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Geblieben ist nur, wer muss

In Sderot hält sich der Jubel in Grenzen *

Seit Mittwoch, etwa 21 Uhr MEZ, fliegen keine Raketen mehr von Gaza nach Israel, und von dort steigen keine Bomber mehr gegen Gaza auf. Oliver Eberhardt berichtet für »nd« von beiden Seiten der Grenze. Er war am Mittwoch in Sderot und am Donnerstag in Gaza-Stadt.

Mit der Nacht kommt die Ruhe. Über den tristen Häusern der israelischen Peripherie heulen die Sirenen immer seltener. Bis sie gar nicht mehr ertönen. Manchmal meint man in der Ferne einen Knall zu hören. Aber vielleicht ist es auch Einbildung. In Sderot, jener Stadt hinter der Nordostecke des Gaza-Streifens, füllen sich an diesem Mittwochabend die Straßen. Familien, Freunde treffen sich im Park. Die Waffenruhe scheint zu halten.

Aber Freude, Euphorie, Zuversicht - nichts davon ist zu spüren. »Es gibt keinen Grund dafür«, sagt Motti Levy, 29, zweifacher Vater, der samt Familie vor einer Falafelbude wartet: »Die Kids haben sich die ganze Woche drauf gefreut.« Nicht nur sie: Das Gedränge ist gigantisch; so viel, sagt der Besitzer, habe er schon seit langem nicht mehr zu tun gehabt. »Tja«, fügt Levy hinzu, »für die meisten von uns ist das Luxus.«

Denn Sderot das ist nicht nur die Stadt der Raketen. Nach Angaben des Amtes für Statistik ist hier auch am Ende des Geldes am meisten Monat übrig. Man muss beides zusammen betrachten, um zu verstehen, warum die Menschen hier, obwohl von der Grundhaltung her religiös und konservativ, trotz der Waffenruhe keine positiven Worte für die von religiösen und rechts-konservativen Parteien gestellte Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu finden.

Man glaubt ihm nicht, dass er hier etwas verändern möchte. Kurz nach Bekanntwerden der Vereinbarung kam wenigstens die leichte Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung auf. Doch als der Wortlaut bekannt ist, wird Wut daraus: Denn das Papier beinhaltet nur, man werde nicht mehr aufeinander schießen, es an Ägypten weiter sagen, wenn es doch getan wird, und außerdem nach 24 Stunden Ruhe die Grenzen in den Gaza-Streifen öffnen. Das reiche doch, beschwichtigen die Regierungssprecher die Nacht über: Die militärischen Strukturen der Hamas seien durch die nach offiziellen Angaben rund 1500 Luftangriffe »nachhaltig geschwächt«, das Arsenal an Mittel- und Langstreckenraketen massiv dezimiert worden. In einer Pressekonferenz kurz nach Beginn der Waffenruhe betont Netanjahu wieder einmal, er werde alles tun, um die Bürger Israels zu schützen, bevor er den Durchhaltewillen der Menschen lobt.

Durch die Menge vor der Falafelbude geht ein Aufschrei, als die Worte des Regierungschefs aus dem Fernseher an der Wand dröhnen. »Absolut unfassbar«, ruft jemand. Andere finden sehr viel härtere Worte. »Wir sind nicht hier geblieben, weil wir wollten, sondern weil wir müssen«, sagt Levy, »wir haben nicht mal Geld für den Bus nach Tel Aviv und schon gar nicht für ein Hotel.«

Denn wie viele andere hier ist auch er arbeitslos. Die Quote im Umland Gazas liegt bei etwa 30 Prozent. Und schuld daran ist nicht allein der ständige Raketenbeschuss: Vor allem das produzierende Gewerbe macht einen Bogen um die Gegend, weil die Regierung trotz reichhaltiger Versprechungen nichts in die Infrastruktur investiert. Das hat dazu geführt, dass die Fachkräfte weggegangen und diejenigen zurückgeblieben sind, die keine andere Wahl haben.

Bei den Parlamentswahlen Anfang 2009 hatten die Einwohner von Sderot überwiegend den Likud-Block Netanjahus gewählt. Von ihm erhoffte man sich, dass er all diese Probleme angeht. Passiert ist das Gegenteil: Die Mehrwertsteuer wurde erhöht und damit auch die Lebenshaltungskosten. Die Zahl der Arbeitsplätze ist weiter gesunken.

Und die Ruhe dieser Nacht könnte nicht lange dauern, wie auch die Regierung einräumt: »Sie kann neun Wochen oder neun Monate dauern«, erklärte Verteidigungsminister Ehud Barak am Donnerstagmorgen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 23. November 2012

Waffenruhe

  • An den Nahostfronten um den Gaza-Streifen herrscht Ruhe: Die zwischen Israel und der Hamas ausgehandelte Waffenruhe hatte bis zum Donnerstagabend Bestand.
  • Die von Ägypten vermittelte Einigung sieht vor, dass beide Seiten ihre Angriffe beenden. Israel verpflichtet sich, Angriffe aus der Luft, vom Boden und von See aus zu unterlassen. Die Palästinenser müssen Angriffe mit Raketen und an der Grenze beenden. Die Grenzübergänge zum Gaza-Streifen sollen geöffnet und der Verkehr von Personen und Waren erleichtert werden.
  • Seit Mittwoch vergangener Woche waren im Gaza-Konflikt 162 Palästinenser und sechs Israelis getötet worden. Auf palästinensischer Seite wurden mehr als 1300 Menschen verletzt, in Israel mehr als 100. Insgesamt wurden etwa 1500 Raketen auf Israel abgefeuert; Israels Luftwaffe griff mehr als 1400 Ziele im Gaza-Streifen an.
  • Die Hamas erklärte den 22. November zum Nationalfeiertag.
(nd, Freitag, 23.11.2012)



Zurück zur Normalität

Nach den Bomben: US-Präsident sichert Israel weitere Milliarden für das Militär zu. Palästinenser bekommen ein paar Millionen für Nothilfe und Wiederaufbau in Gaza

Von Karin Leukefeld **


Ein von Ägypten vermittelter Waffenstillstand zwischen Israel und der palästinensischen Hamas im Gazastreifen hat am Donnerstag gehalten. Am Mittwoch abend waren der ägyptische Außenminister Mohammed Kamel Amr und seine US-Kollegin Hillary Clinton überraschend in Kairo vor die Presse getreten, um ein Ende der Gewalt zu verkünden. Die Chefin des State Department war erst am Dienstag in der Region eingetroffen, hatte aber offenbar eine entscheidende Botschaft von US-Präsident Barack Obama für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu mitgebracht. Die USA werden die Militärhilfe für Israel – drei Milliarden US-Dollar – weiter aufstocken. Erst im Frühjahr hatte Israel zusätzliche 70 Millionen US-Dollar erhalten. Netanjahu rief daraufhin nach Auskunft seines Büros Obama an und versicherte, er werde dem Waffenstillstand »eine Chance« geben. Noch 24 Stunden zuvor hatte der israelische Regierungschef sich geweigert, einer Waffenruhe zuzustimmen.

Karin Leukefeld

referiert auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 in Kassel zum Thema:
Was habt ihr dem arabischen Frühling in Libyen und Syrien angetan!?
Hier geht es zum Programm des Kongresses



Angeblich handelt es sich um eine mündliche Vereinbarung. Die konkreten Punkte sollen verhandelt werden, wenn der Waffenstillstand 24 Stunden gehalten hat. Der stellvertretende Vorsitzende der Hamas, Mussa Abu Marsuk, erklärte im katarischen Fernsehsender Al-Dschasira, Israel habe zugesagt, gezielte Morde an Palästinensern zu stoppen. Außerdem sollen die Grenzübergänge zu Gaza für Personen und Waren geöffnet werden. Die palästinensischen Hoheitsgewässer, die von Israel im Rahmen der Belagerung des Küstenstreifens besetzt gehalten werden, sollen für die Fischerei frei gegeben werden. Die Palästinenser haben sich ihrerseits verpflichtet, keine weiteren Raketen nach Israel zu feuern. Tel Aviv besteht zudem darauf, daß Waffenlieferungen in den Gazastreifen gestoppt werden müssen.

Israelische Armee- und Sicherheitskräfte begannen unmittelbar nach Beginn des Waffenstillstands in der Nacht zum Donnerstag eine breit angelegte Militäroperation in Teilen des besetzten Westjordanlandes. Nach eigenen Angaben nahmen Soldaten 55 Personen unterschiedlicher palästinensischer Gruppen fest, darunter auch hochrangige Politiker. Die Armee werde weiter für Ordnung sorgen und verhindern, daß »Terroristen in israelische Gemeinden eindringen« könnten, hieß es in einer Stellungnahme des Militärs.

Nachdem die israelischen Luftangriffe gegen den Gazastreifen aufgehört hatten, waren in der Nacht zum Donnerstag Tausende Menschen auf die Straßen geströmt. Sie waren zu Fuß, mit Autos oder auf Motorrädern unterwegs, viele schwenkten Fahnen beim Zug durch ihre zertrümmerten Viertel. Bonbons wurden verteilt, Freudenschüsse hallten durch die Nacht, berichteten Korrespondenten. Er fühle sich, als habe er seine »Freiheit zurückerlangt«, sagte ein Mann dem Reporter der Agentur Maan News. »Wir danken Gott für die Hamas, wir danken Gott für die Geduld und Kraft des palästinensischen Volkes, das Israel demütigen konnte.« Besonders gefeiert wurde Ahmed Al-Dschaabari, der militärische Führer der Kassam-Brigaden der Hamas. »Dschaabari hat gewonnen, tot und lebendig«, riefen Aktivisten über die Lautsprecher der Moscheen. Der Hamas-Militärchef war am 14. November von Israel mit einem gezielten Raketenangriff getötet worden. Der Anschlag war von Hamas und bewaffneten Gruppen in Gaza als »Kriegserklärung« bezeichnet und beantwortet worden. Israel begründet seinen Waffengang mit »anhaltendem Raketenbeschuß aus dem Gazastreifen«.

In dem acht Tage dauernden Krieg starben auf israelischer Seite fünf Menschen. Die Zahl der Verletzten wird mit 100 angegeben. Auf seiten der Palästinenser starben mindestens 170 Menschen, darunter mehr als 30 Kinder. Etwa 1000 Palästinenser wurden verletzt, manche so schwer, daß die Zahl der Toten weiter steigen könnte. Am Donnerstag wurden weitere Leichen aus den Trümmern von Wohnhäusern geborgen.

Die Menschen von Gaza wollen zurück zur Normalität. Die Toten sind beerdigt. Am Samstag sollen die Schulen wieder öffnen. Dann werden die Bewohner von Gaza die Trümmer beseitigen und sich an den Wiederaufbau machen müssen. Die Bundesrepublik werde finanzielle Hilfe für Gaza in Höhe von 1,5 Millionen Euro »für die medizinische Notversorgung« zur Verfügung stellen, hieß es in einer Erklärung von Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Die Regierung wolle einen Beitrag leisten, für die »Menschen im Gazastreifen eine echte Lebensperspektive zu entwickeln«. Allein im Jahr 2012 hat die Bundesregierung 7,3 Millionen Euro für Gaza bezahlt.

Noch während die israelischen Bomben auf den dicht besiedelten Gazastreifen niedergingen, hatten Mitarbeiter der UN-Hilfsorganisation für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA) damit begonnen, ein bei einem israelischen Luftangriff teilweise zerstörtes Zentrum für die Verteilung von Lebensmitteln im Flüchtlingslager Dschabalia wieder aufzubauen. Mehr als 6500 dort lebende Menschen konnten daraufhin wieder mit Nahrungsmittelhilfe (»Essensrationen«) versorgt werden, hieß es in einer ­UNRWA-Erklärung. 800000 Bewohner des Gazastreifens sind regelmäßig auf diese Lebensmittel angewiesen. Die Organisation teilte mit, daß neben dem Zentrum auch Schulen und medizinische Einrichtungen bei israelischen Angriffen beschädigt worden waren. Ein Lehrer und einer Schülerin einer UNRWA-Schule wurden getötet.

** Aus: junge Welt, Freitag, 23. November 2012


Viel und wenig in Nahost

Von Roland Etzel ***

Ein Tag Waffenruhe zwischen Gaza und Israel, das ist viel und wenig; viel, weil das Töten endlich aufgehört hat, und wenig, weil es unversehens wieder losgehen kann, denn es ist nichts auf Dauer geregelt. Es gab und gibt keine Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, nicht einmal eine gegenseitige Anerkenntnis. Wenn die Waffen momentan schweigen, dann ist das vor allem ein Verdienst Ägyptens: Die Führung des nach Mubaraks Sturz wiedererwachten regionalen Riesen hat sehr deutlich gemacht, dass die jetzt in Kairo regierenden Muslimbrüder bei jeder künftigen Nahostpolitik mitgedacht werden müssen. Der Hamas machte das Präsident Mursi selbst klar, über die USA ist diese Botschaft wohl auch bei Netanjahu angekommen.

Dafür haben beide etwas bekommen: Israel recht viel mit dem Versprechen der USA auf weitere umfangreiche Waffenhilfe, die Hamas vorerst wenig, nämlich nicht mehr als die vage Zusage, dass die Blockade gelockert wird. Wie auch immer - beide, die Hamas wie Israel, gebärden sich in Siegerpose, und das ist eine bedenkliche Botschaft, denn gestärkt sehen sich offenbar vor allem die Propagandisten militärischer Lösungsansätze.

Der nahöstliche Schlagabtausch hat auch gezeigt: Das Kräfteverhältnis hat sich etwas modifiziert,vor allem die bisher zu beobachtende totale arabische Gleichgültigkeit gegenüber Gaza scheint der Vergangenheit anzugehören. Auch das schafft Raum für Verhandlungen.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 23. November 2012 (Kommentar)


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