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Eingesperrt in der Ödnis

Säkulare Jugendliche haben im Gaza-Streifen nichts zu feiern

Von Martin Lejeune, Gaza *

Bars, Kinos und Diskotheken gibt es im Gaza-Streifen nicht. Jugendliche, die sich nicht an die politischen und moralischen Vorstellungen der herrschenden Hamas halten, haben kaum Möglichkeiten auszugehen.

Immer mehr palästinensische Jugendliche aus der Partystadt Tel Aviv und aus dem klerikalen Jerusalem fahren Donnerstagnacht zum Feiern nach Ramallah ins Westjordanland. In diesen Genuss kommt eine große Gruppe junger Leute in der Region aber nicht: die Hunderttausenden Jugendlichen im Gaza-Streifen. Obwohl sie nur eine Dreiviertelstunde von Ramallah entfernt leben. Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada ist die Bewegungsfreiheit der Menschen in Gaza so stark eingeschränkt, dass sie weder nach Ramallah noch nach al-Majdal (Ashdod) in Israel oder ins ebenfalls nahe gelegene al-Areesh in Ägypten fahren können, um am Wochenende etwas Spaß zu haben.

Dennoch versuchen sich die säkular eingestellten Jugendlichen in der Hamas-Bastion an den Wochenenden irgendwie zu amüsieren. Zum Beispiel in der »Gallerie«, einem Café neben dem Hauptquartier des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten in Gaza-Stadt. Ein Veranstalter, der seinen Namen nicht nennen möchte, hatte hier eine Weile donnerstags nachts kleine Partys für weltliche Geister angeboten. Doch schnell bekam er Ärger mit der Hamas, die Tanzen und Singen zu westlicher Musik, US-amerikanischem Hip-Hop noch dazu, untersagt.

Die Hamas duldet keine westliche Musik

Einer, der während der letzten Partyabende treu in die »Gallerie« kam, war Moamen. »Obwohl Männer und Frauen nicht zusammen getanzt haben, gab es Ärger mit der Hamas«, sagt der 23-jährige arbeitslose Lehrer. Er sitzt in dieser Donnerstagnacht mit seinen vier Brüdern im Wohnzimmer seines Elternhauses in Gaza-Stadt. »Heute Nacht gehört die Stadt nicht mehr uns, sondern der Hamas«, ruft er ihnen zu. Sein Bruder Antar entgegnet: »Nun können wir nur noch zu Hause abhängen oder in Cafés und Restaurants gehen.« Immerhin zu letzterem ringen sie sich in dieser Nacht noch durch. Doch die finanziellen Probleme sind stetige Begleiter.

Die Jungen beschließen, ins »Istanbul« zu gehen, ein reines Männer-Café, das von ärmeren Anwohnern frequentiert wird, die mit Kartenspielen und Wasserpfeife rauchend den Abend verbringen. »Im ›Istanbul‹ kosten die Getränke weniger als in den schicken Familiencafés, zu denen auch Frauen Zutritt haben«, erklärt Moamen die Wahl des Lokals. Geflirtet wird eben erst wieder an einem anderen Abend.

Auf der Straße wollen viele Jugendliche Antars Hand schütteln. Er ist wegen seiner Sprechgesangskünste sehr beliebt. Regelmäßig gibt er Hip-Hop-Workshops für arbeitslose Jugendliche. »Aber ich habe ein Geldproblem«, seufzt Antar. »Leider kann man im Gaza-Streifen mit Rap kein Geld verdienen. Doch wenigstens hängt man nicht den ganzen Tag sinnlos auf der Straße ab«, begründet er sein Engagement. Der 25-Jährige ist mittlerweile so bekannt, dass er Konzerte gibt - eigentlich. Denn die Hamas verbietet immer wieder solche Veranstaltungen, angeblich um die Nachtruhe zu wahren.

Wie widersprüchlich diese Begründung ist, zeigt sich beim Durchstreifen des Wohnviertels Tal al-Hawa. Aus einem großen Penthouse mit Dachterrasse, das der Eigentümer für Hochzeiten und private Feste vermietet, schallt traditionelle arabische Musik. »Das ist hier jede Donnerstagnacht so laut«, sagt Antar. »Diese Art von Musik wird erlaubt. Unsere Konzerte aber werden verboten, weil wir politische und religionskritische Texte rappen.«

Der Hip-Hop, dem Antar in Gaza frönt, ist nicht zu vergleichen mit den Texten der US-amerikanischen Rapper. »Wir singen nicht über Pussys und posieren nicht vor großen Autos«, erklärt Antar. »Unsere Texte handeln von dem bedrückenden Leben in Gaza, den politischen Problemen, der fehlenden Freiheit und von unserer Perspektivlosigkeit.«

Als Antar 2004 mit der Rapmusik begann, löste das einen kleinen Skandal in seiner Umgebung aus. Er wurde wegen seines Hip-Hop-Lebensstils, seiner schrägen Frisuren, seiner aus Sicht der Hamas zu legeren Kleidung und seiner extrovertierten Gestik von der Islamischen Universität geworfen, an der er Ingenieurwissenschaft studierte. »Es war sowieso mehr der Wunsch meiner Mutter, dort zu studieren. Die Zwangsexmatrikulierung hat mir nichts ausgemacht«, blickt Antar auf sein junges Leben zurück.

Arbeitslos trotz guter Noten im Studium

Moamen hat vor zwei Monaten sein Lehramtsstudium als Grundschullehrer an der Al-Azhar-Universität beendet. Er bewarb sich bisher erfolglos um ein Referendariat an einer staatlichen Schule. »Die Absagen hängen nicht mit meinen Abschlussnoten zusammen«, sagt Moamen. Die seien gut, versichert er. »Aber ich bin nicht in der Hamas organisiert.«

Moamens anderer Bruder Mohaned, 27, gehört gar dem Waqay an, einer bewaffneten Sicherheitstruppe der al-Fatah. Er wurde erst kürzlich von der Hamas aus dem Gefängnis entlassen. »Der einzige Grund, weshalb ich im Gefängnis war, ist der, dass ich dem Waqay angehörte«, sagt Mohaned, der zurzeit zwar nicht mehr in deren Dienst steht, aber weiterhin sein monatliches Gehalt von der Autonomiebehörde in Ramallah überwiesen bekommt. Mit diesem Salär finanziert er die ganze Familie. Die fünf Brüder sind Halbwaisen, seit ihre Mutter vor sechs Jahren an Krebs starb. An der Fassade ihres Hauses prangt für alle Nachbarn sichtbar die Fahne der al-Fatah - ein Affront für die Hamas.

Mohammed, 23, ein enger Freund der Brüder, stößt zu der Gruppe dazu. Er war 2007 vor der Hamas nach Ramallah geflohen, weil er zu diesem Zeitpunkt Soldat in der Garde von Mahmud Abbas, dem heutigen Präsidenten der Autonomiebehörde in Ramallah, war. 2007 übernahm die Hamas die Kontrolle in Gaza. Erst seit einer Woche zurück in Gaza, will Mohammed, der einen Bachelorabschluss als Rechnungsprüfer hat, in seiner Heimat bleiben. Die erst durch die Proteste der »Bewegung 15. März« erzwungene Versöhnung zwischen Fatah und Hamas hat Mohammeds Rückkehr ermöglicht.

Praktisch durfte er nur von Ramallah nach Gaza reisen, weil er eine Ramallah-Identitätskarte hat. Die etwa 1,7 Millionen Inhaber von Gaza-Identitätskarten können gar nicht zwischen Gaza und Ramallah hin- und herfahren. Doch auch für Mohammed war es die Hölle. Drei Wochen hat er von Ramallah nach Gaza gebraucht - über Jordanien und Ägypten. Nun lebt er allein in Gaza, Mutter und Geschwister wohnen in Ramallah.

Aus dem tristen Männercafé geht es weiter in das »Shalihat Resort«, einen gepflegten Vergnügungspark mit privater Strandpromenade in bester Innenstadtlage. Die zehn Schekel Eintritt pro Person übernimmt Mohammed von seinem letzten Geld. Eine Dose Cola würde fünf weitere Schekel kosten, doch die jungen Männer setzen sich ohne Getränk an einen der freien Tische im Garten. Nebenan wird Fußball gespielt. Auf einer großen Videoleinwand läuft ein Trickfilm. Die frische Meeresluft vermischt sich mit dem süßen Apfelduft der Wasserpfeifen. Viele Frauen tragen den Niqab, ein schwarzes Ganzkörperkleid mit einem kleinen Schlitz für die Augen. »Das sind arabische Ninjas«, scherzt Antar und fügt etwas ernsthafter hinzu: »Seit der Machtergreifung der Hamas tragen mehr Frauen als zuvor den Niqab.«

Überhaupt habe sich vieles verändert in den letzten Jahren. »Es gab an dem gleichen Ort hier früher wilde Strandpartys mit Alkohol. Israelische Araber kamen am Wochenende aus Israel, um in Gaza zu feiern. Jetzt gibt es hier nichts mehr. Wir müssen unsere Wochenenden an einem so öden Ort wie dem Shalihat Resort verbringen«, erzählt Antar. Es sei vor allem für jene schwierig, die die andere Welt kennen, wo es Diskotheken gebe und in der man Frauen kennenlernen könne. Unmöglich sei dies nun in Gaza, wo die Polizei Paare an öffentlichen Orten nach der Heiratsurkunde fragt.

Die andere Welt scheint unerreichbar

»Die Leute, die einmal draußen waren«, meint Mohammed, »haben zwei Kulturschocks bekommen: einen beim Verlassen des Gaza-Streifens und einen bei ihrer Rückkehr.«

Am Strand des Shalihat Ressorts gehen Frauen sogar im Niqab ins Wasser. Moamen verzichtet auf ein Bad. »Das Wasser an der Küste ist zu schmutzig, weil hier die Abwasserrohre enden und von israelischen Schiffen Altöl ins Meer gekippt wird«, sagt er und blickt Richtung Norden, wo die hell erleuchteten Hochhäuser von Ashdod in den Himmel ragen: »Wer dort lebt, hat es besser als wir, hat rund um die Uhr Strom und fließendes Wasser und kann mit dem Schiff ablegen, wohin er will.«

Gegen ein Uhr gehen die Jungs nach Hause, ohne etwas getrunken oder gegessen zu haben. Dafür wird nun im Kinderzimmer aus der selbstgebauten Wasserpfeife Marihuana geraucht.

* Aus: neues deutschland, 10. November 2011


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