Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streitfrage: Solidarität mit der Hamas in Gaza?

Es debattieren: Peter Ullrich und Joachim Guilliard


Der Gazastreifen ist immer wieder Kriegsgebiet. Erst vor kurzem eskalierte erneut die Gewalt. Israel griff Ziele in dem dicht besiedelten Küstenstreifen an und Palästinenser schossen Raketen in Richtung Tel Aviv. Die meisten Todesopfer waren auf palästinensischer Seite zu beklagen. Zur Zeit schweigen die Waffen zwischen den beiden Konfliktparteien. Aber die Lage bleibt angespannt. Gaza ist von Israel abgeriegelt, für die Aus- und Einreise braucht man eine Sondergenehmigung. In dem Gebiet regiert die Hamas. Sie ist auch in Deutschland umstritten. Warum ist das so? Wie halten es Linke mit der islamischen Widerstandsbewegung? Ist Solidarität mit ihr legitim? Oder ist sie eine antisemitische Organisation, die sich durch ihr angebliches Ziel, Israel zu vernichten, delegitimiert?

Empathie mit allen Leidtragenden

Von Peter Ullrich *

Wenn der Nahostkonflikt eskaliert, rüstet regelmäßig auch der linke Diskurs auf. Was zumeist vor der Analyse der Ereignisse kommt, ist das Abrufen gut gepflegter Standpunkte und einseitiger Totalidentifikationen. Ein Blick in soziale Netzwerke offenbart, was so unreflektiert aus linken deutschen Bäuchen kommt. Die einen machen sich exklusiv Sorgen um die von Raketen bedrohten Israelis, ohne auch nur einen Moment die hohe Zahl palästinensischer Opfer zu bedenken. So kommt es zu Kommentaren a la »Eben noch ein Antisemit tot« (auf Facebook zur »gezielten Tötung« des Hamas-Militärchefs und Unterhändlers Ahmed Dschabari). Die anderen meinen wiederum, in Israels Vorgehen die Nazis wiederzuentdecken und bestücken Mailinglisten mit hetzerischen Zitaten wie »Israel 2012 und Deutschland 1939 haben mehr gemeinsam als der Welt recht sein kann und die Deutschen wahrhaben wollen«.

Im Nahostkonflikt, das kann man festhalten, gibt es aus linker Sicht ein gewaltiges Identifikationsproblem. Sich auf die Seite Israels zu schlagen, ist angesichts der deutschen Verbrechen an den Jüdinnen und Juden und angesichts der Struktur der öffentlichen deutschen Nahostdiskurse zwar hoch legitim, doch die brutale Besatzungspolitik (so man sie denn zur Kenntnis nimmt) macht diesem Bedürfnis trotz des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen einen ordentlichen Strich durch die Rechnung.

Was bleibt im aktuellen Konflikt als Identifikationsalternative? Die in Gaza herrschende Hamas? Schließlich sind die Westbank und die dort regierende Fatah nicht direkt von der akuten Zuspitzung betroffen. Doch auch hier sollte eine universalistische Position ihre Identitätsprobleme bekommen. Es spricht möglicherweise für die Hamas, dass sie als Organisation des Kampfes gegen die Besatzung gesehen werden kann, sogar eine, die in den letzten Jahren auch immer wieder pragmatische Signale senden konnte und zudem intern nicht homogen ist. Dies alles ist Teil ihrer Identität. Doch diese umfasst eben mehr und dazu gehören auch ziemliche Scheußlichkeiten.

Man muss gar nicht erst die Charta der Hamas und die Schriften des Muslimbruderschaft-Vordenkers Sayyid Qutb bemühen, die von antisemitischer Hetze schlimmster Art durchzogen sind, oder an die grausamen Attentate gegen israelische Zivilisten und Zivilistinnen erinnern, die auf ihr Konto gehen und die auch mit der Besatzung nicht zu rechtfertigen sind. Auch aktuell zeigt die Organisation, dass ihre Vorstellung von Befreiung nicht viel mit der linken Vision einer befreiten Gesellschaft zu tun hat. Vor einigen Tagen zeigte sich das Gesicht dieser autoritär-fundamentalistischen Misereverwaltung des Gazastreifens, als sechs mutmaßliche Kollaborateure öffentlich hingerichtet wurden, die Informationen über mögliche Ziele an Israel geliefert haben sollen. Einer der standrechtlich Erschossenen wurde, an ein Motorrad gefesselt, durch die Stadt geschleift. Lakonisch kommentierte der Blogger MondoPrinte: »Und ich dachte, Treibstoff sei knapp im Gazastreifen …«

Wer glaubt, in dieser Organisation einen Bündnispartner für linke Politik zu finden, liegt vollkommen daneben. Glücklicherweise gab es im aktuellen Konflikt keine nennenswerten linken Solidarisierungen mit der Hamas. Das sah während der zurückliegenden Kriege in Palästina-Israel und vor allem außerhalb der Bundesrepublik noch anders aus, wo sich Linke in ihrer Palästinasolidarität teilweise reaktionäre religiöse Positionen muslimischer Akteure zu eigen machten.

Zur steigenden Legitimation der Hamas als anerkannter Player im Konflikt hat aber nicht linkes Bekennertum beigetragen, sondern die Tatsache, dass man mittlerweile auch international mit ihr verhandelt. Das ist auch richtig und notwendig, denn ihre Nichteinbindung hat möglicherweise reaktionäre Positionen erneut verstärkt. Aktuell können ihre linken Sympathisanten die Hamas zumindest nicht mehr mit dem Pseudo-Argument, dass sie schließlich rechtmäßig gewählt wurde, euphemistisch aufpeppen (die letzte Wahl im Gazastreifen war im Jahr 2006).

Ob Israels ultraorthodoxe Partei Schas oder islamische Fundis der Hamas - sich undifferenziert mit »ihrer« jeweiligen Konfliktseite identifizierende Linke, die innere Widersprüche wegdenken, sind ein stetes Ärgernis. Ist es so altmodisch von mir, Empathie mit allen Leidtragenden in diesem gewaltvollen Konflikt zu fordern? Als nicht Betroffene sollten wir uns nicht in die maximalistischen Betroffenenpositionen hineinfantasieren, nur das Leid der »eigenen« Seite (aber nicht ihre Fehler) und bei der anderen nur die Fehler (aber nicht ihr Leiden) wahrzunehmen. Solidarität mit den Besetzten heißt jedenfalls nicht Solidarität mit den Verwaltern ihres Elends.

* Peter Ullrich, ist Kulturwissenschaftler und Soziologe. Letzte Veröffentlichung zum Thema: »Linke, Nahostkonflikt, Antisemitismus. Wegweiser durch eine Debatte. Eine kommentierte Bibliographie«.


Israels Krieg gegen die Bevölkerung

Von Joachim Guilliard **

Unmittelbar nach den Präsidentenwahlen in den USA eskalierte Israel wieder einmal seine Angriffe auf den Gazastreifen. Wie gewohnt werden sie von der israelischen Regierung und ihren westlichen Verbündeten als Selbstverteidigung gegen Raketenangriffe aus Gaza gerechtfertigt - wie immer willkürlich ein passendes Glied in der seit Jahren fast ununterbrochenen Kette von Angriff und Vergeltung, bei der die israelischen die weitaus heftigeren und tödlicheren sind, als Ursache nehmend. Dabei kann sich ohnehin kein Staat auf Selbstverteidigung berufen, wenn er mit militärischem Widerstand aus unrechtmäßig besetzten Gebieten konfrontiert ist.

Die Frage »Solidarität mit der Hamas in Gaza?« geht in dieser Situation am Kern vorbei. Der Krieg Israels richtet sich schließlich nicht allein gegen die Hamas, sondern gegen die gesamte Bevölkerung. Der israelische Innenminister Eli Yishai machte dies unmissverständlich deutlich, als er erklärte: »Das Ziel der Operation ist es, Gaza zurück ins Mittelalter zu befördern. Nur dann wird Israel die nächsten 40 Jahre Ruhe haben.« Es sind meist auch nicht militärische Einheiten der Hamas, die immer wieder Raketen gen Israel feuern, sondern radikale Splittergruppen. Solche wird es geben, solange die verheerende Besatzungspolitik und die daraus folgenden katastrophalen Lebensbedingungen fortbestehen.

Die Frage, die sich uns als Linken somit stellt, ist, ob wir mit den Menschen in Gaza solidarisch sein wollen oder nicht.

Die Hamas steht uns als eine konservative, islamische Organisation ideologisch sicherlich nicht nahe. Wir dürfen die Unterstützung der Bevölkerung eines besetzten oder von außen angegriffenen Landes aber nicht vom Charakter ihrer aktuellen Führung abhängig machen. Die Hamas wurde in demokratischen Wahlen von einer Mehrheit der Palästinenser gewählt und muss daher auch als deren legitime Vertretung angesehen werden. Diese Mehrheit gab ihr dabei nicht ihre Stimme, weil sie einen religiösen Staat, sondern einen freien Staat wollen und die Hamas im Unterschied zur bisherigen Führung standhaft erschien und saubere Hände hatte.

Wer ernsthafte Verhandlungen anstrebt, kommt somit an der Hamas nicht vorbei. Solidarität mit den Palästinensern und Palästinenserinnen bedeutet daher unter anderem, die deutsche Regierung und die anderen europäischen Regierungen zu drängen, diese an sich simple Tatsache anzuerkennen. Es ist weder an ihnen noch an Israel, sich genehme Verhandlungspartner herauszusuchen.

Wer für eine politische Lösung des Konflikts ist, muss auch der Hamas-feindlichen Propaganda entgegentreten, mit der die strikte Ablehnung von Gesprächen mit ihr untermauert wird. Die Hamas ist zwar sunnitisch geprägt, aber dennoch weniger eine religiöse Bewegung als eine nationalistische Organisation, die politische und soziale Ziele verfolgt, die sich an den Interessen der palästinensischen Bevölkerung orientieren und die Teil der palästinensischen Befreiungsbewegung ist.

Wenn sie als solche auch militärisch gegen die israelische Besatzung kämpft, ist dies völkerrechtlich legitim. Das rechtfertigt zwar keineswegs Anschläge auf zivile Ziele, andererseits »kriminalisieren einzelne Akte individuellen Terrors«, wie die UN-Generalversammlung 1973 feststellte, »nicht eine Befreiungsbewegung als Ganzes«. Wer die Gewalt der Hamas als terroristisch anprangert, sollte zudem nicht vergessen, dass sie, wie die anderer palästinensischer Gruppen, eine Reaktion auf terroristische Gewalt aus Israel ist.

Unter Verweis auf ihre Gründungscharta wird die Hamas gerne als reaktionär, wenn nicht faschistisch hingestellt. Die Passagen, die als antisemitisch gewertet werden, werden dabei aber rein am europäischen Diskurs gemessen. Den für den europäischen Antisemitismus wesentlichen Rassismus findet man jedoch bei der Hamas nicht. Statt auf ein offensichtlich längst überholtes Papier sollte man ohnehin vielmehr auf die aktuelle, recht pragmatische Praxis schauen oder auf die Programmatik, wie sie sich zum Beispiel im Wahlprogramm der Hamas 2006 niederschlug.

Als eine wesentliche Vorbedingung für eine Akzeptanz als Verhandlungspartner wird von ihr eine formelle Anerkennung des »Existenzrechts Israels« verlangt, wobei hiermit die Anerkennung als explizit jüdischer Staat gemeint ist. Geflissentlich übersehen wird dabei, dass kaum ein Palästinenser zugestehen wird, dass zionistische Juden ein Recht hatten, einen eigenen Staat im historischen Palästina zu gründen und dazu den Großteil der ursprünglichen Bewohner zu enteignen und zu vertreiben. Muss ein Indianer auch noch das »Existenzrecht der USA anerkennen?« fragte einst Uri Avnery zu Recht.

Die Hamas-Führung bietet seit vielen Jahren einen dauerhaften Waffenstillstand an und hat damit faktisch auch die Existenz des Staates Israel anerkannt - mehr ist für die Aufnahme von Verhandlungen nicht nötig. Umgekehrt steht bis heute die Anerkennung des Existenz- und Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser durch Israel aus, wie auch eine Festlegung und Beschränkung seiner Grenzen.

** Joachim Guilliard ist im Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg aktiv. Er schreibt regelmäßig über den Nahen und Mittleren Osten.

Beide Beiträge erschienen in: neues deutschland, Samstag, 01. Dezember 2012 ("Debatte")


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