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Blockade total

Israel verweigert Niebel Gaza-Einreise

Von Peter Preiß *

Regierungsparteien und Opposition im Bundestag wollen Israel auffordern, die Blockade von Gaza aufzuheben und Hilfslieferungen auf dem Seeweg zuzulassen. Das geht aus einem gemeinsamen Entschließungsantrag von Union, FDP, SPD und Grünen hervor, über den die Süddeutsche Zeitung in ihrer Samstagausgabe berichtete. »Die Lebenslage der Zivilbevölkerung in Gaza muß dringend verbessert werden«, heißt es in dem Entwurf, der in dieser Woche im Parlament eingebracht werden soll. Auch die Linksfraktion fordert die Bundesregierung auf, Israel zur Beendigung der Gaza-Blockade zu bewegen. Allein, Druckmittel - die Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens oder die Einstellung der Rüstungslieferungen - werden von keiner Partei im Parlament genannt.

Die rechte Regierung Benjamin Netanjahus in Tel Aviv reagiert prompt auf den politischen Vorstoß und führt erst einmal Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel vor. Der FDP-Politiker auf Nahosttour darf von Israel aus nicht in den Gazastreifen einreisen, gerade so, als hätte er Rohre für Kassam-Raketen der Hamas im Gepäck oder embargowidrig Spielzeug und Schokolade für palästinensische Kinder - tatsächlich wollte Niebel am Samstag ein Klärwerk besuchen, das mit deutschen Geldern finanziert wird, und mit Vertretern des Hilfswerks der Vereinten Nationen für die palästinensischen Flüchtlinge sprechen. Zumal der israelische Ministerpräsident erst in der vergangenen Woche erklärt hatte, die Blockade lockern zu wollen - zumindest wurde das in der englischsprachigen Fassung seiner Pressemitteilung international kolportiert.

Niebel, Vizepräsident der deutsch-israelischen Gesellschaft, erklärt zum diplomatischen Affront diplomatisch deutlich: »Die Einreiseverweigerung für den deutschen Entwicklungshilfeminister in den Gazastreifen ist ein großer außenpolitischer Fehler der israelischen Regierung.« Er sei »betrübt, daß es Israel momentan auch seinen treuesten Freunden so schwer macht, ihr Handeln zu verstehen«. Das Einreiseverbot stößt hierzulande - vom Zentralrat der Juden und der Linksjugend BAK Shalom - einhellig auf Kritik. Allein, Konsequenzen für Israel benennt keiner. Ebensowenig wie der Ausgesperrte selbst. Niebel hat zwar konstatiert, die Zeit, die Israel angesichts der internationalen Proteste gegen die Gaza-Blockade noch bleibe, neige sich dem Ende zu. »Es ist für Israel fünf Minuten vor zwölf.« Israel sollte jetzt jede Chance nutzen, »um die Uhr noch anzuhalten«. Doch was passiert um zwölf?

Die seit Jahren und Jahrzehnten immer wieder vorgebrachten, letzlich aber folgenlosen Verurteilungen der israelischen Politik machen deren Fortdauer erst möglich. Ohne die finanzielle, politische und militärische Kooperation der EU und der USA mit Israel wäre das Land längst zur Korrektur der vielkritisierten Besatzung und Belagerung gezwungen. Ist ein Dirk Niebel nicht bereit, konkrete Konsequenzen zu benennen und zu realisieren, kann er den Palästinener in Gaza seine Anwesenheit ersparen.

* Aus: junge Welt, 21. Juni 2010


Fünf vor Zwölf für Israel

Von Roland Etzel **

Es ist fünf Minuten vor zwölf, meinte Entwicklungshilfeminister Niebel gestern, gemünzt auf Israel, und er bezog dies wohl nicht allein auf die Verweigerung seiner Einreise nach Gaza. Es war auch die Gelegenheit, deutsche Verärgerung über Israels Nahostpolitik im Allgemeinen anzusprechen. Die ignorante Haltung der Ultrarechtsregierung Netanjahu/Lieberman in Israel wird auch von seinen erklärten Freunden wie dem Berliner Kabinett zunehmend als Belastung empfunden.

Die Reaktion Israels auf Niebels Kritik dürfte diesen Eindruck bestätigt haben. Die Europäer wüssten seit langem, dass man keine Politikerreisen nach Gaza erlaube, belehrte ein israelischer Außenamtssprecher den deutschen Minister - dem diese Praxis, da lag der Beamte allerdings richtig, durchaus bekannt war. Aber auch Deutschland hatte wie alle Staaten der EU diese Anmaßung der israelischen Behörden stets hingenommen, obwohl sie ohne jeden Zweifel völkerrechtswidrig ist.

Doch der Überfall auf die Solidaritätsflotte hat manches verändert. Nibelungentreue Solidaritätsadressen, die es früher aus Berlin auch nach politischen Fauxpas Israels gab, stehen nicht auf der Tagesordnung. Das zu verdeutlichen, auch dafür war es wohl fünf Minuten vor Zwölf. Jemand musste es mal aussprechen. Für Merkel und Westerwelle wäre es ein peinliches Zurückrudern gewesen. Da kam ein hemdsärmeliger Typ mit vergleichsweise niederem Kabinettsrang wie Niebel gerade recht.

** Aus: Neues Deutschland, 21. Juni 2010 (Kommentare)

Weitere Pressestimmen ***

Das von Israel gegen Entwicklungsminister Niebel verhängte Einreiseverbot in den Gaza-Streifen prangert die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG an:
"Ein Affront ist das gegenüber der Bundesregierung, ein Akt imperialer Willkür – und für die israelische Regierung ebenso beschämend wie entlarvend. Sie scheint zu glauben, dass es ihr mehr dient, wenn niemand etwas erfährt über die Folgen der Blockade für 1,5 Millionen eingeschlossene Menschen. Dies zynische Kalkül jedoch darf niemand akzeptieren, und es gibt durchaus Möglichkeiten, diese Art der Blockade zu brechen – auch für Niebel. Er könnte schnellstens versuchen, auf anderem Weg nach Gaza zu kommen. Schließlich hat Ägypten die Grenze in Rafah geöffnet", heißt es in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.

Verständnis für Israel lässt dagegen die Zeitung DIE WELT anklingen:
"Die Israelis lassen generell keine ausländischen Politiker nach Gaza, um nicht die Hamas, die terroristische Organisation, die dort die Macht hat, aufzuwerten. Diese nutze solche Aktionen zu propagandistischen Zwecken und zur internationalen Aufwertung. Wie man mit einem geschworenen Feind reden und Koexistenz, gar ein Friedensabkommen erzielen soll, darüber machen sich die Besserwisser und Gutmenschen dieser Welt keine Gedanken. Für sie ist Israel immer der Täter, und alle anderen sind Opfer", unterstreicht DIE WELT.

Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG findet lobende Worte für Niebels Vorgehen:
"Die Beziehung der Bundesrepublik zu Israel wird auf Dauer eine von besonderer Qualität bleiben. Aber anhaltendes Unrecht, verbunden mit dem Mauerbau der Neuzeit, darf nicht zum Schweigen zur falschen Stunde führen. Es ist geradezu die Aufgabe der deutschen Politiker, wollen sie den historisch besonderen Beziehungen gerecht werden, dass sie alles tun, um der israelischen Gesellschaft zu helfen einen Weg heraus aus der Selbstisolierung zu finden. So gesehen hat Israel-Freund Niebel in Israel das Richtige in undiplomatisch deutlicher Art gesagt: Die israelische Regierung begeht in Gaza eine riesengroße Dummheit." Sie hörten die Meinung der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG.

Völlig anders sehen das die KIELER NACHRICHTEN:
"Obwohl Niebel wusste, dass ausländischen Regierungsvertretern grundsätzlich keine Einreise in den Gazastreifen bewilligt wird, hat er dies bis zuletzt versucht. Als Jerusalem dann, wie zu erwarten war, auch für den FDP-Bundesminister keine Ausnahme gemacht hat, bläst er zum lautstarken Protest. Wer so handelt, bemüht sich nicht um einen konstruktiven Dialog, sondern um Effekthascherei. Es gibt gute Gründe, die israelische Palästinenserpolitik zu kritisieren. Aber von einem Mann wie Niebel, der auch Vize-Präsident der deutschisraelischen Gesellschaft ist, darf ein eleganteres Vorgehen verlangt werden", finden die KIELER NACHRICHTEN.

*** Quelle: Deutschlandfunk, 21. Juni 2010

Niebel rudert zurück

Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel hat eine kritische Äußerung über Israel relativiert. Im Gespräch mit der Zeitung "Die Welt" bedauerte der FDP-Politiker seine Aussage, für Israel sei es "fünf vor Zwölf". Sie sei "unglücklich gewählt, weil sie interpretationsfähig war". Inhaltlich nehme er aber nichts zurück. Im ZDF sagte Niebel am Abend, er habe mit seiner Äußerung "Zeitfenster" gemeint, die sich schließen, so etwa das im September auslaufende Moratorium des Siedlungsbaus in Ostjerusalem.

Niebel besuchte nach einem Gespräch mit Israels Präsident Schimon Peres die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem. Gegenüber Peres habe er auch seine Kritik an dem gegen ihn verhängten Einreiseverbot erneuert, sagte der Minister. Er habe gesagt, dass der Besuch die legitime Palästinenserregierung von Salam Fajad gestärkt und die Hamas geschwächt hätte. Dies sei "der richtige Ansatz" gewesen, habe Peres entgegnet.

Nach einem Treffen mit Israels Außenminister Avigdor Lieberman sagte Niebel, beide seien bezüglich des generellen Zugangs zum Gazastreifen "nicht einer Meinung gewesen". Damit, dass ihm der Eintritt verwehrt werden könne, habe er "jederzeit gerechnet".

Die Bundesregierung plädiert für eine rasche Umsetzung des israelischen Beschlusses zur Lockerung der Blockade des Gazastreifens. Eine Belastung des deutsch-israelischen Verhältnisses durch den von Israel verwehrten Besuch im Gazastreifen von Niebel schloss Vize-Regierungssprecher Christoph Steegmanns aus.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüße das Ergebnis der Tagung des israelischen Sicherheitskabinetts als "wichtigen Schritt nach vorn", sagte Steegmanns. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) bezeichnete den israelischen Beschluss vom Sonntag, wieder mehr Güter in den Gazastreifen zu lassen, als "positiven Schritt, der geeignet ist, die Lebensbedingungen der Bevölkerung" im Gazastreifen zu verbessern.

Merkel bedauere jedoch, dass Niebel nicht in den Gazastreifen reisen durfte, sagte Steegmanns. Die Kanzlerin gehe davon aus, dass Niebel den Besuch später nachholen könne. Eine "Belastung des sehr vertrauensvollen Verhältnisses" zwischen Deutschland und Israel könne er indes nicht erkennen.

**** Nachrichtenagenturen, 21. Juni 2010




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