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Verteilungskrieg

Israel will Widerstand in Gaza brechen: Angriffe auf Hamas-Mann Dschabari torpedierten Verhandlungslösung für langanhaltenden Waffenstillstand

Von Karin Leukefeld *

Der Angriff auf Gaza zeigt, daß die Regierung Netanjahu kein Interesse an Verhandlungen über einen palästinensischen Staat hat. Sie will den Widerstand im Gazastreifen brechen, ein und für alle Mal«, ist Marie Debs von der Kommunistischen Partei Libanons überzeugt. Im Gespräch mit jW in Beirut erinnert Debs daran, daß der palästinensische Widerstand mehr Gruppen umfasse, als die Islamisten von Hamas und Islamischem Dschihad. Auch linke Gruppen wie die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) leisteten militärischen Widerstand gegen die Besatzungsmacht. »Israel macht aus dem Konflikt mit den Palästinensern einen religiösen Konflikt zwischen Muslimen und Juden«, sagt Marie Debs. Damit mobilisiere Regierungschef Benjamin Netanjahu die reaktionärsten Kräfte in Israel. Die eigentliche Ursache des Konflikts – illegale Besatzung, Ausbau der Siedlungen und wirtschaftliche Unterdrückung insbesondere im Gazastreifen durch die anhaltende Belagerung – würden ausgeklammert. Außerdem spiele die Kontrolle von Energiequellen, Öl und Gas, eine Rolle. Im Mittelmeer zwischen Libanon, Gaza und Zypern sei ein »goldenes Dreieck« von Gas gefunden worden, das wolle Israel sich aneignen. Die größten Gasressourcen lägen auf libanesischem Gebiet, vor der Küste von Gaza würden die zweitgrößten Ressourcen vermutet. Mit Zypern habe Tel Aviv einen Vertrag über die Ausbeutung der dortigen Gasvorkommen geschlossen, »doch im Libanon und Gaza bleibt Israel außen vor.« Eine Bodenoffensive der israelischen Armee hält Marie Debs nicht für wahrscheinlich. »Es sei denn, sie wollen ein Massaker in Gaza anrichten.« Hamas sei »im Herzen der Menschen« und zudem an einem dauerhaften Waffenstillstand interessiert.

Darauf verweist auch der Friedensaktivist Gershon Baskin. Der »Mord an Dschabari war ein Präventivschlag gegen die Möglichkeit eines lange anhaltenden Waffenstillstandes«, schreibt er in einen Beitrag für das Aachener Friedensmagazin www.aixpaix.de. Baskin, der im Hintergrund der Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Schalit eine Rolle spielte, hatte durch eine Vermittlerperson bei der Hamas einen Mechanismus für einen anhaltenden Waffenstillstand vorgeschlagen. Das Papier war Hamas-Militärchef Ahmed Al-Dschabari zur Ermittlung von »Reaktionen darauf in Gaza« vorgelegt worden. Zur Vorlage des Papiers auf der israelischen Seite kam es nicht mehr, die israelische Luftwaffe hatte Dschabari am vergangenen Mittwoch getötet. »Und mit ihm die Chance für eine für beide Seiten vorteilhafte Verständigung auf einen lange anhaltenden Waffenstillstand«, schreibt Baskin.

Für die Historikerin Sofia Sadeh ist der Krieg gegen Gaza »Teil eines Verteilungskrieges« in der Region. Rußland, China und die USA würden ihre Grenzen abstecken. Bei einer Neuaufteilung der Weltmacht, wie der US-Globalstratege Zbigniew Brzezinski es in seinem jüngsten Buch »Strategische Vision« formuliert habe, müßten Washington und Moskau sich einigen. Die Professorin für Moderne Geschichte des Nahen Ostens an der Arabischen Universität in Beirut meint, Netanjahu fürchte, daß Washington sein Interesse am Nahen Osten verliere, denn »die USA haben längst ihre Augen auf das chinesische Meer gerichtet«, und »Krieg an zwei Fronten, im Nahen Osten und gegen China«, könne die US-Armee nicht führen. Mit dem Krieg gegen die Hamas wolle Netanjahu die USA wieder an sich binden, doch Präsident Barack Obama habe den ägyptischen Staatschef Mohammed Mursi angerufen, um in Gaza zu intervenieren. Ägypten und die Türkei sollten demnach den Konflikt zwischen Israel und der Hamas lösen, meint Sadeh. In Jordanien entstehe gerade ein neuer Stellvertreterkrieg zwischen dem König und Islamisten und Salafisten. Die Interessenssphären im Nahen Osten könnten nach Meinung von Sadeh zwischen den USA und Rußland neu abgesteckt werden, wie zwischen Großbritannien und Frankreich im Sykes-Picot-Abkommen 1916. Iran, Irak, Syrien und Libanon könnten russische und chinesische Einflußsphäre werden, alles südlich davon Einflußsphäre der USA.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 20. November 2012


Abwarten und zuschauen

Die Geschichte wiederholt sich, da die Weltgemeinschaft Gaza den Rücken zukehrt

Von Raji Sourani **


Israel hat in den vergangenen Tagen Hunderte Luftangriffe durchgeführt und Gaza verwüstet. Wir sitzen in Gaza und warten auf die nächste Phase der Offensive. Die Straßen sind verlassen, da die Menschen große Angst haben, sich draußen zu bewegen. Weiter werden Zivilisten verletzt und getötet. Es ist derzeit unmöglich, die genaue Zahl zu erfahren. Außerhalb des Gazastreifens beobachtet die Welt im Fernsehen, was hier vor sich geht. Und wartet.

Vor fast vier Jahren begann Israel die »Operation Gegossenes Blei«, ein 23 Tage langer Angriff auf den Gazastreifen, der die zivile Bevölkerung ins Zentrum des Sturms brachte. Bei dieser Offensive waren 82 Prozent der Getöteten Zivilisten; 1179 der Toten waren nach internationalem Recht sogenannte geschützte Personen – als die Welt zusah.

Als Folge der seit unvorstellbaren fünf Jahren andauernden israelischen Blockade des Gazastreifens sind die durch »Gegossenes Blei« verursachten Zerstörungen noch immer nicht ganz repariert. Als die Bomben heute fielen, fügten sie zum alten Schutt neuen hinzu. Noch eine Generation Zerstörung. Die schon geschwächte Infrastruktur, besonders die Krankenhäuser, macht es für die Menschen sehr schwer, zurecht zu kommen.

Nach der »Operation Gegossenes Blei« waren wir davon überzeugt, daß die Welt reagieren würde. Sie hätte es tun müssen. Das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) und andere Organisationen dokumentierten zahllose Fälle von Kriegsverbrechen, die von den israelischen Kräften begangen wurden. Wir übergaben die Unterlagen unter anderem der UN-Fact-Finding-Mission über den Gaza-Konflikt, die schlußfolgerte, daß die »Operation Gegossenes Blei« »gegen das Volk von Gaza als Ganzes« gerichtet war. Israels Politik gründete demnach auf einer »bewußten Politik der unverhältnismäßigen Gewalt« und zielte nicht auf den Feind, sondern auf die »unterstützende Infrastruktur«. Praktisch war damit die Zivilbevölkerung gemeint. Auf diese Schlußfolgerungen gegründet, empfahl die Fact Finding Mission, daß der UN-Sicherheitsrat das Geschehen im Gazastreifen an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überantwortet, damit alle verdächtigen Kriegsverbrecher ermittelt, angeklagt und vor Gericht gestellt werden können.

Das war keine ungewöhnliche Schlußfolgerung. Es war eine Antwort auf klare Erfordernisse des Völkerrechts. Seit fast vier Jahren kämpft das PCHR für die Umsetzung dieser Empfehlungen. Unsere Organisation vertritt mehr als 1400 Opfer der »Operation Gegossenes Blei«. Sie haben an die Gültigkeit des Rechts geglaubt und sich auf das Versprechen der universalen Menschenrechte verlassen.

Ihre Überzeugung stieß auf Realpolitik und eine internationale Gemeinschaft, die nicht bereit ist, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Die internationale Gemeinschaft hat unter dem Vorwand von Frieden und Sicherheit durchweg politische Überlegungen über die Menschenrechte gestellt. Sie hat dem Recht und den Opfern ihren Rücken gekehrt.

Nun erleben dieselben Opfer zusammen mit der ganzen Bevölkerung des Gazastreifens noch einmal erbarmungslose Angriffe. Wieder wird das internationale Recht mißachtet, während Israel Welle um Welle von Angriffen auf den Gazastreifen ausführt. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erzählt uns, daß dies nur der Anfang sei.

Unsere Forderung ist nicht extravagant oder unvernünftig. Wir wünschen uns nur, wie Gleiche behandelt zu werden. Wir bitten darum, daß unsere Rechte geachtet werden, daß die sogenannten universalen Menschenrechte auch für den Gazastreifen gelten. Wir bitten darum, daß die Rechtsstaatlichkeit respektiert wird, und daß alle Verantwortlichen für die Verletzungen des internationalen Rechts Rechenschaft ablegen müssen.

Wir erinnern die internationale Gemeinschaft an den letzten Angriff auf den Gazastreifen, als Zivilisten die volle Wucht der politischen Untätigkeit zu spüren bekamen. Wir sollten nicht darauf warten müssen, daß dieselben Brutalitäten wieder begangen werden. Wir fordern Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit. Wir träumen von einem normalen Leben in Freiheit und Würde.

Raji Sourani ist Direktor des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte in Gaza (PCHR). Der Text erschien am 17. November auf der Internetseite von Al Dschasira. Übersetzung: Ellen Rohlfs

* Aus: junge Welt, Dienstag, 20. November 2012


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