Von der Nakba nach Gaza
Von Werner Ruf *
Es gibt einen geraden Weg von der naqba, der Katastrophe,
nach Gaza. Der Weg heißt Vertreibung. Sein Baumeister ist der
Zionismus. Entstanden in der Zeit des Höhepunkts der europäischen
Nationalismen mit all ihren rassistischen und ausgrenzenden
Tendenzen, die sich gerade auch gegen Juden
richteten, ist er zu verstehen als Defensivbewegung gegen die
vor allem in Osteuropa massive Unterdrückung und Verfolgung
der Juden. Kennzeichnend für alle Nationalismen, allen voran
den deutschen, ist ihre mehr oder weniger ausgeprägte
Gewaltförmigkeit, die die Durchsetzung ihrer Ziele begleitete.
Jeder Nationalismus bedarf einer Identität, er muss ein «Wir»
konstruieren, das Andere ausgrenzt: «… (die) Konstruktion von
Eigenem und Fremdem war im Zuge der modernen europäischen
Entwicklung die Nation. Sie schuf neue politische Einheiten,
die neue Selbst- und Fremdbilder notwendig machten.
»[1] Dem Zionismus boten sich hierfür zwei Identifikationsmöglichkeiten,
Ethnie und/oder Religion, die sich nicht
notwendigerweise ausschließen, aber durchaus konfliktträchtig
sein können, da sie auf unterschiedliche Legitimationsstränge
zurückgreifen.
Dieser Konflikt ist weder innerhalb des Zionismus noch innerhalb
des Judentums gelöst, er zieht sich in unterschiedlichen
Formen bis in die Gegenwart und artikuliert sich beispielsweise
auch in der innerjüdischen Debatte in Deutschland, ob
und inwieweit (welche und wie viel) jüdische Kritik an der
Politik des Staates Israel zulässig sei.[2] Eine einmalige und in
ihren Folgen tragische Eigentümlichkeit kennzeichnet den
Zionismus: Im Gegensatz zu anderen Nationalismen kann er auf kein Territorium verweisen, das gewissermaßen das Kernland
des Volkes darstellt. Die Gründung eines jüdischen Staates
implizierte von Anfang an, dass für diesen Staat ein Territorium,
ein Staatsgebiet, gefunden werden musste. Außerdem
bedurfte der zu schaffende Staat neben Staatsvolk und
Staatsgewalt (Jellinek) auch einer (nationalen) Ökonomie.
Die zionistische Bewegung hatte anfänglich einen sozialistischen
Anspruch. Andrerseits sollte die territoriale und ökonomische
Grundlage für einen Staat der jüdischen Einwanderer
geschaffen werden. Letzteres war nicht möglich, ohne
zwangsläufig die Interessen und Rechte der dort ansässigen
Bevölkerung zu verletzen. David Hacohen, Ende der 1920er
Jahre Führungsmitglied der Histadrut und Mitglied der
Mapai, für die er später in der Knesset saß, brachte das
Dilemma auf den Punkt:
«Ich musste mit meinen Freunden viel über den jüdischen
Sozialismus streiten, musste die Tatsache verteidigen, dass
ich keine Araber in meiner Gewerkschaft akzeptierte; dass wir
Hausfrauen predigten, nicht in arabischen Geschäften zu
kaufen; dass wir an Obstplantagen Wache hielten, um arabische
Arbeiter daran zu hindern, dort Arbeit zu finden; dass wir Benzin auf arabische Tomaten schütteten; dass wir jüdische
Frauen attackierten und die arabischen Eier, die sie
gekauft hatten, vernichteten; dass wir den Jüdischen Nationalfonds
hochpriesen, der Hankin nach Beirut schickte, um
das Land von abwesenden Großgrundbesitzern zu kaufen,
und die arabischen Fellachen vertrieb; dass es erlaubt ist,
tausende Dunum (1 dunam = ca. 800 qm) von Arabern zu
kaufen, aber verboten ist, einen einzigen jüdischen Dunam
an einen Araber zu verkaufen. … All das zu erklären, war nicht
leicht.»[3]
Die Wurzeln der naqba liegen im Dilemma der beiden Nationalismen,
des zionistischen und des palästinensischen, die
jeder ein und dasselbe Territorium beanspruchen. Das
Dilemma wurde noch verschärft durch die britische Politik,
die (im Jahre 1917!) in der Balfour-Declaration der zionistischen
Bewegung eine «Jüdische Heimstatt» in Palästina, dem Scherifen
von Mekka als Gegenleistung für einen arabischen Aufstand
gegen das osmanische Reich ein geeintes unabhängiges
Arabisches Königreich versprach, im Sykes-Picot-Abkommen
jedoch die Aufteilung des Nahen Ostens zwischen
Frankreich und Großbritannien vereinbarte.
Die arabische Nationalbewegung in Palästina, Teil des (säkularen)
arabischen Nationalismus in der Levante,[4] sah sich
neben der jüdischen Immigration einem weiteren Problem
gegenüber: Das arabische Palästina war gekennzeichnet
durch eine Art feudaler Sozialstruktur, von direkten persönlichen
Abhängigkeiten zwischen Großgrundbesitzern und
den Boden bearbeitenden Fellachen. Nach einer Reihe von
noch im Osmanischen Reich durchgeführten Reformen, insbesondere
aber nach der Land Settlement-Verordnung der
Briten von 1928, wurde das Land von den Großgrundbesitzern
als Privateigentum behandelt und z. T. an zionistische
Organisationen wie den Jüdischen Nationalfonds verkauft.[5]
Die jüdischen Eigentümer vertrieben dann die palästinensischen
Fellachen, die im alten feudalen Abhängigkeitssystem
seit Generationen Wohnrecht und Anspruch auf einen Teil der
Ernte hatten und Arbeit wie Wohnrecht auch im Falle eines
Besitzerwechsels behielten. Aufgrund der britischen Mandatsherrschaft
richtete sich der palästinensische Widerstand
nicht gegen die Großgrundbesitzer, sondern (wie auch der
zionistische) in erster Linie gegen die Briten. in zweiter Linie
und immer heftiger aber (siehe die Aufstände in den 20er und
30er Jahren) wurden die jüdischen Immigranten als zu
bekämpfende Feinde gesehen.
Der Besitz des Landes als materielle Grundlage für die – konkurrierende
– Errichtung von Staatlichkeit zweier Völker
wurde zur zentralen Frage. Diesem Problem versuchten die
Vereinten Nationen 1947/48 mehr schlecht als recht mit
ihrem Teilungsplan Rechnung zu tragen. Die Vertreibung der
Palästinenser zwecks Schaffung der territorialen Grundlage
jüdischer Staatlichkeit hatte lange begonnen, 1948 fand sie
ihren blutigen Höhepunkt (al naqba, die Katastrophe) und
wurde zum Identitätskern im nationalen Gedächtnis der
Palästinenser. In der offiziellen Geschichtsschreibung Israels
bleibt sie eine Etappe der Staatsgründung, die neben der Glorifizierung
der militärischen Leistungen der Haganah und
anderer bewaffneter Gruppen eine Marginalie darstellt.
Im Zeitpunkt der Gründung des Staates Israel lebten im
Gebiet des heutigen Israel, also ohne Westbank und Gaza,
etwa 700.000 Palästinenser, nach Ende der Kampfhandlungen
verblieben noch 156.000).[6] Zur Politik der Vertreibung
gehört auch die Enteignung palästinensischen Eigentums,
das beschlagnahmt wird, wenn etwa Haus- und Grundbesitzer
mehr als ein Jahr abwesend waren; die Zerstörung von
«illegalen» Häusern, die nicht legal sein können, da Palästinenser
grundsätzlich keine Baugenehmigungen erhalten und
da es im Osmanischen Reich keinen Kataster gab; sie setzt
sich fort in der systematischen Vernachlässigung von Infrastrukturmaßnahmen
in den von Palästinensern bewohnten Gebieten (Straßenbau, Wasser- und Abwassersysteme, Schulbauten, Elektrizitätsversorgung), in der nahezu totalen
Kontrolle der Wasserressourcen und ihrer Einspeisung in rein
israelische Netze. Mit der naqba unauflöslich verbunden ist
auch die Frage der (palästinensischen) Identität, die sich wie
in einem Brennglas bündelt in der Vertreibung von Grund und
Boden.
Territorialität, Erinnerung, Identität
Im Jahre 2009 wurden in Israel insgesamt 23 so genannte
Loyalitätsgesetze ausgearbeitet, die meisten wurden noch
nicht in die Knesset eingebracht. Verabschiedet wurde allerdings
am 16. April 2010 in erster Lesung das sog. «Nakba-
Gesetz», das jede Zeremonie oder öffentliche Erinnerung an
die Vertreibung und Enteignung der Palästinenser im Jahre
1948 unter Strafe stellt, wodurch der bis dahin traditionell
begangene Naqba-Tag kriminalisiert wird. Das Verbot trifft
auch Einzelpersonen, denen bis zu drei Jahren Haft drohen.[7]
Nun ist aber die naqba das Trauma nicht nur der gewaltsamen
Vertreibung, sondern auch der Verhinderung jener von den
UN geforderten Gründung eines palästinensischen Staates
neben dem gleichzeitig zu gründenden Staat Israel.
Das Trauma ist nicht imaginär, es ist real: Die neuen israelischen
Historiker – unter ihnen bei weitem nicht nur Ilan
Pappe [8] sondern auch der konsequent prozionistische Benny
Morris[9] – haben herausgearbeitet, dass die Vertreibungen
nicht Folge der Kriegsereignisse von 1948 sondern Teil eines
groß angelegten Planes waren. Die Zionisten begannen den
Krieg 6 Wochen vor der Unabhängigkeitserklärung. Von 13
Operationen des Plan Dalet fanden acht Operationen (Nachshon,
Harel, Chametz, usw.) während dieser Zeit statt und
außerhalb des Gebietes, das im Teilungsplan den Arabern
zugesprochen war. Die Behauptung, dass die Palästinenser
aufgrund von Appellen der arabischen Armeen nach Kriegsbeginn
geflohen seien, wird hierdurch eindeutig widerlegt,
auch das Massaker von Dir Yassin mit über 100 Toten, darunter
Frauen und Kinder, wurde exakt vier Wochen vor Kriegsbeginn
(9. April 1948) durchgeführt. Ziel der Massaker war
die zionistische Landnahme durch Vertreibung der Palästinenser,
die aus bevölkerungspolitischen Gründen vor der
Staatsgründung zu erfolgen hatte.
Das Verbot, an die naqba zu erinnern, zielt auf die Auslöschung
der Geschichte im kollektiven Bewusstsein der Palästinenser,
auf die Löschung des Kerns palästinensischer kollektiver
Identität. Darauf zielt auch der 2008 in Angriff genommene
Bau eines «Museums der Toleranz» durch das Simon-Wiesenthal-Zentrum. Es wird errichtet auf dem ältesten muslimischen Friedhof Jerusalems, der vom 7. Jh., also seit Beginn der islamischen Zeitrechnung, bis 1948 in Betrieb
war. Grabsteine und noch vorhandene Gebeine wurden mit
Bulldozern entfernt – trotz massiver Proteste auch aus der
israelischen Zivilgesellschaft.[10] Demütigungen dieser Art, die
auf das Auslöschen von Gedächtnis und Identität zielen,
bewirken eher die Fixierung von Identität auf solche Symbole
und laufen Gefahr, Radikalisierung und Widerstand hervorzurufen.
In Vorbereitung ist nun, 2010, ein Gesetz, das von allen Mitgliedern
der Knesset verlangt, Treue zu Israel als «zionistischem
und jüdischem Staat» zu schwören. In unserem
Zusammenhang geht es weniger um die derzeit in Israel diskutierte
Frage, wie sich die palästinensischen Abgeordneten
der Knesset gegenüber diesem Gesetz verhalten werden, als
um seine möglichen Folgen: Können die muslimischen,
christlichen und drusischen Staatsangehörigen Israels dann
noch Staatsbürger sein? Wenn das Gesetz bisher nicht verabschiedet
wurde, so liegt dies vor allem am Widerstand
säkularer jüdischer Israelis, die keinen religiösen Staat wollen.
Es sind die jahrelangen, alltäglichen Erfahrungen der Diskriminierung
und Benachteiligung, die erklären, dass 62 Prozent
der in Israel lebenden Palästinenser ihre Ausweisung, den in
israelischen Regierungskreisen propagierten «Transfer», also
eine zweite naqba, befürchten. Immerhin haben mehr als
30.000 Palästinenser in Jerusalem während der letzten 20
Jahre ihre Wohnrechte verloren.[11] Die bestehenden Befürchtungen
der Palästinenser dürften erheblich verstärkt werden
durch kürzlich erlassene Befehle der israelischen Armee (Military
Order No. 1649 und 1650, 13. April 2010), denen zufolge
Zehntausende von Palästinensern aus der Westbank ausgewiesen
werden können.[12] Eine Zuwiderhandlung kann mit bis
zu sieben Jahren Gefängnis bestraft werden. Betroffen sind
in erster Linie jene Palästinenser, die eine Wohnadresse im
Gaza-Streifen haben und deren in der West-Bank geborenen
Kinder; Personen, die aus verschiedenen Gründen ihren Aufenthalts-
Status in der West-Bank verloren haben, ebenso wie
deren Ehepartner und Kinder. Sie sollen in den Gaza-Streifen
ausgewiesen werden. Die jetzt formalisierte Praxis gab es in
Einzelfällen schon länger. Bereits seit dem Jahr 2000 wurden
auf Befehl des Oberkommandierenden in der Westbank Personen
mit einer Adresse in Gaza, auch wenn sie in der Westbank
geboren waren, nach Gaza deportiert – so als ob es sich
bei diesem Gebiet um einen anderen Staat handele.
Wird der Befehl aber weiter ausgelegt, kann er auch alle
Flüchtlinge und deren Nachfahren betreffen, die 1948 oder
später in die Westbank gekommen sind und dort leben. Bisher
haben israelische Gerichte bisweilen die Ausweisung
dieser Personen verhindert, nunmehr sind hierfür nur noch
die Militärgerichte zuständig. Der Kommandeur kann auch
verfügen, dass ein im Zusammenhang mit dem Befehl Inhaftierter
für seine Haft bis zu 7.500 Schekel (rd. 1.500 Euro)
bezahlen muss.
Betroffen sind von diesem Befehl ferner Personen, die als
«Eindringlinge» (infiltrator) bezeichnet werden, ein Begriff der
1969 eingeführt wurde und nun präzisiert wird. Er gilt für
Personen, die «sich auf dem Gebiet befinden und keinen
gesetzeskonformen Ausweis besitzen». Ausdrücklich gilt der
Befehl auch für die Bewohner von Jerusalem wie für Personen
die aus feindlichen oder befreundeten Staaten (wie den
USA) eingereist sind.[13] Er gilt für alle Personen, die nicht über
eine vom Oberkommandierenden der Armee in «Judäa und
Samaria» (so der israelische Begriff für die West-Bank) oder
von einer Person, die in seinem Auftrag handelt, ausgestellte
Aufenthaltsgenehmigung verfügen, also auch für Personen,
die zwar legal eingereist sind, aber nicht über ein solches
Papier verfügen. Die Beurteilung der Gültigkeit der Papiere
obliegt dem Kommandeur der israelischen Streitkräfte vor
Ort.
Unklar ist die Anweisung bezüglich der Frage, inwieweit bisher
ausgestellte Ausweise gültig bleiben oder nicht. Es
könnte also sein, so Amira Hass, dass sie nur für neue, von
den Militärbehörden ausgestellte Ausweise gelten. Von der
Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellte Papiere,
die den Inhaber als Einwohner der Westbank ausweisen, sind
somit auf jeden Fall ungültig, obwohl dies im Widerspruch zu
den in Oslo mit der PA unterzeichneten Verträgen steht. Der
gleichfalls in Oslo vereinbarte freie Reiseverkehr zwischen
der West-Bank und dem Gaza-Streifen ist ohnehin seit drei
Jahren nicht mehr möglich. Betroffen sind außerdem alle
Personen, die im Rahmen der von Israel nach Oslo gestatteten
Familienzusammenführung in die West-Bank gekommen
sind. Der Militärbefehl kann in der Regel vor Gerichten nicht
angefochten werden (Besatzungsrecht). Er kann auch auf
Israelis angewendet werden, die beispielsweise gemeinsam
mit Palästinensern demonstrieren.[14] Ist eine Ausweisungsverfügung
ergangen, ist sie binnen 72 Stunden zu vollziehen.
1995 änderte Israel das Aufenthaltsrecht: Nichtjüdische Personen,
die längere Zeit im Ausland lebten, verloren ihr Wohnrecht
in Israel, speziell in Jerusalem, auch wenn sie jährlich
ihre Familien besuchten. Dies gilt auch für nichtjüdische Personen,
die keine andere als die israelische Staatsangehörigkeit
haben (z. B. für Inhaber einer green card der USA). Die
Regelung wird in letzter Zeit verschärft angewandt: So verloren
allein im Jahre 2008 5.477 nichtjüdische Einwohner Jerusalems
ihr Aufenthaltsrecht.[15] Das israelische Kernland und
vor allem die annektierte Hauptstadt Jerusalem sollen offensichtlich
zu einem ethnisch-religiös homogenen und von
Palästinensern freien Gebiet gemacht werden.
Die Politik vor allem des Kabinetts Netanyahu fördert einen
Extremismus, vor dem prominente Juden wie Hannah Arendt
und Albert Einstein u. A. schon 1948 warnten, als sie zum
Protest gegen die Werbekampagne Menachem Begins bei
amerikanischen Juden aufriefen: «… dieser Zwischenfall (Dir
Yassin, für den die Irgun Zwai Leumi Begins verantwortlich
war, W.R.) illustriert den Charakter und die Aktionen der Freiheitspartei.
Innerhalb der Jüdischen Gemeinschaft haben sie
eine Mischung aus Ultra-Nationalismus, religiösem Mystizismus
und rassicher Überlegenheit gepredigt. Wie andere faschistische Parteien wurden sie benutzt, um Streiks zu brechen
und sie haben selbst auf die Zerstörung freier Gewerkschaften
gedrängt. … dies ist unverkennbar das Markenzeichen
einer faschistischen Partei, für die Terrorismus (gegen
Juden, Araber und Briten gleichermaßen) das Ziel sind. …
Daher appellieren die Unterzeichner … diese jüngste Manifestation
des Faschismus nicht zu unterstützen.»[16] Gebremst
von der damals noch starken israelischen Linken unter Druck
des US-Präsidenten Jimmy Carter schloss Begin als Ministerpräsident
mit dem Ägypten Anwar el Sadats 1979 Frieden
auf der Grundlage des Camp-David-Abkommens, wofür
beide den Friedensnobelpreis erhielten. Andrerseits beförderte
Begins Regierung massiv die Siedlungstätigkeit in den
besetzten Gebieten und ließ die Armee 1982 in Libanon einmarschieren.
Gaza: Ein palästinensisches Ghetto?
Die Vertreibung der verbliebenen Palästinenser aus Jerusalem
und einer großen Zahl aus der Westbank in das hoffnungslos
übervölkerte Elendsgebiet Gaza, das keinerlei
(gerade auch ökonomische) Infrastruktur (mehr) besitzt, soll –
entgegen allen internationalen Beschlüssen einschließlich
der road map – Jerusalem zu einer palästinenserfreien jüdischen
Hauptstadt machen und in der Westbank weiteren
Platz für die israelischen Siedler schaffen. Dies dürfte der derzeitigen
israelischen Gesellschaft umso besser zu vermitteln
sein, weil – im Gegensatz zur West-Bank (Judäa und Samaria)
– der Gazastreifen nicht religiös-mythisch verklärt ist.
Im Jahre 2005 zog sich Israel aus dem Gaza-Streifen zurück,
Sharon erzwang den Abzug der dortigen Siedler und leitete
sie größtenteils in die Westbank um. Spätestens seit 2006
(Wahlen in Palästina, die zu einem Wahlsieg der Hamas führten)
bzw. 2008 (Machtübernahme der Hamas in Gaza)
betreibt Israel gegenüber den beiden nach wie vor völkerrechtlich
unter Besatzungsstatut stehenden territorialen Teilen
Palästinas eine unterschiedliche Politik und hat jeden
Verkehr von Gütern und Personen zwischen den beiden
Gebieten – im Gegensatz zu den Bestimmungen von Oslo und
der Road Map – verboten. Der Rückzug aus Gaza wird dahingehend
interpretiert, dass Gaza eine Art unabhängige Einheit
sei, der gegenüber Israel keine Verpflichtungen als Besatzungsmacht
mehr habe.[17] Es ist also keineswegs eine «private
» Idee des israelischen Außenministers Avigdor Libermann,[18] wenn dieser die Überwachung der Grenzen des Gaza-Streifens an eine internationale Schutztruppe übertragen will, sondern es dürfte sich um einen wohl durchdachten
Plan handeln, der dafür spricht, dass Israel das Gebiet loswerden,
es aber gleichzeitig zu einem Pferch für große Bevölkerungsgruppen
machen will, die aus Jerusalem, «Judäa» und
«Samaria» «transferiert» werden sollen.
Der von Israel beschworene besondere Status des Gebiets
hat zwar keinerlei völkerrechtliche Grundlage. Gingen jedoch
die «internationale Gemeinschaft» und/oder die EU auf ihn
ein, könnte Israel seine aus dem Besatzungsstatut resultierenden
humanitären Pflichten gegenüber dem Elendsgebiet
für beendet erklären: In diesem Sinne sind auch Libermanns
Äußerungen auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit der
Außenbeauftragten der EU, Ashton, am 18. Juli 2010 zu verstehen,[19] wenn er erklärt: «Wir müssen darauf bestehen, dass
alle wirtschaftlichen Entwicklung im Gaza-Streifen über die
UN abgewickelt werden … oder als direkte Projekte der EU und ihrer Mitgliedsstaaten.» Würde Gaza in eine Art internationalisiertes
Gebiet verwandelt, in das Israel weite Teile der
palästinensischen Bevölkerung abschiebt, liefe dies auf die
administrative Fortsetzung der ethnischen Säuberung hinaus:
Hier wird der gerade Weg von der nakba nach Gaza
sichtbar.
Perspektiven?
Vor allem durch den Einfluss der Siedler prägt eine religiösfundamentalistische
Strömung zunehmend das Selbstverständnis
des Zionismus. Spiegelbildlich wächst – auch aufgrund
politischer Unfähigkeit und der Korruption der Fatah –
der Einfluss der fundamentalistisch-nationalistischen Hamas.
Die zunehmende religiös-fanatische Aufladung des Konflikts
beiderseits wird rationale Lösungen noch schwieriger und
komplexer machen: Zerreißt der Widerspruch zwischen säkularem
Zionismus und religiösem Sendungsbewusstsein (konkret:
die von der Siedlerbewegung propagierte «Erlösung des
Bodens») letztlich die israelische Gesellschaft und stellt er
darüber hinaus die humanistische Tradition des Judentums
infrage? Für die Perspektive einer Friedenslösung ist die Entwicklung
der letzten Jahre fatal, denn die Mauern religiös
bewehrter Festungen sind noch schwerer zu schleifen als die
nationalistischer Ausschließlichkeitsvorstellungen. Und
wenn schon die territoriale Basis für einen existenzfähigen
palästinensischen Staat – die Voraussetzung für die Zwei-
Staaten-Lösung – aufgrund der Siedlungstätigkeit längst
verschwunden zu sein scheint, so macht gerade diese Entwicklung
auch die einzig denkbare Alternative, das Zusammenleben
beider Bevölkerungsgruppen in einem bi-nationalen
Staat, so gut wie unmöglich.
Fußnoten-
Rommelspacher, Birgit: Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt/New York 2002, S. 20.
-
S. exemplarisch Brumliks Kritik an den Positionen von Alfred Grosser und Rolf Verleger, von denen er eine besondere Loyalität gegenüber Israel zu erwarten scheint, wenn er ihnen als «ethnisch identifizierten … Juden» vorwirft, «Antisemitismus herunterzuspielen». in: Brumlik, Micha: Der Streit um die richtige Solidarität mit Israel; in: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 4/2007, S. 419–430. Dort wird die Frage aufgeworfen, ob «radikale, jede ethnische Solidarität aufkündigende jüdische Kritiker des jüdischen Staates Antisemiten» sein können. Dagegen: Judt, Tony: Ethnische Geiselhaft. In: Süddeutsche Zeitung 12./13. Dezember
2009.
-
Ha’aretz, 15. November 1968, zit. n. Bunzl, John: Israel im Nahen Osten, UTB Wien–Köln–Weimar, 2008, S. 40f.
-
Antonius, George: The Arab Awakening Mew York 1965.
-
Ausführlicher: Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. München 2002, insbes.
S. 280–296.
-
Nach Landau, Jacob M.: Oxford University Press 1969, S. 3.
-
http://www.ynet.co.il/english/articles/0,7340,L-3720926,00.html [22-07-10]. Vgl. Flottau, Heiko: Israel – der eingemauerte Staat. In: Blätter … Nr. 7/2010, S. 71–80.
-
Pappe, Ilan: Die Ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt/Main 2007.
-
Morris, Benny: The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949. Cambridge 1987.
-
http://www.haaretz.com/news/dividing-jerusalem-one-wall-at-a-time-1.257479
[21-06-10]. Vgl. http://www.peacenow.org/entries/archive5700 [21-06-10].
-
http://www.counterpunch.org/amin04212010.html [20-06-10]. In diesen Zusammenhang
gehört auch der derzeitige Hungerstreik von Firas Maraghy, eines Bürgers von Jerusalem, der derzeit vor der israelischen Botschaft in Berlin im Hungerstreik ist, um zu erreichen, dass ihm Einreisepapiere für seine Ehefrau und sein kleines Kind ausgestellt werden.
-
Hass, Amira: IDF order will enable mass deportation from West Bank, Haaretz,
19-06-10. http://www.haaretz.com/print-edition/news/idf-order-will-enable-mass-deportation-from-west-bank-1.780 [19-06-10]. Vgl. Flottau a. a. O. Vgl.http://www.amnestyusa.org/document.php?id=ENGNAU2010042816545&lang=e [22-07-10].
-
Hass, a.a.O.
-
Interview mit Jeff Halper in: Junge Welt, 16. April 2010. http://www.jungewelt.
de/2010/04-16/050.php [16-04-10].
-
Hass, Amira: Palestinian Jerusalemites go work abroad and get residency revoked upon return. Haaretz,http://www.haaretz.com/printedition/features/palestinian-jerusalemites-go-work-abroad-and-get-residency-revokedupon-return-1.297136 ,26-09-20. [27-06-10]. Vgl.The Guardian, 31. August 2008.
-
New York Times, 4. Dezember 1948.
-
Hass, Amira: Gaza’s Separation from the West Bank is Israels great Triumph. Haaretz, Mai 2009.
-
So Neues Deutschland 17./18. Juli 2010.
-
http://www.mfa.gov.il/MFA/Government/Speeches+by+Israeli+leaders/2010/Press_conference_FM_Liberman_EU_HighRep_Ashton_18-Jul-2010.htm [22-07-10].
* Dr. phil. Werner Ruf, bis 2003 Professor an der Universität Kassel,
ist Politologe und Friedensforscher. Er ist u.a. Vertrauensdozent der
Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitglied der AG Friedensforschung in Kassel.
Dieser Beitrag erschien in der Reihe "Standpunkte International" (15/2010) der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Internet: www.rosalux.de
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