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Was will die Hamas?

Von Helga Baumgarten, Jerusalem *

Das Ziel der palästinensischen Muslimbrüder sei es, Furcht und Gewalt zu verbreiten, sagt Israel. So einfach ist das nicht. Die Hamas wäre bereit, politische Verantwortung zu übernehmen - wenn man sie liesse.

Welche Ziele verfolgt die Hamas mit dem Abschuss ihrer Kassamraketen? Sind sie politischer Natur, oder geht es um eine rein militärische Strategie? Oder will die Hamas, wie Israel behauptet, einzig und alleine Terror verbreiten?

Kurzfristig - und vor dem Hintergrund der dramatischen Lage für die Bevölkerung - geht es der Hamas vor allem um eines: Sie will die Abriegelung des Gazastreifens beenden und eine dauerhafte Öffnung der Grenzübergänge erreichen. Dies war für die Hamas im Juni 2008 die entscheidende Bedingung, um einer Waffenruhe zuzustimmen.

Die Menschen im Gazastreifen leben seit dem Wahlsieg der Hamas vom Januar 2006 unter einem sich stetig verschärfenden Boykott seitens des Wes­tens. Dieser wird flankiert von mehreren arabischen Staaten, allen voran von Ägypten und seit Beginn des innerpalästinensischen Konflikts zwischen der Fatah und der Hamas im Juni 2007 sogar vom Fatah-Regime von Präsident Mahmud Abbas in Ramallah. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über fünfzig Prozent, die Stromversorgung ist weitgehend zusammengebrochen, und es mangelt selbst an der rudimentärsten medizinischen Versorgung. Die Liste liesse sich beinahe unendlich verlängern. Schon vor dem Beginn des Krieges stand die Bevölkerung im Gazastreifen kurz vor dem Abgrund.

Die Eingeständnisse der Hamas

Die Hamas hatte seit ihrer Regierungsübernahme im März 2006 mit allen politischen und diplomatischen Mitteln versucht, den Boykott zu beenden. Zuletzt mit einer Regierung der nationalen Einheit im Anschluss an das Mekka-Abkommen vom März 2007, das Saudi-Arabien gemeinsam mit der Hamas und der Fatah ausgehandelt hatte. Nach dem Zusammenbruch dieser Regierung hat sich die Hamas zusehends in Richtung Widerstand bewegt, da ihr eine aktive und relevante Rolle in Politik und Diplomatie verwehrt wurde - von der Fatah, von der israelischen Besatzungsmacht, von den regionalen Nachbarn sowie von der internationalen Gemeinschaft. Nur Widerstand, so die Argumentation der Hamas, kann nun aus dieser Sackgasse führen. Und dieser ist vor dem Hintergrund der gescheiterten Politik klar militärisch definiert.

Gleichzeitig war die Hamas jedoch immer wieder bereit, das Experiment einer Waffenruhe einzugehen - im Inter­esse der Grenzöffnung, der Menschen in Gaza und in der Hoffnung, doch noch politisch anerkannt zu werden. Die letzte Ruhepause endete im Dezember - wieder ohne die Grenzöffnung oder andere Zugeständnisse von Israel erreicht zu haben.

Was kann eine Widerstandsorganisation im verelendeten Gazastreifen gegen die grösste Militärmacht im Nahen Osten erreichen? Ist es nicht selbstmörderisch, es mit einer regionalen Grossmacht aufzunehmen? Sollte eine Widerstandsbewegung die Besatzungsmacht nicht eher an deren Schwachstellen angreifen, etwa durch gewaltlose Massenmobilisierung und Massenwiderstand?

Das Vorbild der Hisbollah

Die Hamas antwortet mit dem Beispiel der Hisbollah im Libanon. Dort, so die Hamas, hat die Hisbollah die israelische Besatzungsarmee durch ihren Guerillakampf in die Knie gezwungen, sodass dieser nichts mehr anderes übrig blieb, als bei Nacht und Nebel abzuziehen. Seitdem habe die Hisbollah versucht, eine Art Gleichgewicht des Schreckens aufrechtzuerhalten. Ein Gleichgewicht des Schreckens bedeutet, dass sich Israel bewusst ist, dass die Angriffe der Hisbollah «wehtun» können, ebenso wie Israel der Hisbollah «wehtun» kann. Dies hat bis 2006 funktioniert, als, so die Deutung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah, die israelische Seite die Spielregeln brach und auf einen lokal beschränkten Hisbollah-Angriff gegen eine israelische Patrouille mit einem Krieg gegen den Libanon antwortete.

Was also will die Hamas mit ihren Kassamgeschossen erreichen? Offensichtlich will sie Israel deutlich machen, dass sie Israel «wehtun» kann, und zwar dort, wo Israel am empfindlichsten ist, nämlich im Innern des Landes - im freien Feld, am Rande einer Stadt oder eines Dorfes bis hin zu den südisraelischen Grossstädten Aschdod, Aschkelon und zuletzt auch Beer Scheva (dem ehemals palästinensischen Bir as-Saba).

Die gescheiterte Politik soll also durch militärischen Druck ersetzt werden, um politische Ziele zu erreichen. Das Ziel bleibt dasselbe, wie die Hamas in immer neuen Verlautbarungen verkündet (zuletzt vom Chef des Politbüros Chaled Maschal am Tag vor der Aufnahme des Bodenkrieges durch die israelische Armee): eine Waffenruhe und die permanente Öffnung des Gazastreifens.

In der Theorie klingt das alles sehr schön. Doch zeigt nicht gerade der aktuelle Krieg, in dem die israelische Armee den Gazastreifen regelrecht in Schutt und Asche bombt und gnadenlos Männer, Frauen und immer wieder Kinder massakriert, dass die Hamas hier eine völlig verfehlte Strategie verfolgt?

Albtraum Friedensprozess

Die Antwort der Hamas ist Nein. Sie argumentiert, dass ihr die israelische Besatzung keine Alternative lässt und verweist zudem auf die Verhandlungsstrategie von Abbas’ Regierung in Ramallah. Israel hat Abbas bis heute nicht die geringsten politischen Zugeständnisse gemacht. Die Siedlungen im Westjordanland werden ausgebaut, die Mauer reicht tief ins palästinensische Westjordanland, beraubt die PalästinenserInnen um Hunderte von Quadratkilometern und schliesst gleichzeitig zahllose Dörfer an der Grenze von ihrer Umgebung ab und verwandelt sie in «Gefängnisgemeinden». In Ostjerusalem werden die jüdischen Enklaven mitten in palästinensischen Wohngebieten ausgeweitet und PalästinenserInnen aus ihren Häusern vertrieben. Und auch hier kann die Liste beinahe endlos erweitert werden. Eine politische Lösung ist nirgends in Sicht.

Damit ist der Osloer Friedensver­handlungsprozess für die Palästinen­serInnen zu einem regelrechten Albtraum geworden - und ganz sicher nicht zum Ausgangspunkt für den Aufbau eines unabhängigen palästinensischen Staates.

Auf die Forderung nach einem gewaltlosen Massenwiderstand verweist die Hamas auf die erste Intifada Ende der achtziger Jahre, in der sie zusammen mit der Fatah und allen anderen PLO-Organisationen einen gewaltlosen Aufstand gegen die Besatzung angeführt hatte, der unter der Führung von Jitzhak Rabin von der israelischen Armee brutal niedergeschlagen wurde.

Es gibt nur eine Option

Wie kann also die israelische Besatzung beendet werden, die letztendlich die Ursache für die Gewalt und für das Elend in Gaza ist? Für die Hamas ist klar: Der Widerstand muss ausgebaut werden, um der von Israel ausgeübten Gewalt entgegenzutreten. Die Vergangenheit seit der ersten Intifada hat gezeigt, dass das palästinensische Gewaltpotenzial grösser geworden ist und dass die palästinensischen Guerillakämpfer «professioneller» geworden sind. Dies ist eine Konsequenz der Tatsache, dass ihr die politischen Optionen seit je verwehrt wurden.

Doch wie kann nun diese Gewaltspirale durchbrochen werden, und was kann die Hamas dazu beitragen? Trotz allen Beharrens auf dem Recht und der Notwendigkeit auf Widerstand hält die Hamas-Führung - sowohl in Gaza als auch in der Diaspora - an der Option der Politik fest. Ihre Umsetzung setzt jedoch voraus, dass die Hamas von der israelischen Besatzungsmacht wie auch von den regionalen Mächten und den Mitgliedern des Nahostquartetts (Uno, USA, EU und Russland) als politische Kraft ernst genommen und anerkannt wird. Und zwar als gleichberechtigte Verhandlungspartnerin, die ein Mandat hat, das ihr durch eine freie und demokratische Wahl erteilt wurde.

Der Krieg, der seit dem 27. Dezember den Gazastreifen mit immer schrecklicherer Gewalt überzieht, droht diese politische Option zunichte zu machen. Nur ein Waffenstillstand mit der gleichzeitigen permanenten Öffnung des Gazastreifens kann der politischen Option eine letzte Chance geben. Am Ende dieses neuen politischen Prozesses muss jedoch das Ende der israelischen Besatzung stehen. Und an diesem Prozess müssen alle palästinensischen politischen Kräfte beteiligt sein, von der Fatah bis hin zur Hamas. Die Alternative wäre eine endlose Spirale von Gewalt, die sich bald nicht mehr auf die besetzten palästinensischen Gebiete begrenzen liesse.

Warum endete die Waffenruhe?

Die Frist der Tahdia, der Waffenruhe zwischen dem Staat Israel und der «entlassenen» Hamas-Regierung im Gazastreifen, lief nach sechsmonatiger Dauer rein formal im Dezember ab. Noch in den letzten Wochen der relativen Ruhe hatte die Hamas deutlich gemacht, dass man die Waffenruhe nicht erneuern wolle. Der Grund dafür war einfach: Israel hatte seinen Teil der Verpflichtungen nicht eingehalten und die Abriegelung des Gazastreifens nicht aufgehoben.

Und nicht nur das: Bereits Anfang November hatte Israel die schwerste Verletzung der Waffenruhe begangen, als seine Armee eine militärische Operation bei Deir al-Balah im Gaza­streifen unternahm und dabei sechs Hamas-Militante tötete und ein Haus zerstörte. Die Hamas antwortete mit einem regelrechten Hagel ihrer selbst gebastelten Kassamraketen auf die israelischen Gebiete westlich und nördlich von Gaza - genau auf jene Gegend, aus der die meisten der heutigen BewohnerInnen Gazas zwischen 1948 und 1950 vertrieben worden waren. Seit diesen Angriffen ist der Gazastreifen hermetisch abgeriegelt. Am 27. Dezember begann schliesslich der israelische Krieg gegen Gaza und seine eineinhalb Millionen Bewohner­Innen.



* Helga Baumgarten lebt in Ostjerusalem und lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Seit. Zuletzt erschien von ihr das Buch «Hamas. Der politische Islam in Palästina». Diederichs Verlag. München 2006.

Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 8. Januar 2009



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