Gaza ist der Alptraum
Von Rüdiger Göbel *
Die israelische Armee beschießt Wohnviertel im Zentrum von Gaza mit Kampfhubschraubern, Panzern und Artillerie. Soldaten lieferten sich am Donnerstag Agenturberichten zufolge heftige Gefechte mit palästinensischen Kämpfern. Unter der Bevölkerung brach Panik aus, Häuser stehen in Flammen. Tausende Menschen versuchten, aus der innerstädtischen Kampfzone zu fliehen. Es spielten sich dramatische Szenen ab, die an die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York erinnern: Von den Balkonen ihrer Hochhäuser aus riefen Palästinenser verzweifelt um Hilfe. Für Rettungswagen und Sanitäter war kein Durchkommen mehr. Die UNO und die Hilfsorganisation CARE stellten ihre Hilfe komplett ein. Die CARE-Leiterin in Gaza, Martha Myers, berichtete, wegen des heftigen Bombardements »um die Vorratslager und Verteilungszentren herum« sei eine Auslieferung unmöglich.
Die israelische Armee bombardierte beim Vorrücken auf das Zentrum das Hauptquartier des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen in Gaza, ein Pressehochhaus und ein Hospital – offenbar gezielt . Denn das Militär verfügte über die genauen GPS-Koordinaten. Die UNO und mehrere TV-Sender hatten Tel Aviv die Daten übermittelt, damit die Gebäude von Angriffen verschont werden. Drei Mitarbeiter des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge wurden bei dem Beschuß verletzt. Ein Gebäude stand den Angaben zufolge in Flammen, Hunderte Tonnen Hilfsgüter sollen verbrannt sein. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, der am Donnerstag zu sogenannten Vermittlungsgesprächen nach Jerusalem gekommen war, zeigte sich »empört« über die Bombardierung. Israels Verteidigungsminister Ehud Barak sprach von einem »schweren Fehler«, der sich nicht wiederholen werde. Ban nannte zudem die Zahl der palästinensischen Opfer im Gazastreifen »unerträglich«. Seit Beginn der israelischen Militäroffensive am 27. Dezember wurden bis Donnerstag mittag nach Angaben der Rettungskräfte 1070 Palästinenser getötet, unter ihnen 335 Kinder. Mehr als 5000 weitere Menschen wurden verletzt.
Das Al-Quds-Krankenhaus in Gaza wurde mindestens vier mal beschossen. In einem Lagerraum brach Feuer aus. Nach Angaben von Klinikbeschäftigten haben die israelischen Truppen Phosphorgranaten eingesetzt, die schwere Verbrennungen verursachen. Friedensaktivisten der International Solidarity Movement berichteten aus dem Krankenhaus telefonisch, die israelische Armee habe das Gebäude abgeriegelt. Rund 400 Patienten und Mitarbeiter seien eingeschlossen. Im Krankenhaus seien über 150 Notanrufe eingegangen. Aber vor allem die Scharfschützen der israelischen Armee verhinderten, daß Verletzte erreicht werden, die dringend ärztlicher Hilfe bedürfen.
In dem getroffenen Medienhaus sind unter anderem Büros der Nachrichtenagentur Reuters und der US-Fernsehsender Fox und Sky untergebracht. Mehrere Journalisten wurden bei dem Angriff verwundet. Kugeln schlugen auch bei der Nachrichtenagentur AP ein. AFP-Korrespondent Adel Zaanoun erklärte am Donnerstag, die vergangenen drei Wochen seien die »bislang härtesten seines Berufslebens« gewesen. Jedes Mal, wenn er das Haus verlasse, wisse er nicht, ob er lebend wiederkehren werde. Nach Jahren der Berichterstattung aus Gaza habe er eigentlich gedacht, daß ihn »nichts mehr schockieren« könne. Doch besonders der Besuch eines Krankenhauses kurz nach Beginn der israelischen Angriffe sei ein Horror gewesen, wie er ihn noch nicht erlebt habe. Blutige abgetrennte Körperteile hätten überall herumgelegen. »Es war wie in einem Alptraum.«
* Aus: junge Welt, 16. Januar 2009
Kinder ohne Schutz
UNO kritisiert Israels Vorgehen in Gaza scharf. Hunderte Minderjährige getötet und verletzt. Unzureichende medizinische Hilfe auch für Schwangere und Neugeborene
Von Karin Leukefeld **
In scharfer Form hat die UN-Kinderrechtskommission in Genf Israel für sein militärisches Vorgehen in Gaza kritisiert. Die Menschenrechtsverletzungen »schreien zum Himmel«, der Krieg wirke sich »verheerend« auf die Rechte der Kinder in Gaza aus, hieß es in einer Stellungnahme. Leben und Wohlergehen der Kinder werde »mißachtet«. 193 Staaten haben die UN-Konvention zum Schutz der Kinder unterzeichnet, keine andere Vereinbarung der Vereinten Nationen trägt so viele Unterschriften. Auch Israel gehört zu den Unterzeichnerstaaten, habe aber die »darin enthaltenen Verpflichtungen eklatant verletzt«, erklärte die UN-Kinderrechtskommission in dieser Woche. Hunderte Jugendliche und Kinder seien getötet oder verletzt worden. Gesundheit, Bildung und das Leben der Familien würden mißachtet. »Die emotionalen und psychologischen Auswirkungen dieser Ereignisse werden eine ganze Generation von Kindern schwer belasten«, heißt es. Es gehe aber nicht nur darum, die Kinder zu schützen, sondern auch die Orte, wo diese sich aufhalten: »Schulen und Krankenhäuser müssen als Angriffsziele ausgeschlossen werden.« Das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza manifestiere die völlige Mißachtung des Kinderschutzes. Allein in der Al-Fakhura-Schule, einer UN-Einrichtung, wurden bei dem israelischen Angriff am 7. Januar 43 Menschen getötet. Der weltweite Protest gegen das Massaker konnte Israel bis heute nicht davon abhalten, weiter Kinder, Mütter und Zivilisten im Gazastreifen zu töten.
Selbst ungeborene und neugeborene Kinder sind vor den Angriffen Israels nicht sicher. Einer Studie des UN-Bevölkerungsprogramms (UNFPA) zufolge sind 40000 Frauen im Gazastreifen schwanger, pro Tag werden etwa 170 Kinder geboren. Aufgrund des Krieges können viele Mütter nicht rechtzeitig eine Klinik erreichen, benötigte Hilfe bleibt den Neugeborenen häufig versagt. Sherine Tadros, Gaza-Korrespondentin des TV-Senders Al-Dschasira, berichtete kürzlich von dem kleinen Mohammad, der am 27. Dezember 2008 geboren worden war, als der israelische Überfall begann. Seine Frau sei so voller Angst gewesen, daß das Kind beinahe tot geboren worden wäre, berichtete der Vater Saed Assef dem Fernsehteam. Der Junge habe nach der Geburt nicht richtig geatmet, es seien Stunden vergangen, bis er in ein Krankenhaus gekommen sei und mit Sauerstoff habe versorgt werden können. Selbst wenn der kleine Mohammad überlebe, werde er sein Leben lang behindert bleiben, erklärte der Kinderarzt Ahmed Schataat gegenüber Al-Dschasira. »Schwangere Frauen und ihre Neugeborenen gehören zu den unsichtbaren Opfern dieses Krieges«, erklärte die Direktorin des UN-Bevölkerungsprogramms in Gaza, Thoraya Ahmed Obaid.
Der norwegische Arzt Mads Gilbert, der mit Kollegen zwei Wochen lang im Al- Schifa-Krankenhaus arbeitete, erklärte nach seiner Rückkehr in Oslo, was in Gaza geschehe, erinnere ihn an die Massaker von Sabra und Schatila im Libanon 1982. Auch damals waren die Ärzte aus Norwegen im Einsatz, um verletzten und traumatisierten Palästinensern zu helfen.
** Aus: junge Welt, 16. Januar 2009
Solidarität: Venezuela schickt Ärzte nach Gaza
Von Wolfram Metzger ***
Venezuela plant Hilfsaktionen für die Palästinenser im Gazastreifen. Als Antwort auf das von der israelischen Armee angerichtete Blutbad, dem bereits über 1000 Menschen, darunter Hunderte Frauen und Kinder, zum Opfer fielen, bereitet die bolivarische Regierung in Caracas medizinische Nothilfe vor. Ein erstes Flugzeug mit Ärzten und Medikamenten soll in den kommenden Tagen Richtung Gaza starten. Weitere Hilfslieferungen sind im Gespräch.
Dr. Fares Asfour Rodríguez ist Facharzt für Allgemeinmedizin (Medicina General Integral) und arbeitet in der Basisgesundheitsversorgung der Armenviertel Venezuelas (Barrio Adentro). Er ist palästinensischer Herkunft und koordiniert eine Gruppe von 20 venezolanischen Medizinern, die in den Nahen Osten aufbrechen: »Die Situation in Gaza ist schrecklich. Man kann davon ausgehen, daß die Infrastruktur der Gesundheitsversorgung zerstört ist. Wir wollen versuchen, mit dem Nötigsten, Medikamenten und medizinischer Basisversorgung, zu helfen. Die venezolanische Regierung will mit dieser Aktion ein Zeichen für den Frieden setzen.«
Die »Medicos Generales Integrales« sind Mitglieder der Organisation »Venezolanische Ärzte und Gesundheitsarbeiter für Frieden und Gleichheit« (Médicos y Trabajadores de Salud de Venezuela por la Paz y la Equidad), die seit Ende vergangenen Jahres Teil der internationalen Ärzteorganisation IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung) ist. Sie wollen einen Monat in Gaza arbeiten.
Aufgrund der anhaltenden Angriffe auf Gaza haben Venezuela und Bolivien mittlerweile die diplomatischen Beziehungen mit Israel abgebrochen.
*** Aus: junge Welt, 16. Januar 2009
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