Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Nur Druck von außen verändert die Lage"

Israel denkt nicht ans Einlenken, es will weitere palästinensische Gebiete annektieren. Ein Gespräch mit Norman Paech *




Die Kämpfe zwischen dem israelischen Militär und der Hamas im Gazastreifen dauern an. Israel beruft sich dabei auf sein Recht zur Selbstverteidigung. Sie als Völkerrechtler bestreiten das – warum?

Die israelische Regierung nimmt das Selbstverteidigungsrecht seit Jahren für ihre militärischen Aktionen in Gaza in Anspruch. Sie sagt, sie stehe im Krieg mit der Hamas und hat damit auch ihre Blockade des Gebiets und ihr Vorgehen gegen die Gaza-Flotille gerechtfertigt. Der Raketenbeschuß durch die Hamas und die gezielten Tötungen und Militärangriffe durch die Israelis gehören mittlerweile zur furchtbaren Normalität. Insofern könnten sich beide Seiten auf ihr Selbstverteidigungsrecht berufen, nicht nur eine davon.

Zur Legitimation reicht das aber nicht aus, vielmehr müssen wir auf den Ursprung des Konflikts zurückgehen: die fortdauernde illegale Besetzung des Gazastreifens durch Israel an den Land- und Seegrenzen des Territoriums. Wer aber fremdes Gebiet unrechtmäßig besetzt hält, kann sich nicht auf die Selbstverteidigung berufen, wenn er deswegen militärischen Widerstand erfährt. Das Recht auf Verteidigung steht dann der palästinensischen Seite zu.

Es hat mehrere Waffenstillstände zwischen den Parteien gegeben. Welchen Sinn haben solche Abkommen für die Israelis überhaupt, wenn die Palästinenser sich für Raketenangriffe jederzeit auf ihr Widerstandsrecht berufen können?

Natürlich ist die Hamas an die Abkommen gebunden, welche sie abschließt. Sie würde auf die Forderungen nach Unabhängigkeit Palästinas und ein Ende der Besatzung nicht verzichten müssen, sehr wohl aber darauf, militärische Mittel für diesen Zweck anzuwenden. Die Regierung Netanjahu verlangt in den Kairoer Verhandlungen von der Hamas aber nicht nur, eine 15jährige Waffenruhe zu billigen, sondern auch den Fortbestand der Besatzung. Das ist kein akzeptables Angebot, das würde das Widerstandsrecht der Palästinenser fortdauern lassen.

Aber welchen Sinn ergibt es, Raketen auf bewohntes Gebiet in Israel abzufeuern?

Zunächst muß ich betonen, daß Raketen auf zivile Objekte völkerrechtswidrig sind. Auch politisch kann ich nicht erkennen, daß diese Taktik sinnvoll ist, zumal die Hamas und der Islamische Dschihad militärisch hoffnungslos unterlegen sind. Das zeigen schon die erheblichen Zerstörungen im Gazastreifen und der grausame Verlust von fast 100 Menschenleben auf palästinensischer Seite, während Israel drei Tote zu beklagen hat. Weder die Palästinenser noch die Israelis werden ihre Ziele, geschweige denn den Frieden, militärisch erreichen können, das haben die vergangenen Kriege gezeigt.

Egal wie die kriegerischen Auseinandersetzungen ausgehen werden: Der Konflikt ist seit Jahren festgefahren, eine Lösung nicht in Sicht. Wie können die Blockade des Gazastreifens und die Besetzung des Westjordanlands überhaupt ein Ende finden?

Von israelischer Seite wird sich gar nichts ändern, solange sich US-Präsident Barack Obama, Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Europäische Union nicht dazu durchringen, das Ende der Besatzung auf die Tagesordnung zu setzen. Nur Druck von außen wird die Lage verändern können. Israels Premier Benjamin Netanjahu baut im Gaza-Konflikt politisch eine Mauer auf, um in ihrem Schatten die Besiedlung der Westbank schneller vorantreiben zu können und dort weitere Gebiete zu annektieren.

Israels Militär hat auf den Golanhöhen mit Artilleriebeschuß auf Raketen aus Syrien reagiert, die jedoch Irrläufer gewesen sein sollen. Wegen ähnlicher Probleme an der syrisch-türkischen Grenzen beruft sich Ministerpräsident Recep Erdogan in Ankara ebenfalls auf sein Selbstverteidigungsrecht, und Deutschland wird möglicherweise »Patriot«-Raketenbatterien ins Grenzgebiet entsenden. Droht eine Verwicklung der Bundesrepublik in den syrischen Bürgerkrieg? Das Selbstverteidigungsrecht wird immer mehr zur Legitimation aggressiver Ziele mißbraucht. Die Politiker fahren Schlitten mit dem Völkerrecht. Erdogan fürchtet die Entstehung eines kurdischen Autonomiegebiets in Syrien ähnlich dem im Nordirak und droht mit einer Invasion. Selbst wenn die deutschen Truppen ihre türkische Basis nicht verlassen, könnten sie sehr wohl mit ihren »Patriot«-Rakten eine türkische Invasion absichern und so zum Verbündeten des Aggressors werden – das sollte der Bundestag verhindern.

Interview: Mirko Knoche

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht an der Hamburger Universität

Norman Paech

referiert auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 in Kassel zum Thema:
Die Rückkehr des Krieges in die Politik – Totalangriff auf das Völkerrecht
Hier geht es zum Programm des Kongresses




Zurück zur Gaza-Seite

Zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage