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"Gaza ist ein Teil unserer palästinensischen Heimat"

Porträt. Eine Begegnung mit Ghazi A. Hamad

Von Norman Paech *

Gaza ist knapp drei Jahre nach dem Überfall Israels (»Operation Gegossenes Blei«) zur Normalität zurückgekehrt. Normalität im Schatten Israels bedeutet allerdings ein Leben am unteren Rand der Zivilisation und oftmals noch tiefer. Der Nachbar ist giftig, jede Berührung führt zu Verletzungen. Niemand ist sicher, nicht plötzlich das Opfer eines Angriffs zu werden. Wer an der Grenze wohnt oder sich ihr nähert, lebt doppelt gefährlich. In diesem Jahr gab es schon 85 Tote und weit über 400 Verletzte, mehr als im Jahr 2010. Das Leben in den Straßen und das Angebot auf den Märkten täuschen über die Armut in den Häusern. Wo die Arbeitslosigkeit offiziell bei 43 Prozent liegt, ist die Haushaltskasse leer und das Leben eine Sache der Improvisation und abhängig von der Hilfe durch das Flüchtlingshilfswerk UNWRA und die EU. Zur Improvisation gehören die Tunnel, die bis zu 40 Meter tief unter der Grenze nach Ägypten und bis zu drei Kilometer lang gegraben werden. Durch sie kommt alles, was der Markt umsetzt. Oder auch Sonderwünsche wie das Löwenbaby, welches sich einer der jungen Tunnelgräber so sehnlichst gewünscht hatte. Benzin und Diesel waren schon 2008 von Israel von der Einfuhrliste gestrichen worden. Seitdem wird es durch die Tunnel gepumpt, zu einem Drittel des Preises: zweieinhalb Schekel statt sieben.

Leben im Käfig

»Not macht erfinderisch« heißt es auch jetzt wieder in Gaza. Da Beton von Israel noch immer nur durch solche internationalen Organisationen über die Grenze gelassen wird, die unabhängig von der Hamas-Regierung operieren, holt sich die Regierung für den Bau einer Abwasseranlage im Süden des Gazastreifens die Betonteile aus der Bar-Lew-Linie, jenem Verteidigungswall, den die Israelis 1968/69 nach dem Sechs-Tage-Krieg auf der Sinai-Halbinsel errichtet hatten. Doch alle Improvisationskunst kann den Menschen nicht ersetzen, was ihnen an Freiheit der Bewegung, des Handels, des Austauschs und der Selbstbestimmung genommen worden ist. Der Käfig, der sich schon 2006 nach der ersten demokratischen Wahl mit dem Erfolg der Hamas um sie schloß und spätestens seit Juni 2007 mit deren Machtübernahme sich zu einem Gefängnis verfestigte, bietet seinen Insassen praktisch keine Perspektive, nicht einmal bei guter Führung. Der Ring ist von innen nicht zu sprengen. Rafah-Crossing, das Tor, durch das wir gekommen sind, ist der einzige Grenzübergang von und nach Ägypten. Es ist durch den Aufstand gegen das Mubarak-Regime geöffnet worden und nur mühsam offenzuhalten. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Gaza müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen, um die Erlaubnis zum Verlassen ihres Gefängnisses zu erhalten. Nicht selten werden sie abgewiesen, Waren dürfen nur zum persönlichen Bedarf mitgeführt werden. Auch wir dürfen keine Medikamente oder medizinisches Material über die Grenze bringen, das sei dem ägyptischen Roten Halbmond vorbehalten.

»Die Leute fühlen sich hier nicht sehr wohl. Die Besatzung ist überall, wir haben sie nicht aufheben können«, sagt Ghazi A. Hamad, der stellvertretende Außenminister der Hamas. Er besucht uns im Beach-Hotel in Gaza-Stadt, neben dem Al-Deira-Hotel der Ort, wo Ausländer, Journalisten, Experten und Diplomaten vorwiegend absteigen – und auch Hochzeiten gefeiert werden. Hier gibt es keinen Mangel auf der Speisekarte. Die Tunnel liefern alles außer Wein oder Whisky, doch das hat nichts mit Liefer­engpässen zu tun. Ghazi Hamad ist von Hause aus Journalist, hat wie viele seiner Landsleute in israelischen Gefängnissen gesessen, bei ihm waren es fünf Jahre, und war vor seinem Ministeramt Sprecher der Hamas in Gaza. Damals, noch vor dem Juni 2007, hatte ich als Abgeordneter des Bundestags versucht, ihn nach Berlin zu Informationsgesprächen einzuladen, was das Auswärtige Amt jedoch verhinderte. Nun hatte uns Abdallah Frangi, der ehemalige und langjährige Generalbevollmächtigte der PLO in Bonn, jetzt außenpolitischer Berater von Präsident Mahmud Abbas, empfohlen, den Kontakt zu Hamad zu suchen, er sei im Spektrum der Hamas ein Liberaler. Frangi ist erst seit kurzem wieder in seine Heimatstadt Gaza zurückgekehrt. Er mußte sie 2007 fluchtartig verlassen, seine Mission, nach dem Wahlsieg der Hamas nach 2006 die Fatah in Gaza wieder aufzubauen, war gescheitert. In den Putschversuch des Mohammad Dahlan, der zum Gegenputsch der Hamas führte, war er offensichtlich nicht verstrickt. Nun lebt er wieder in seinem elterlichen Haus, erzählt uns beim Mittagessen von seiner Autobiographie »Der Gesandte«, die er geschrieben und jetzt vor ein paar Tagen in Berlin der Presse vorgestellt hat.

»Frostperiode«

Ghazi Hamad meldet sich selbst bei uns, Frangi hat ihn kontaktiert. Um halb sieben, die Sonne geht gerade unter, erscheint er auf der Terrasse des Hotels, ohne Begleitung, in grauer Hose und kurzärmeligem Hemd. Am Horizont flammen die Karbidleuchten der Fischer auf, die jeden Abend an die Grenze der seit 2009 auf drei Meilen verkürzten Seezone fahren, das sind nur noch 15 Prozent der ihnen nach internationalem Recht zustehenden Gewässer. Dort fangen sie die Reste der noch auffindbaren Fische, klein und zum Verzehr nicht zu empfehlen. Denn in dieser Küstennähe haben sich die Abwässer, die zu über 90 Prozent – das sind bis zu 80 Millionen Liter täglich – immer noch ungeklärt direkt in die See geleitet werden, noch nicht genügend verdünnt. Wir sprechen über die internationale Situation nach dem Antrag von Präsident Abbas vom 23. September auf Aufnahme in die UNO, die Chancen der innerpalästinensischen Aussöhnung, die Rolle der USA und der Europäer im Nahostkonflikt und die Chancen einer Beendigung der Besatzung und Blockade. Über Gilad Schalit sprechen wir nicht, obwohl Hamad bestimmt über den unmittelbar bevorstehenden Austausch unterrichtet ist. Wir kommen gerade von einer Demonstration zur Unterstützung des Hungerstreiks der Gefangenen in israelischen Gefängnissen: über 6000, davon 285 Minderjährige, 38 Frauen, 21 Parlamentsabgeordnete aus Gaza, zwei Exminister und 270 in Administrativhaft, über die niemand in der westlichen Presse spricht. Israel ist nach eigenem Verständnis der Regierung in Jerusalem im Kriegszustand mit der Hamas, der zur Rechtfertigung ihrer regelmäßigen Überfälle auf Gaza und des Angriffs auf die Free-Gaza-Flottille im vergangenen Jahr herhalten muß. Schalit ist also ein Kriegsgefangener und kein Opfer eines »Terrorkommandos« (FAZ), eine nicht nur sprachliche Nuance.

Nach über zwanzig Jahren vergeblicher Verhandlungen und Gespräche durchlaufen wir jetzt eine »Frostperiode«, in der Abbas entschieden habe, den Weg zur UNO zu beschreiten, meint Hamad und fügt hinzu: »Ich halte dies für einen guten Schritt, aber niemand kann Garantien für den Erfolg geben, denn er wird nichts grundsätzlich verändern. Die Israelis bestehen darauf, ihre Siedlungen weiter- und auszubauen und mißachten die Grenzen von 1967. Sie sind der Ansicht, daß sich die Palästinenser mit Selbstautonomie oder begrenzter Selbstautonomie zu bescheiden haben, aber nicht in den Grenzen eines eigenen Staates.«

Die Spaltung überwinden

Der Widerspruch ist offensichtlich, wie kann man einen Schritt für gut halten, wenn man nichts von ihm erwartet? Deshalb überwiegt auch in der Hamas die Skepsis gegenüber der UN-Initiative. Die »Demokratische Front für die Befreiung Palästinas« (DFLP) in Gaza hingegen unterstützt Abbas, weil sie in diesem Schritt die Erhöhung des Drucks auf Israel und die Chance für dessen weitere Isolierung sieht. Skeptisch ist Hamad auch hinsichtlich der Neuaufnahme von Gesprächen vor der Einigung über neue Prinzipien und Regeln, da man schon 20 Jahre damit vergeblich verbracht habe, und das rechte Regime in Jerusalem nicht interessiert sei. Für ihn ist derzeit die wichtigste Frage, wie sie zur nationalen Einigkeit zurückkommen und die Wiederaussöhnung erreichen können. Hamad weist darauf hin, daß Präsident Abbas sie vorher nicht über seinen Schritt unterrichtet, geschweige denn konsultiert habe und daß das die Situation sehr erschwert und das wechselseitige Mißtrauen wieder geschürt habe. »Es gibt immer noch die Spaltung zwischen Fatah und Hamas. Wir denken, deren Überwindung ist die schmerzlichste und wichtigste Aufgabe zwischen den beiden Organisationen. Aber wir haben Kontakte und versuchen eine Vereinbarung zur Aussöhnung abzuschließen, sei es in Kairo oder woanders.« Auch Abdallah Frangi hatte dieses Versäumnis als Fehler im Umgang mit Hamas eingeräumt. Auf meine Frage nach dem Stand der Bildung einer gemeinsamen Regierung, die schon im Mai angekündigt worden war, erklärt Hamad, daß sich der Prozeß verzögert habe. Man sei sich allerdings in allen Punkten praktisch einig, außer in der Frage des Premierministers. Würde diese gelöst, so wäre das der entscheidende Schritt zur Überwindung der Spaltung und zur Einigkeit. »Wir in Gaza sind nicht daran interessiert, die Einheit nur hier herzustellen, Gaza ein islamisches Gesicht zu geben oder es unabhängig zu machen. Gaza ist ein Teil unserer palästinensischen Heimat, und unser erstes Ziel ist die Versöhnung. Um dies zu erreichen, liegen alle Probleme auf dem Tisch: die Zukunft der PLO, die Vorbereitung der Wahlen, die Fragen der Sicherheit und der Regierungsbildung, eine Anhäufung von Fragen aus 20 Jahren des Konflikts zwischen Fatah und Hamas, hochkompliziert, aber alle wissen, es gibt keine andere Wahl.«

Zwei Wege zur Befreiung

Hamas ist sich ihrer Probleme bewußt, die sich vor allem daraus ergeben, daß sie die Blockade nicht hat aufbrechen können. Bei den Wahlen könnte es durchaus sein, daß sie mit 30 bis 35 Prozent der Stimmen wieder hinter Fatah zurückfällt, wie Dr. Mohammed Abu Nada, der einzige Kinderneurologe in Gaza, im Gespräch mit uns eine verbreitete Ansicht wiedergibt. Schwierigkeiten bereitet auch nach wie vor die internationale politische Isolierung auf Grund der Tatsache, daß die Hamas weiterhin als Terrororganisation bezeichnet wird. Ghazi Hamad wehrt sich vehement gegen dieses Image und erzählt von seiner Begegnung mit dem damaligen EU-»Außenminister« Javier Solana, als dieser 2005 Gaza besuchte: »Er sagte, daß Hamas eine terroristische Vereinigung sei. Ich sagte, o.k., ich akzeptiere, denn Hamas hat Israelis getötet. Aber betrachten Sie die Israelis. Glauben Sie, daß die Siedlungen legal sind? Er sagte, nein. Die Ermordungen der Palästinenser? Er erwiderte, nein. Warum setzen Sie dann nicht Israel ebenfalls auf die Terrorliste? Hamas hat 400 bis 500 Israelis getötet. Israel hat in der letzten Intifada mehr als 4000 Palästinenser getötet. Er schwieg. Hamas hat nie ein einziges Haus in Israel zerstört, Israel hingegen im letzten Krieg 1600 Wohnungen allein in Rafah, wo ich lebe.«

Hamas sieht sich als nationale palästinensische Organisation, die für die Befreiung von der Besatzung und um Unabhängigkeit kämpft, wenn nötig auch mit militärischen Mitteln. Fatah glaubt, das gleiche Ziel durch Friedensverhandlungen erreichen zu können. Hamad sieht derzeit beide Alternativen in der Schwebe, gleichsam eine Pattsituation. »Aber für Hamas kann ich sagen, daß wir nicht gegen Frieden in dieser Region sind… Ich habe oft mit Khaled Meshal (der im syrischen Exil lebende politische Chef der Hamas, d. Red.) gesprochen, wir müssen beides miteinander verfolgen, die politische Aktion und den Widerstand. In der aktuellen Situation wird der Widerstand von der internationalen Gemeinschaft nicht akzeptiert. Wir haben 20 Jahre verhandelt und sind jetzt wieder bei Null. Weil man aber nicht nur Raketen abfeuern kann, sagt jetzt auch der Widerstand, daß wir einen politischen Schirm brauchen. Wir müssen alle Mittel nutzen, um gegen die Besatzung zu arbeiten und das gemeinsame Ziel, sichere Grenzen, zu erreichen. Allerdings begrüßen wir es, wenn dies auf friedlichem Wege geschieht.« Hamad wiederholt mehrmals während unseres Gesprächs dieses Bekenntnis zu friedlichen Mitteln, um die Unabhängigkeit zu erreichen. »Ich war 2006 nach den Wahlen in Europa und habe meinen Gesprächspartnern gesagt, sie sollten den Dialog mit uns aufnehmen, wir sind keine Taliban, wir haben niemals Gewalt in Europa ausgeübt, niemals gegen Christen oder Amerikaner. Wir kämpfen nur hier gegen die Besatzung. Wir haben immer wieder erklärt, daß wir Angriffe gegen Zivilisten stoppen, da das gegen unsere Regeln und Ethik verstößt.« Aber wie bei dem größten Teil der Bevölkerung in Gaza überwiegt auch bei ihm die Skepsis. Die Erfahrung mit der Besatzung spreche dafür, daß Israel einem palästinensischen Staat nicht zustimmen werde, es agiere arrogant, da es sich durch die Amerikaner geschützt fühle, über dem Gesetz stehe und in Palästina alles machen könne, was es wolle: »Sie haben ihre Siedlungen nicht nur jenseits der grünen Linie gebaut, sondern in Nablus, Jenin, Jerusalem und Ramallah, sie wollen die Westbank in isolierte Kantone verwandeln. Geographisch kann man jedoch nicht einen Staat auf einem Gebiet aufbauen, das wie ein Schweizer Käse aussieht.« Vollkommen ausgeschlossen ist für ihn allerdings, daß die Israelis einen binationalen Staat akzeptieren könnten. Das wäre »die Zerstörung ihrer zionistischen Obsession, die sie ihren zionistischen Traum nennen, dann könnte es keinen jüdischen Staat nur für die Juden geben. Das würde Israel niemals akzeptieren.«

»Israelis verschwenden ihre Zeit«

Die Frage nach den Grenzen ist für beide Seiten, Israelis wie Palästinenser, von hoher Bedeutung. Wie kann man einen Staat anerkennen, der seine Grenzen im unklaren läßt? Der Anerkennung Israels durch die PLO 1988 lag eindeutig die Waffenstillstandslinie, die sogenannte grüne Linie vor 1967, zugrunde. Der forcierte Siedlungsbau, die Errichtung der Mauer und des Sperrzaunes überwiegend auf palästinensischem Territorium sowie zahlreiche Äußerungen israelischer Politiker haben diese Grenze faktisch aufgelöst. Wenn ich dennoch meine Frage nach der Anerkennung Israels durch Hamas stelle, so deswegen, weil es in der Jugend von Gaza – und 53 Prozent sind unter 18 Jahren – eine wachsende Bewegung gibt, die unter der Aussichtslosigkeit der gegenwärtigen Situation auch die Grenzen von 1948 in Frage stellt. Diese Bewegung ist unabhängig von Fatah oder Hamas entstanden, eine unmittelbare Folge der kompromißlosen Politik Israels und der Ohnmacht der eigenen Kräfte. Hamad holt aus: »Wenn man unter Besatzung und Unterdrückung lebt, nichts hat, keine Grenzen, keine Pässe, keine Personalausweise, nichts, aber auf der anderen Seite findest du Siedlungen, die Konfiszierung von Land, etwa 400 Checkpoints in der Westbank und Gaza unter Besatzung, und du sagst, daß ich Israel anerkennen soll, wie stellst du dir das vor? Wir haben keinen Staat, kein Land, nichts, wir haben zirka fünf Millionen Flüchtlinge, zerstreut über die ganze Welt, wo sie behandelt werden wie Menschen zweiter Klasse, so frage ich mich noch mal, wer braucht die Anerkennung? Die Israelis haben einen Staat, die Mitgliedschaft in der UNO, sie haben ihre Gemeinschaft, ihre Armee, sie haben alles. Warum fordern sie die Palästinenser auf, Israel anzuerkennen, und zur selben Zeit geben sie den Palästinensern nicht einmal minimale Rechte? Wenn die internationale Gemeinschaft auf den Grenzen von 1967 besteht, warum erklärt Israel nicht, okay, wir werden uns aus dieser Region zurückziehen, wir wollen den Palästinensern die Chance für ihren eigenen Staat geben.« Er sagt: »Wir wollen nichts von euch, wir wollen Israel nicht zerstören. Wir wollen nur auf diesem kleinen Flecken Land leben, das Palästina genannt wird, mit Gaza und Jerusalem. Dies ist unser Land in den ’67er Grenzen, und wir werden für Frieden und Sicherheit garantieren.« Aber er konstatiert auch: »Wenn wir keine Kompromisse erreichen und dieser Konflikt weiter schwelt, wird Israel in große Gefahr geraten. Vielleicht nicht jetzt, aber in Zukunft werden die Menschen in Ägypten, Jordanien und Syrien und verschiedenen anderen Ländern sagen, wir akzeptieren Israel nicht mehr, und sie werden die Besatzung zu ihrem Problem machen. Und die Palästinenser werden zur Intifada und zum bewaffneten Kampf zurückkehren. Manchmal zwingen sie uns, in die Tunnel zu gehen. Ich habe das Gefühl, die Israelis verschwenden ihre Zeit.«

Europa in der Pflicht

Hamad macht keinen Hehl daraus, daß er von der Politik der USA, der EU und Deutschlands nichts hält. Auch das Nahost-Quartett aus Vereinigten Staaten, Rußland, EU und UNO spiele keine positive Rolle. Alle US-Administrationen von Clinton über Bush bis zu Obama seien vollkommen gescheitert. Und dennoch bewege sich Deutschland auf der gleichen Linie wie die USA. »Mal sind sie gegen die Aufnahme Palästinas in die UNO, dann schweigen sie gegenüber den Verbrechen Israels oder dessen Siedlungspolitik.« Europa sei näher am Nahen Osten, rationaler und ausgewogener als die USA. Es solle sich aber nicht auf die Finanzierung von Projekten in der Region beschränken und die politischen Fragen den USA überlassen. Trotz seiner internen Differenzen in der Nahostfrage könne es effektiver handeln. »Wir brauchen von der internationalen Gemeinschaft mehr Druck auf Israel. Schließlich seid ihr für das Andauern der Besatzung verantwortlich, ihr solltet sie stoppen.« Wenn Europa allerdings fortfahre, die Hamas auf die Terrorliste zu setzen, zu isolieren und mit Sanktionen zu belegen, würde das nicht zu Stabilität und Sicherheit führen.

Niemand hier macht sich Illusionen über den Ausgang der UN-Initiative von Präsident Abbas. Einen Rückzug wird es nicht geben, aber Abbas’ außenpolitischer Berater Frangi rät ihm ab, das Veto der USA im Sicherheitsrat durch eine Zweidrittelentscheidung in der Generalversammlung überstimmen zu wollen. Schon der Status des Vatikans oder der Schweiz vor deren Beitritt zur UNO würde die internationalen Handlungsmöglichkeiten der Palästinenser erweitern. Eine solche mindere Stellung würde ihnen den Weg zu den internationalen Gerichten öffnen, den man ihnen jedoch gerne noch abhandeln möchte, da gerade diese Gerichte den Israelis äußerst gefährlich werden könnten. Hamas hat andere Sorgen vor Ort und wird an dieser Frage ihr vordringliches Ziel, die Wiederaussöhnung mit Fatah, nicht scheitern lassen. Ghazi Hamad würde gern die verschiedenen Einladungen nach Europa nachholen. Doch dazu bedarf es noch eines Umdenkens in den dortigen Regierungen, Parlamenten und Medien, wie es die arabischen Nachbarstaaten erst durch die Aufstände ihrer Völker bewirken konnten.

Am Tage unserer Abfahrt veröffentlicht das Koordinationsbüro für Menschenrechte der Vereinten Nationen UNOCHA sein monatliches Bulletin über die Situation in Gaza, welches diese mit den Sätzen zusammenfaßt: »Die andauernde Blockade Gazas (zu Land, Luft und See) ist eine Verweigerung der fundamentalen Menschenrechte unter Verletzung des internationalen Rechts und wirkt sich als kollektive Bestrafung aus. Sie ist eine schwerwiegende Behinderung der Im- und Exporte, der Bewegung der Menschen in und aus Gaza heraus sowie des Zugangs zu dem landwirtschaftlich nutzbaren Land und den Fischereigewässern. Die Bewohner Gazas sind nicht in der Lage, ihre Familien zu versorgen, und der Zustand der Infrastruktur wie der öffentlichen Grundversorgung hat sich weiter verschlechtert.«

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Er war von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke. Anfang Oktober besuchte er mit einer Gruppe von Freundinnen und Freunden den Gazastreifen.

Aus: junge Welt, 2. November 2011


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