlagen zur Trinkwasserversorgung seien bis heute nicht wiederaufgebaut worden.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2010


Hamas stoppt Einfuhr der Hilfsgüter

Israel soll zuvor drei Bedingungen erfüllen **

Die im Gaza-Streifen herrschende Hamas verweigert bislang die Einfuhr der von Israel beschlagnahmten Hilfsgüter von der internationalen Solidaritätsflotte auf dem Landweg. Hamas-Wohlfahrtsminister Ahmed al-Kurd sagte am Donnerstag, seine Organisation wolle erst drei Bedingungen erfüllt sehen, bevor die Güter von Israel aus in das Gebiet gebracht werden dürfen. Etwa acht Lastwagen mit Medikamenten, Nahrungsmitteln, Rollstühlen und Kinderspielzeug warten derweil am Grenzübergang Kerem Schalom zwischen Israel und dem Palästinensergebiet.

Israel müsse zunächst alle Gefangenen von der Gaza-Solidaritätsflotte freilassen, forderte Kurd. Die »Mavi Marmara« sei unter türkischer Flagge gereist, daher sei es an der Türkei zu entscheiden, ob die Hilfsgüter auch über den Landweg in das Palästinensergebiet gebracht werden können, so der Hamas-Minister. Außerdem habe Israel Güter von dem Schiff konfisziert. »Entweder wird alles ausgeliefert oder nichts.«

Ein UN-Repräsentant hat Angriffe der Hamas auf internationale Hilfsorganisationen im Gaza-Streifen scharf kritisiert. Robert Serry, UN-Sondergesandter für Nahost, teilte mit: »Ich bin zutiefst besorgt über Berichte aus Gaza, denen zufolge Hamas in den vergangenen Tagen in mehrere Büros von Nichtregierungssorganisationen in Gaza und Rafah eingebrochen ist.« Die Einrichtungen seien geschlossen worden. Hamas habe Dokumente und Ausrüstung konfisziert.

** Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2010


Auf die Tagesordnung

Von Roland Etzel ***

Das israelische Militär wollte Überlegenheit demonstrieren. Die Todesschüsse auf der »Mavi Marmara« sollten allen ins Gedächtnis brennen: Wer hier durch darf, entscheiden wir allein! Es spricht manches dafür, dass sie gerade das Gegenteil dessen erreicht haben. Die arroganten Reaktionen aus Tel Aviv (Lieberman: Wir sind erwachsen genug, um das allein zu regeln) auf die maßvolle Kritik des Westens und des UNO-Generalsekretärs sowie die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung lassen selbst Israels stärkste Freunde verstummen.

Zwar hat es mit seiner martialischen Aktion die Seeblockade gegen Gaza aufrechterhalten können, aber gerade deshalb werden die von ihm dafür vorgebrachten Begründungen in Frage gestellt wie in all den Jahren nicht seit ihrer Errichtung. Kein einziger Staat mochte diesmal die israelische Behauptung stützen, die Blockade diene vor allem der Terrorabwehr. In diesem Punkt ist die Netanjahu/Lieberman-Regierung auf einen bisher nicht vorhandenen Grad der Isolation zurückgefallen, regional wie weltweit.

Die Blockade könnte nun erstmals Thema auch im UNO-Sicherheitsrat werden. Sie ist damit noch kein bisschen gelockert. Aber der Piratenakt auf Hoher See hat Abermillionen Menschen in aller Welt dafür sensibilisiert, welches permanente Verbrechen seit 2006 täglich an der Zivilbevölkerung von Gaza verübt wird.

*** Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2010 (Kommentar)


"Unser Widerstand war legitim"

Türkische Aktivisten der Gaza-Hilfe: Die Waffen der ersten Angreifer flogen ins Meer

Von Jan Keetman, Istanbul ****


Die neun Aktivisten, die bei der israelischen Kommandoaktion gegen die internationale Hilfsflotte für den Gaza-Streifen ums Leben kamen, sind erschossen worden. Bei rechtsmedizinischen Untersuchungen der Leichen in Istanbul seien Schussverletzungen gefunden worden, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag.

Bei ihrer Rückkehr aus israelischem Gewahrsam in die Türkei haben Aktivisten des Gaza-Konvois den israelischen Angriff auf das türkische Schiff »Mavi Marmara« heftig kritisiert, teilweise aber auch israelische Angaben über den Hergang der Erstürmung bestätigt. Die nachhaltigste Anklage gegen Israel waren sicher die Leichname der neun türkischen Aktivisten, die bei der Erstürmung der »Mavi Marmara« ihr Leben verloren haben. Nach Angaben türkischer Gerichtsmediziner sind sie alle an Schussverletzungen gestorben. Von den 466 meist türkischen Aktivisten, die nach ihrer Freilassung von drei Flugzeugen in die Türkei zurückgebracht wurden, waren 29 verletzt. Zwei Schwerverletzte mussten in Israel bleiben.

Der Vorsitzende der Humanitären Hilfsstiftung IHH (das Kürzel IHH steht für »Mensch, Recht und Freiheiten«), Bülent Yildirim, gab an, dass noch mehrere Aktivisten vermisst würden. Der türkische Nachrichtensender CNN Türk strahlte ein Interview mit zwei jungen Männern aus, die angaben, ihr Vater bzw. Bruder seien bei dem Hilfskonvoi gewesen und sie hätten keine Nachricht von ihnen.

Die IHH war Hauptinitiatorin des Konvois. Ihr Chef Yildirim kündigte an, weitere Hilfsflottillen entsenden zu wollen. »Wir machen weiter, bis das Embargo gebrochen ist«, versprach Yildirim, der einen Schal trug, an dessen Enden jeweils eine Palästina-Fahne und ein Bild der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem abgebildet waren. Mindestens ein weiteres Hilfsschiff, das wegen Maschinenproblemen hinter die ursprüngliche Flottille zurückgefallen war, ist noch unterwegs.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat unterdessen angekündigt, auch weitere Hilfskonvois abzufangen, um die Ladung nach möglichen Waffen durchsuchen zu können. Yildirim schilderte hingegen das Verhalten der Türken auf dem Schiff »Mavi Marmara«, auf dem er selbst anwesend war, als legitimen Widerstand. Er bestätigte die israelische Darstellung, einige Passagiere seien mit Eisenstangen bewaffnet gewesen und hätten versucht, israelischen Soldaten die Waffen wegzunehmen.

Laut Yildirim wurden zehn Soldaten entwaffnet und ihre Waffen ins Meer geworfen. Die Soldaten hätten darauf erst nach 35 Minuten das Feuer eröffnet. Ein Kameramann sei angeschossen worden, weil er ein Bild machen wollte. Ein weiterer Passagier sei erschossen worden, nachdem er sich bereits ergeben hatte. Wie andere Passagiere berichtete auch Yildirim von Schikanen der Soldaten, nachdem das Schiff bereits in der Gewalt des Militärs war.

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan sagte dazu, so würden »Banditen« vorgehen. Israel missbrauche den Begriff »Antisemitismus«, um seine »Massaker« zu verdecken. Staatspräsident Abdullah Gül prophezeite, dass Israel dieses Vorgehen eines Tages bereuen werde.

**** Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2010


Neue Hilfsflotte geplant

Von Peter Preiß *****

Die internationale »Free Gaza«-Kampagne läßt sich vom brutalen Vorgehen der israelischen Marine nicht abschrecken. Im Herbst soll erneut eine Solidaritätsflotte für die Palästinenser im abgeriegelten Gazastreifen auf den Weg gebracht und damit der Druck auf Israel aufrechterhalten werden. Mindestens drei Schiffe mit Hilfsgütern sollten im September oder Oktober starten. Das kündigte Greta Berlin, Sprecherin der Free-Gaza-Bewegung, am Donnerstag auf Zypern an. An der Aktion wird sich demnach auch wieder die »Europäische Kampagne zur Beendigung der Gaza-Blockade« beteiligen. Bereits unterwegs sei das irische Schiff »Rachel Corrie« mit zwölf Aktivisten an Bord. Auf einer Pressekonferenz in Berlin rief der schwedische Schriftsteller Henning Mankell das Team auf, die Fahrt nach Gaza fortzusetzen. Israel dürfte es sich gut überlegen, noch einmal auf Passagiere zu schießen. Er selbst wolle an der für September oder Oktober geplanten Solidaritätsfahrt teilnehmen, erklärte Mankell auf jW-Nachfrage. Solche Zeichen der Solidarität seien notwendig.

Auch die türkische Wohltätigkeitsorganisation IHH, die den jüngsten Schiffskonvoi geleitet hatte, arbeitet weiter am Ende der Gaza-Abriegelung und will neue Schiffe auf den Weg bringen. »Wir machen weiter, bis das Embargo aufgehoben ist, sagte der IHH-Vorsitzende Bülent Yildirim nach seiner Abschiebung aus Israel am Donnerstag vor Journalisten in Istanbul. Seine Organisation wolle die ganze Welt an noch größeren Konvois beteiligen, die von Land und See aus geplant seien. Yildirim war an Bord der unter türkischer Flagge fahrenden »Mavi Marmara«. Das Passagierschiff war am frühen Montag morgen von israelischen Soldaten gestürmt worden. Bei dem Angriff in internationalen Gewässern waren israelischen Angaben zufolge neun Menschen getötet worden. IHH geht von weit mehr Toten aus. Seine Organisation vermisse mehrere Passagiere, die an Bord gewesen seien, so Yildirim. Möglicherweise seien einige Opfer von den israelischen Soldaten über Bord geworfen worden. Seinen Schilderungen zufolge haben sich Aktivisten mit Eisenstangen gegen die israelischen Spezialeinheiten verteidigt und mehrere Soldaten überwältigt. Sie hätten die Waffen der Soldaten in ihre Gewalt gebracht und benutzen können, diese aber über Bord geworfen. »Selbst wenn wir sie benutzt hätten, wäre es Selbstverteidigung gewesen«, erklärte Yildirim. Gegen die israelischen Angreifer erhob er schwere Anschuldigungen: So sei ein Journalist namens Cevdet »ohne Grund« erschossen worden. »Er hat einfach nur Bilder gemacht. Er wurde aus einer Entfernung von weniger als einem Meter erschossen. Sein Kopf explodierte ... Einer unserer Freunde wurde erschossen, als er sich ergeben hatte.«

Die abgeschobenen türkischen Aktivisten wurden in Istanbul von Tausenden Menschen mit Jubel empfangen. Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc begrüßte sie wie Helden. Sie hätten »Barbarei und Unterdrückung« erlebt. Das türkische Parlament forderte Israel zu einer offiziellen Entschuldigung für die Kommandoaktion auf. Auch der britische Premierminister David Cameron nannte den israelischen Militäreinsatz »vollkommen inakzeptabel« und forderte ein Ende des Gaza-Embargos. Ebenso drängte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon Israel auf die sofortige Aufhebung der Blockade. Sie »ist kontraproduktiv, nicht nachhaltig und Unrecht«, sagte er in New York. Der UN-Menschenrechtsrat in Genf beschloß am Mittwoch, ein unabhängiges internationales Team mit der Untersuchung des Angriffs zu beauftragen.

Auch die arabischen Staaten sehen sich durch die »Free Gaza«-Bewegung unter Zugzwang gesetzt. Die Arabische Liga kündigte nach einer Sondersitzung am Mittwoch abend an, die Blockade durch Israel »mit allen Mitteln durchbrechen« zu wollen.

***** Aus: junge Welt, 4. Juni 2010


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