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Fehlende Weitsicht

Khaled Hroub entdämonisiert die Hamas

Von Heinz-Dieter Winter *

Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass hohe Hamas- Mitglieder künftig als palästinensische Botschafter in westlichen, darunter auch europäischen Städten fungieren werden. « Wegen der feindlichen Haltung westlicher Regierungen gegenüber der Hamas ist das eine erstaunliche Feststellung, die Khaled Hrub, Direktor des Arabischen Medienzentrums an der Universität von Cambridge, trifft. Doch angesichts der von ihm skizzierten Entwicklung der aus der ägyptischen Moslembruderschaft hervorgegangenen islamistischen Bewegung zu einer nicht mehr zu ignorierenden politischen Kraft ist dieser Gedankenichtabwegig.

Khaled Hroub lüftet den Schleier der andauernden Dämonisierung und zeichnet ein reales Bild dieser islamistischen Bewegung. Sie hatte sich ursprünglich karitativen und sozialen Aufgaben gewidmet, die auch heute noch wichtiger Bestandteil im Wirkens der Hamas sind. Vom Kampf gegen die israelische Besatzung hielt sie sich anfangs abseits. Sie wurde sogar von israelischer Seite gefördert, um ein Gegengewicht zur PLO aufzubauen. Doch in den Tagen der ersten Intifada konnte sie nicht länger unparteiisch bleiben. Ende 1987 konstituierte sich die Hamas, eine Abkürzung für »Islamistische Widerstandsbewegung «. Sie entwickelte sich in Konkurrenz zur Fatah und zur PLO zu einer politischen Kraft. Je schwerer Israel den Palästinenser das Leben machte und je mehr die Popularität der von der Fatah geführten Nationalbehörde, die sich als korrupt und unfähig zur Verteidigung palästinensischer Interessen erwies, sank,desto stärker wurdeHamas.

In den Wahlen vom Januar 2006 zum palästinensischen Legislativrat, die von allen Beobachtern als korrekt demokratisch bewertet wurden, gewann sie die Mehrheit. Markierte schon ihre Teilnahme an den Wahlen eine Abkehr von ihrer bisherigen Politik, so trat sie mit der Übernahme von Regierungsverantwortung in eine neue Etappe ihrer Entwicklung ein. Die Wahlen waren »der größte politische Wendepunkt der Hamas seit ihrem Bestehen «. Der Autor weist daraufhin, dass religiös begründete extremistische Positionen, wie sie noch in der Charta von 1988 enthalten sind, in den Hintergrund traten. Von der Vernichtung Israels war nicht mehr die Rede, und eine Zwei-Staaten- Lösung wurde grundsätzlich, wenn auch widerwillig, akzeptiert. Eine Anerkennung Israels wird aber weiterhin abgelehnt, solange der jüdische Staat nicht bereit ist, seine Grenzenzubestimmen.

Khaled Hroub spricht von einer »neuen Hamas«. Statt jedoch die von jener offerierten produktiven Ansätze zu akzeptieren, haben Israel, die USA und Europa die von der Hamas-Führung gebildete Regierung boykottiert und Hilfe eingestellt. Die unter Saudi-arabischer Vermittlung zustande gekommene Regierung der Nationalen Einheit 2007 wurde in gleicher Weise behandelt. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery hatte damals erklärt, dass diese Regierung »ein großer Segen für Israel« sei, könne man doch nun mir einer Regierung verhandeln, die die Interessen des gesamten palästinensischen Volkes vertritt und endlich dem historischem Konflikt ein Ende setzen. Das Regierungsprogramm der Hamas botdafürguteMöglichkeiten.

Khaled Hroub wirft den USA und der Europäischen Union »mangelnde Weitsicht« und »fehlenden Pragmatismus« vor. Die westliche Ablehnungspolitik gegenüber Hamas trug dazu bei, dass sich die Aussichten für Frieden im Nahen Osten immer mehr verschlechterten und es schließlich zur Spaltung zwischen der Hamas, die Gaza kontrolliert, und der Fatah im Westjordanland sowie zum Gaza- Kriegkam.

Der Autor analysiert kritisch, warum die Hamas 1994 nach dem Hebron-Massaker eines fanatischen israelischen Siedlers, dem 29 betende Palästinenser in der Ibrahim Moschee zum Opfer fielen, mit Selbstmordattentaten antwortete, die dem gerechten Anliegen der Palästinenser schweren Schaden zugefügt haben. Zugleich habe die Hamas wiederholt Verhandlungen mit dem Ziel des Schutzes von Zivilisten auf beiden Seiten angeboten, die aber von Israel abgelehnt wurden. Khaled Hroub urteilt, dass bisher die gemäßigten und pragmatischen Tendenzen in der Hamas die radikalen überwogen haben. Doch radikale militaristische Strömungen könnten die Oberhand gewinnen, wenn Israel seine Unterdrückungspolitik der Palästinenser und die Blockade des Gaza-Streifens und der Westen seinen Hamas- Boykottfortsetzt.

Die Hamas sei zu einem »Schlüsselfaktor in der Region« geworden, betont Khaled Hroub. Die westliche Politik sollte von der Erkenntnis ausgehen, dass ohne Hamas keine Friedenslösung möglich ist und sie in Verhandlungen einbezogen werden muss. Es dürfte darum ganz im Sinne des Autors sein, dass im Juni 2011 angesichts des »arabischen Frühlings« 24 ehemalige Ministerpräsidenten, Außenminister und andere Spitzenpolitiker in einem Offenen Brief an die USA und EU gefordert haben, eine Regierung, an der die Hamas beteiligt ist, als Verhandlungspartner zu akzeptieren. Damit würde auch der Weg beschritten werden, der jene Kräfte in der Hamas stärkt, die bereit sind, sich in demokratische Prozesse integrieren und die Normen des Völkerrechts und der internationalen Politik zu akzeptieren. Sollten jedoch Israel und der Westen bei der bisherigen Politik bleiben, so werden wir weder Frieden im Nahen Osten erhalten, noch Botschafter aus den Reihen der Hamas in westlichen Hauptstädten begrüßenkönnen.

Khaled Hroub: Hamas. Die islamische Bewegung in Palästina. Palmyra Verlag, Heidelberg. 244 S., br.,17,90 €.

* Aus: neues deutschland, 13. Oktober 20911


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