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"In Gaza fehlt es immer noch an allem"

Keine Aufbruchstimmung trotz des UN-Antrags auf Vollmitgliedschaft Palästinas. Ein Gespräch mit Norman Paech *


Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht, er war von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag.


Der UN-Sicherheitsrat hat immer noch nicht über den Antrag Palästinas entschieden, als Vollmitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden. Wie ist der aktuelle Stand?

Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas und seine Fatah kämpfen noch um die letzten Stimmen im Sicherheitsrat. Für die Mehrheit fehlen drei – das sind Nigeria, Bosnien-Herzegowina und Gabun. Auf der anderen Seite versuchen Israel, die USA und jetzt auch die Bundesregierung, eine Mehrheit zu verhindern.

Was würde ein Sieg bei der Abstimmung nützen, wenn die USA ohnehin ihr Veto einlegen wollen?

Sollte der Antrag am Veto scheitern, gibt es keine entsprechende Empfehlung an die Generalversammlung – so schreibt es die UN-Charta vor. Dennoch hätten die Palästinenser einen Teilsieg errungen, weil sie ihr Anliegen direkt in die Generalversammlung einbringen können, wo eine Zweidrittelmehrheit durchaus möglich ist. Sie könnten dann einen Status erreichen, wie ihn etwa der Vatikan hat.

Sie kommen gerade von einer Reise zum Gazastreifen zurück. Wie hat sich der UN-Antrag auf die Stimmung der Menschen dort ausgewirkt?

Die Bevölkerung macht sich überhaupt keine Illusionen über die internationale Politik. Weder über die harte Position Israels noch über das Versagen der USA und der europäischen Regierungen, Druck auf Israel auszuüben. Insofern hat sich dort eine gewisse Ruhe und eine abwartende Haltung breitgemacht. Die Menschen konzentrieren sich auf ihre eigenen Probleme, der tägliche Überlebenskampf ist schon hart genug.

Gibt es so etwas wie eine Aufbruchstimmung? Der Antrag an die UN wird ja vielfach als erster Schritt zu einem eigenen Staat gesehen.

Kaum, die im Gazastreifen regierende Hamas stand diesem Antrag von Anfang an skeptisch gegenüber, weil sie meint, daß sich ohnehin nichts ändern wird. Sie betont vielmehr, daß die Einheit mit der in der Westbank regierenden Fatah wichtiger ist. Die Demokratische Volksfront (DFLP) in Gaza wiederum steht hinter Abbas und sieht den Antrag auch als ein Mittel, Israel weiter zu isolieren und so einen Beitrag zur Einheit Palästinas zu leisten. In meinen Gesprächen habe ich festgestellt, daß viele unterschiedliche Positionen existieren.

Gibt es Aussichten, daß sich die Hamas im Gazastreifen und die Fatah in der Westbank zusammenraufen können?

Wir hatten ein Gespräch mit Abdullah Franghi, dem außenpolitischen Berater von Abbas, der jetzt wieder in Gaza lebt. Er hat uns auch ein Treffen mit dem stellvertretenden Außenminister Ghazi Hamad vermittelt, der der Hamas angehört. Ich habe mich davon überzeugt, daß die Kontakte zwischen beiden Organisationen viel enger sind, als die Medien berichten. Und wahrscheinlich auch viel enger, als es die Bundesregierung gerne hätte. Alle Seiten –Hamas, Fatah und auch die DFLP – sind sich darin einig, daß es keine Alternative dazu gibt, an einem Strang zu ziehen.

Der Gazastreifen ist blockiert. Wie sind Sie da eigentlich reingekommen?

Ich hatte 2010 an der Free-Gaza-Flotille teilgenommen, die die Blockade brechen wollte. Deswegen läßt mich Israel jetzt zehn Jahr lang nicht einreisen. Die einzige Möglichkeit war also der ägyptische Grenzübergang Rafah. Das war nicht weiter schwierig – ich habe in Hamburg einen Antrag beim ägyptischen Konsulat gestellt, mein Freund Nader ElSakka hatte Kontakt zu den ägyptischen Behörden, und wir sind dann einen halben Tag lang durch den Nordsinai bis hin zur Grenze gefahren.

Im Hafen von Gaza – eher eine flache Anlegestelle – haben die Palästinenser übrigens ein Denkmal für die neun Türken errichtet, die 2010 auf der »Mavi Marmara« erschossen wurden, als Israels Marine die Flotille überfiel.

Herrschen in Gaza Not, Hunger, Verzweiflung?

Ich war 2009 dort und habe mich von den Verheerungen überzeugt, die die Israelis mit ihrem Angriffskrieg verursacht haben. Die Trümmer sind beseitigt, aber die Lebenssituation hat sich nicht viel geändert, es fehlt immer noch an allem. Da Israel den Land- und den Seeweg sperrt, kommt nur ein Teil der Lebensmittel, Baumaterialien oder der Dinge des täglichen Lebens ins Land. Der größte Teil der Versorgung wird immer noch über Tunnel aus Ägypten herbeigeschafft. Die Arbeitslosigkeit ist auf 43 Prozent gestiegen, betroffen sind vor allem Jugendliche und Frauen.

Interview: Peter Wolter

* Aus: junge Welt, 12. Oktober 2011


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