Der Überfall auf die Free Gaza Flottille am 31. Mai 2010
Völkerrechtliches Gutachten von Prof. Dr. Norman Paech *
I. Der Tatbestand
Der Überfall auf die Free Gaza Flottille am frühen Morgen des 31. Mai 2010 durch die israelische Armee hat weltweit erhebliche Empörung ausgelöst. Bei ihm kamen auf der unter Flagge der Komoren fahrenden Mavi Marmara neun Passagiere ums Leben, mindestens 45 wurden zum Teil schwer verletzt. Während zahlreiche Stimmen von einer schweren Verletzung des Völkerrechts, ja von Kriegsverbrechen sprechen, sieht sich die israelische Armee vollkommen im Recht und hat nach einer internen Untersuchung lediglich einige Pannen bei der Planung und Durchführung der Kaperung der Schiffe eingeräumt.[1]
Um das Geschehen genauer völkerrechtlich analysieren zu können, muss zunächst der Hergang der Ereignisse geklärt werden, der immer wieder unterschiedlich dargestellt wird. Lediglich sechs der ursprünglich acht Schiffe trafen sich am 30. Mai weit südlich der Insel Zypern und westlich von Israel in internationalen Gewässern. Es waren die Passagierschiffe MV Mavi Marmara unter der Flagge der Komoren, die MV Challenger I unter der Flagge der USA und die MV Sfendoni unter der Flagge Togos, die Frachter MV Defney unter der Flagge von Kiribati, die MV Eleftheri Mesogeio (Free Mediterranean) unter der Flagge Griechenlands und die MV Gazze I unter der Flagge der Türkei. Die unter US-amerikanischer Flagge fahrende MV Challenger II musste kurz nach ihrem Auslaufen aus dem griechischen Hafen Agios Nikolaos wegen eines Steuerungsschadens, ein offenkundiger Sabotageakt der israelischen Armee,[2] aufgeben und ihre Passagiere auf die Mavi Marmara übersetzen. Der von Irland startende Frachter Rachel Corrie unter der Flagge von Kambodscha konnte den Treffpunkt wegen verschiedener Probleme nicht mehr rechtzeitig erreichen.
Die Schiffe waren von Athen, Istanbul und Agios Nikolaos gestartet. An Bord waren insgesamt knapp über 700 Passagiere aus 36 Ländern (laut The Guardian 671 Passagieren, das Innenministerium von Israel sprach am 5. Juni von 702 deportierten Menschen), die 577 allein auf der Mavi Marmara. Die Frachter hatten etwa 10 000 to Hilfsgüter an Bord, vor allem Nahrungsmittel und Textilien, Pharmaka und medizinische Ausrüstungen, Baumaterialien wie 3500 to Zement, 750 to Stahl, Holz, Plastikfensterrahmen und Glass, Elektro- und Dieselgeneratoren,
Spielzeug, 20 to Papier [3] etc. Es waren nicht die ersten Schiff der
Free Gaza-Bewegung, die die Blockade des Gazastreifens von See aus
durchbrechen wollten. Bereits im August 2008 war es zwei Schiffen mit 44
Aktivisten gelungen, Gaza zu erreichen - die ersten internationalen
Schiffe seit 42 Jahren. Es folgten vier weitere erfolgreiche Fahrten und
drei von der israelischen Marine verhinderte Versuche. Die Spirit of
Humanity, die am 30. Mai 2009 von der israelischen Armee angegriffen und
nach Ashdod entführt wurde, ist immer noch nicht zurückgegeben worden.
Die Flottille war von einer Koalition von sechs Organisationen
zusammengestellt worden: 1. The Free Gaza Movement, 2. IHH Humanitarian
Relief Foundation, 3. The European Campaign to End the Siege on Gaza
(ECESG), 4. The International Committee to End the Siege on Gaza, 5. The
Greek Ship to Gaza Campaign, 6. The Swedish Ship to Gaza. Alle
Passagiere waren vor ihrer Reise auf mögliche Gefahren aufmerksam
gemacht worden und mussten sich auf vollkommene Gewaltlosigkeit bei
einer möglichen Konfrontation mit der israelischen Armee schriftlich
verpflichten. Es war absolut verboten, Waffen oder Munition mit an Bord
zu nehmen, die Verladung der Fracht wurde von den Hafenbehörden
kontrolliert. Wie sich später bei der Untersuchung des Gepäcks der
Passagiere und der Löschung der Fracht durch die Israelis im Hafen von
Ashdod herausstellte, war dieses Verbot ohne Ausnahme befolgt worden.
Der erste Kontakt mit israelischen Kriegsschiffen erfolgte am 30. Mai
gegen 22.30 Uhr über Radar und Funkkontakt. Der Kapitän der Mavi Marmara
antwortete auf die Aufforderung, die Fahrt zu stoppen, dass sich die
Flottille in internationalen Gewässern bewege, ca. 70 - 90 Meilen von
der Küste entfernt, und ihre Fahrt mit Hilfsgütern nach Gaza fortsetzen
werde. Die Passagiere wurden gegen 23.00 Uhr an Deck gerufen und
aufgefordert, ihre Rettungsjacken anzulegen zur Sicherheit gegen einen
möglichen israelischen Angriff. Nach einer Stunde wurden die Passagiere
in ihre Aufenthaltssäle zur Nachtruhe zurückgeschickt. Die Kriegsschiffe
folgten der Flottille. Die Satellitentelephone und die Türksat
Satellitenfrequenz, die die Mavi Marmara zur Kommunikation mit den
internationalen Medien aber auch unter den Schiffen der Flottille
benutzte, wurden zu diesem Zeitpunkt geblockt.
Am nächsten Morgen, dem 31. Mai gegen 4.20 Uhr, wurde die Mavi Marmara
plötzlich beschossen. Zu diesem Zeitpunkt war die Flottille von vier
Kriegsschiffen und fast 30 Zodiacs umgeben, 3 Helikopter erschienen und
auch 2 Unterseebote mit insgesamt an die 1000 Soldaten sollen an dieser
"Operation Seebrise" beteiligt gewesen sein [4]. Israelische Soldaten
hatten versucht, die Mavi Marmara von den Zodiacs aus zu entern, was
misslang. Der Angriff danach erfolgte mit Tränengas- und Blendgranaten,
Farbgeschossen (paint ball guns) und gummiummantelten Stahlgeschossen [5].
Unmittelbar danach, gegen 4.30 Uhr, wurde der Angriff auf die Mavi
Marmara von Helikoptern aus geführt, von denen sich Soldaten auf das
Oberdeck abseilten. Nach verschiedenen glaubhaften Zeugenaussagen wurde
das Feuer von den Helikoptern aus eröffnet noch bevor die Kommandos das
Deck erreicht hatten. Dabei wurden zwei Männer, die sich zur Abwehr auf
das Oberdeck begeben hatten, getötet [6]. In den
folgenden Auseinandersetzungen wurden 9 Personen getötet und 54
verwundet, 23 davon schwer. Es gibt keine Zahlen darüber, wie viele
Passagiere sich auf dem Oberdeck den israelischen Soldaten
entgegenstellten. Ihnen gelang es auf jeden Fall, drei Soldaten zu
entwaffnen und zur Erste-Hilfe-Station zu bringen, die im 2. Deck
eingerichtet worden war. Sie waren nur leicht verletzt, wurden versorgt
und konnten später die Station aus eigenen Kräften verlassen. Die
Passagiere benutzten bei ihren Kämpfen mit den Soldaten Stöcke,
Eisenstangen, die sie nach einigen Aussagen mit Eisensägen aus der
Reeling herausgesägt haben sollen, Feuerwehrschläuche, Stühle,
Wasserflaschen und andere Gegenstände, die sie an Deck finden konnten.
Die erbeuteten Waffen wurden von ihnen nicht benutzt, sie wurden z. T.
über Bord geworfen. Die Tatsache, dass die israelische Armee keine
Details über die Verwundungen der Soldaten veröffentlicht hat,
unterstreicht den Befund, dass die Passagiere die erbeuteten
Schusswaffen nicht benutzt haben.
Nach ca. einer halben Stunde, gegen 5.10 Uhr, wurden die Passagiere über
Lautsprecher auf Englisch und Arabisch aufgefordert, sich in ihre
Aufenthaltssäle zu begeben, sich ruhig zu verhalten und jeden Widerstand
zu unterlassen. Die Israelis hätten das Kommando über das Schiff
übernommen. Das geschah. Auch die auf dem untersten Deck bis dahin aus
Sicherheitsgründen eingeschlossenen Frauen wurden jetzt heraufgelassen.
Die israelischen Soldaten auf den Außendecks, die aufgefordert wurden,
den Gebrauch der Schusswaffen einzustellen, kümmerten sich zunächst
nicht darum. Sie richteten immer wieder ihre Waffen von außen auf die
Fenster, sobald sich in den Sälen ein Passagier erhob. Nach einiger Zeit
gelang es der Knesseth-Abgeordneten, Hanin Zoabi, Kontakt zu den
Soldaten aufzunehmen. Alle Passagiere wurden schließlich einzeln aus den
Sälen beordert, untersucht und mit Kabelbindern um die Handgelenke
gefesselt. Sie mussten auf den Außengängen in Reih und Glied knien,
Frauen und die wenigen Europäer durften sich auf die Bänke setzen.
Währenddessen nahm die Flottille Kurs auf Ashdod. Helikopter brachten
weitere Verstärkung heran, u.a. auch Hunde.
Die Kaperung der anderen Schiffe zur gleichen Zeit verlief ohne Tote und
ohne größere Verletzungen, doch nicht ohne Gewalt und aggressive
Beleidigungen. Die israelischen Soldaten benutzten Taser
(Elektroschockwaffen) und Gummigeschosse, schlugen etliche Passagiere
mit den Kolben ihrer Waffen, sodass sie bluteten, fesselten sie mit
Kabelbindern, stülpten ihnen Kapuzen über und verklebten ihnen die Augen
- das alles, obwohl es keinen gewaltsamen Widerstand gab. Die
Mannschaften wurden mit Waffen zur Kursänderung gezwungen.
Die Fahrt nach Ashdod dauerte mehr als 10 Stunden, während dessen die
Passagiere nur mangelhaft mit Wasser und Nahrung versorgt wurden. Vielen
wurde der Gang zur Toilette verwehrt etc. Im Hafen von Ashdod - gegen
19.00 Uhr - wurden alle einzeln von den Schiffen geführt, verhört, einer
kurzen gesundheitlichen Untersuchung unterzogen und entweder zum
Flughafen Ben Gurion gefahren, um ausgeflogen zu werden (so die
deutschen Gefangenen), oder mit Bussen in das Gefängnis in Ber Sheba
gebracht (so die ganz überwiegende Anzahl der Gefangenen). Niemand
konnte sein Gepäck mitnehmen, welches in verwüstetem Zustand an Bord der
Schiffe verblieb. Nur sehr wenigen gelang es, einzelne Memorycards aus
ihren Kameras zu retten. Sämtliches elektronisches Gerät der Passagiere
und Journalisten wurde einbehalten. Die immer wieder gegebenen
Versicherungen, dass den Passagieren ihr Gepäck ausgehändigt werde,
haben sich bis auf Einzelstücke von zumeist geringem Wert, die nach
Istanbul gesandt wurden, als falsch erwiesen.
II. Juristische Wertung
Die Israelische Armee wollte mit ihrem Überfall auf die Free Gaza
Flottille die Durchbrechung der Gaza-Blockade verhindern. Deswegen ist
zunächst diese Blockade des Gazastreifens rechtlich zu bewerten.
1. Blockade des Gazastreifens.
Der Gazastreifen ist aktuell ein Gebiet ohne Staatsqualität, ohne
faktische oder rechtliche Souveränität, gleichsam ein juristisches
Neutrum. Es ist von keinem Staat anerkannt und nach dem Rückzug der
israelischen Siedler und Soldaten im Sommer 2005 in den Augen der
israelischen Regierung auch nicht mehr Besatzungsgebiet mit den sich
daraus für die israelische Regierung ergebenden völkerrechtlichen
Pflichten einer Besatzungsmacht: ein rechtliches Niemandsland. Das
bedeutet allerdings nicht, dass es mangels eigener staatlicher
Souveränität dem Zugriff seiner Nachbarstaaten beliebig ausgesetzt ist.
Der Gazastreifen ist nach wie vor Teil des territorialen Verbundes von
Palästina, dessen größter Teil, die Westbank, sich unter der Besatzung
Israels befindet. Als die PLO 1988 den palästinensischen Staat auf dem
Gebiet der Westbank mit Ost-Jerusalem und des Gazastreifens ausrief,
wurde er von über 100 Staaten anerkannt. Allerdings blieb ihm die
Aufnahme in die UNO versagt, obwohl er über alle konstituierenden
Merkmale eines Staates - Territorium, Bevölkerung, Regierung und
Fähigkeit, mit anderen Staaten in diplomatische Beziehungen einzutreten
- verfügte. Die PLO hat nicht weiter auf dem Anspruch eigener
Staatlichkeit bestanden, vor allem weil Israels Besatzungspolitik jede
Ausübung eigenständiger Souveränität verhinderte.
Der Rückzug der israelischen Siedler und Soldaten im Sommer 2005
befreite den Gazastreifen allerdings höchstens bis zu den Wahlen im
Januar 2006 von der Besatzung. Denn nach den Wahlen schloss sich wieder
der Ring um den Gazastreifen, zunächst durch die Verweigerung der
Auszahlung der Zoll- und Steuereinnahmen und den Stopp der ausländischen
Zahlungen bis zu der vollständigen Blockade mit Boykott und Schließung
der Grenzen, nachdem im Juni 2007 Hamas die Macht in Gaza übernommen
hatte. Seitdem ist Gaza faktisch wieder zum besetzten Gebiet geworden.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die israelische Armee spätestens
seit Sommer 2007 den Gazastreifen wieder unter ihre vollständige
Kontrolle gebracht hat. Weder zu Land, noch zu Luft oder Wasser kann
jemand ohne die Erlaubnis der israelischen Armee das Gebiet verlassen
oder betreten. Die Menschen sind im Gazastreifen eingeschlossen, in
Kollektivhaft genommen. Schwer kranken Menschen wird die Ausreise für
eine medizinische Behandlung im Ausland nur in seltenen Ausnahmen
gewährt, Studierende können nicht ausreisen und verlieren ihre
Auslandsstipendien und Studienplätze außerhalb von Gaza. Ausländer
werden ebenfalls festgehalten, indem ihnen über Monate die Ausreise
verweigert wird. Es gibt praktisch keine Bewegungsfreiheit aus dem
Gebiet heraus. Jede Bewegung in dem nur 365 km² großen Areal unterliegt
der lückenlosen Luftüberwachung durch das israelische Militär.
Für die Anwendung des Besatzungsrechts reicht es aus, dass die Besatzung
auch ohne die Anwendung militärischer Gewalt erfolgt, weil etwa jeder
Widerstand auf Grund der Übermacht des Gegners unterbleibt. Entscheidend
ist nur die vollständige und effektive Kontrolle durch die fremde Macht
- und die liegt seit Sommer 2007 im Gazastreifen bei der israelischen
Armee. Nach der klassischen Definition des Artikels 42 der Haager
Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 gilt ein Gebiet als kriegerisch
besetzt, "wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres
befindet. Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese
Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann." Es ist aber nicht
erforderlich, dass die feindliche Armee sich an jedem Ort des besetzten
Gebietes befindet. Besetzt ist ein Gebiet dann, wenn es sich tatsächlich
in der Gewalt und effektiv unter der Kontrolle der gegnerischen
Streitkräfte befindet, d.h. wenn die Besatzungsmacht faktisch in der
Lage ist, ihre Herrschaft über die Zivilbevölkerung durchzusetzen. Dies
ist für das Westjordanland und Ostjerusalem ganz ohne Zweifel seit 1967
der Fall, gilt aber auch aktuell für den Gazastreifen. Auch wenn Israel
dieses Gebiet im Jahr 2005 offiziell verlassen hat, hält Israel den
Gazastreifen spätestens seit 2007 wieder besetzt.
Diese Wertung ist von der israelischen Regierung lange abgelehnt worden,
obwohl sie in der völkerrechtlichen Literatur weitgehend anerkannt ist
[7] und z.B. auch vom Auswärtigen Amt Deutschlands so gesehen wird.
Damit entstehen für Israel als Besatzungsmacht aber wieder eine Reihe
von im humanitären Völkerrecht formulierten Pflichten als auch Verbote
dessen, was eine Besatzungsmacht nicht tun darf. Diese Verpflichtungen
sind in der HLKO und später im IV. Genfer Abkommen von 1949 sowie den
beiden Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen von 1977 kodifiziert worden.
Vornehmlich geht es dabei um den Schutz und die Versorgung der
Zivilbevölkerung. Israel bestreitet zwar die Anwendbarkeit der Genfer
Konventionen auf die besetzten Gebiete und hat auch die beiden
Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen nicht ratifiziert. Das ist
jedoch unerheblich, da es sich bereits weitgehend um Gewohnheitsrecht
handelt, und die Ablehnung der Genfer Konventionen von niemand anders
akzeptiert wird. Auch der Einwand, dass es sich bei den besetzten
Gebieten nicht um Staatsgebiete handelt, ist irrelevant, da das Ziel der
Konventionen nicht der Schutz der Staatlichkeit, sondern Schutz der
Menschen ist.
Artikel 43 HLKO überträgt der Besatzungsmacht die Aufgabe,
"alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit
die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und
aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht,
unter Beachtung der Landesgesetze."
Diese Aufgaben umfassen nicht nur die Versorgung der Bevölkerung mit den
lebensnotwendigen Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern (Art. 55 ff.
IV. Genfer Abkommen), sondern den Schutz der Menschenrechte, der
religiösen und anderen Gebräuche (Art. 27 IV. Genfer Abkommen) sowie die
Achtung der innerstaatlichen Rechtsordnung (Art. 64 IV. Genfer
Abkommen). Ausdrücklich verboten sind der Besatzungsmacht die Annexion
besetzten Territoriums - also Ost-Jerusalems und der Golan-Höhen -
(Art. 2.3 u. 2.4 UN-Charta), die Besiedlung mit eigenen
Staatsangehörigen sowie die Verschleppung von Teilen der Bevölkerung
(Art. 147 IV. Genfer Abkommen, Art. 85.4 des 1. Zusatzprotokolls zu den
Genfer Abkommen von 1977).
Der Verstoß gegen diese Verbote ist als Kriegsverbrechen zu ahnden,
wofür der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig ist
(Art. 8.2 a, b Statut des Internationalen Strafgerichtshof - IStGH - von
1998).
Im Gazastreifen ereignet sich seit Jahren das, was in den letzten Jahren
den Begriff "humanitäre Katastrophe" bekommen hat. Bereits vor dem Krieg
Ende 2008 hat die israelische Blockade und politische Isolierung des
Gazastreifens dazu geführt, dass der private Wirtschaftssektor
zusammengebrochen ist, 98 % der privaten Unternehmen haben schließen
müssen. Die meisten Palästinenserinnen und Palästinenser sind erwerbslos
und 80 % leben in Armut, genau so viele sind von den dürren
Nahrungsmittelhilfen, die die Israelis in den Gazastreifen lassen,
abhängig. Der weltweite Anstieg der Lebensmittelpreise und
wiederkehrende Trockenheit haben zu weiterer Nahrungsmittelunsicherheit
geführt [8].
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verurteilt Israel zwar
regelmäßig für sein Vorgehen, so beispielsweise in den Resolutionen
S-6/1, S-9/1, 10/19 und 10/21 [9], verändert hat sich deshalb aber
nichts.
Israel hält weiter an seiner Strangulierung des Gazastreifens auf Kosten
der Zivilbevölkerung fest. Daran hat weder der letzte gescheiterte
Friedensprozess von Annapolis etwas verändert noch das jüngste
Zugeständnis des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, die
Blockade zu lockern [10].
Die Beauftragte der UNO für Menschenrechte, Navi Pillay, hat, ebenso wie
der Chef der UNWRA in Gaza, John Ging, die Blockade des Gazastreifens
durch Israel als eine schwere Verletzung des Völkerrechts bezeichnet,
insbes. von Art. 33 der IV. Genfer Konvention, die eine
Kollektivbestrafung der Bevölkerung verbietet. Es wäre sogar zu prüfen,
ob die Blockade nicht den Tatbestand eines "Verbrechens gegen die
Menschlichkeit" erfüllt, wie es in Artikel 7 des Römischen Statuts von
1998 als Handlung, »die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen
Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs«
definiert wird. Dieser Vorwurf trifft nicht allein Israel, sondern die
USA und die EU-Staaten gleichermaßen, da sie in voller Kenntnis des
Elends und der Zerstörungen diese Blockade unterstützen. Zudem steht sie
in direktem Widerspruch zu den beiden Menschenrechtspakten von 1976, in
denen das Recht auf Selbstbestimmung jeweils in Artikel 1 mit zwingender
Verbindlichkeit (ius cogens) kodifiziert ist. In ihnen heißt es:
"(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses
Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten
in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.
(2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre
natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller
Verpflichtungen die aus der internationalen wirtschaftlichen
Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem
Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen
Existenzmittel beraubt werden.
(3) Die Vertragsstaaten, einschließlich der Staaten, die für die
Verwaltung von gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten
verantwortlich sind, haben entsprechend der Charta der Vereinten
Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern
und dieses Recht zu achten."
2. Die Seeblockade
Ist also Israel verpflichtet, die Blockade nicht nur der Landgrenzen,
sondern auch des Luftraums und des Seezugangs aufzuheben, so stellt sich
die Frage, ob es rechtliche Gründe zur Rechtfertigung des Angriffs und
der Kaperung der Free Gaza Flottille gab, um ihre Weiterfahrt nach Gaza
zu verhindern.
Die israelische Regierung beruft sich darauf, die von ihr über die
Gewässer vor Gaza verhängte Seeblockade gegen jeden durchsetzen zu
können, der die Blockade durchbreche. Sie begründet dieses Recht damit,
dass Israel sich seit mehreren Jahren in einem bewaffneten Konflikt mit
der Hamas befinde, der sich insbesondere seit der Machtübernahme der
Hamas im Juni 2006 intensiviert habe. Israel habe verschiedene Maßnahmen
ergriffen, "um die eigene Bevölkerung gegen die terroristischen
Angriffen zu verteidigen," bis sie im Dezember 2008 zum äußersten Mittel
einer ausgedehnten militärischen Intervention, "Operation Gegossenes
Blei" greifen musste [11].
Der Überfall auf den Gazastreifen Ende 2008/Anfang 2009 erfüllte
zweifellos alle Kriterien eines "bewaffneten Konfliktes" i. S. des
humanitären Völkerrechts. Ob die Zeit nach Einstellung der israelischen
Angriffe Mitte Januar 2009 bis jetzt ebenfalls durch die Fortführung des
Kriegszustandes gekennzeichnet ist, mag angesichts des nur sporadischen
wechselseitigen Raketenbeschusses sowie der gelegentlichen israelischen
Überfälle und gezielten Tötungen zweifelhaft sein. Geht man jedoch wie
die israelische Regierung von der Fortdauer des bewaffneten Konfliktes
aus, so ist die Verhängung einer Seeblockade eine von dem Völkerrecht
anerkannte Form der Kriegsführung. Sie durchbricht die in Friedenszeiten
geltende allgemeine Freiheit der Meere, um den Feind von Nachschub,
insbes. an Waffen und materiellen Gütern, sowie anderweitiger
Unterstützung abzuschneiden. Sie ist sowohl in internationalen Gewässern
wie auch in den Küstengewässern des Feindes möglich.
Gewohnheitsrechtlich haben sich einige Voraussetzungen für die
Rechtmäßigkeit einer solchen Blockade herausgebildet, zu denen vor allem
die öffentliche Bekanntmachung und die effektive Durchsetzung gegen
jeden Versuch der Durchbrechung gehören [12].
Zu den Voraussetzungen einer rechtmäßigen Blockade gehört allerdings
auch, dass es sich um einen internationalen bewaffneten Konflikt, d.h.
um einen Konflikt zwischen mindestens zwei Staaten handelt. In einem
nicht-internationalen Konflikt ist der Staat auf seine Hoheitsgewässer
beschränkt, wenn die Regierung mittels einer Seeblockade ihre
innerstaatlichen Gegner von ausländischer Unterstützung abschneiden
will. Die gleiche Beschränkung trifft nach weitverbreiteter Ansicht die
Besatzungsmacht, die eine Blockade nur in den Gewässern des besetzten
Territoriums, nicht aber in internationalen Gewässern durchführen
kann [13]. Zum einen reicht eine solche Blockademöglichkeit aus,
Waffenlieferungen an den Gegner abzufangen, und damit die eigene
Sicherheit zu gewährleisten, wie es nach den Haager Regeln erlaubt ist.
Zum anderen verlangt die Besatzungssituation keine Ausdehnung der
Besatzungsrechte auf internationale Gewässer und die Einschränkung des
allgemeinen Grundsatzes der Freiheit der Meere.
Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Grenzen
des Blockaderechts nicht um kodifiziertes Recht handelt und dass sie
nicht unbestritten sind. So werden gerade in Hinsicht auf die
Gaza-Seeblockade unter Berufung auf historische Präzedenzfälle die
erwähnten Beschränkungen des Blockaderechts nicht anerkannt und eine
Blockade auch in internationalen Gewässern für rechtmäßig gehalten [14].
So alt die Praxis der Seeblockade als Mittel der Kriegsführung ist, so
wenig ist sie vertraglich kodifiziert. Sie wird als eine der möglichen
Zwangsmaßnahmen der UNO in Art. 42 UN-Charta erwähnt. Die Regeln des
bewaffneten Konfliktes auf See werden weitgehend durch
Völkergewohnheitsrecht festgelegt, welches im "San Remo Manual on
International Law Applicable to Armed Conflicts at Sea" (San Remo
Manual) gesammelt ist. Auf dieses Manual, welches zwischen 1987 und 1994
von einer Reihe Experten und Diplomaten zusammengestellt worden ist,
beruft sich auch Israel. Es ist selbst rechtlich nicht verbindlich,
enthält jedoch zahlreiche Vorschriften, die zu Gewohnheitsrecht geworden
sind und dient gleichsam als "soft law" zur Identifizierung von Völkerrecht.
So wird in den Artikeln 36 - 42 in allgemeinen Vorschriften ein Angriff
auf See nur gegen eindeutig militärische Ziele erlaubt, zu denen
ausgewiesene Passagier- und Frachtschiffe nicht gehören. Es müssen
außerdem Vorkehrungen zum Schutz von Zivilisten getroffen werden. Art.
47 (c) (3) (ii) verbietet Angriffe auf alle Schiffe, "engaged in
humanitarian missions, including vessels carrying supplies indispensable
for the survival of the civilian population." Dieses trifft nun
zweifellos auf die Schiffe der Free Gaza Flottille zu, die
ausschließlich humanitäre Güter, zur Versorgung der extrem notleidenden
Bevölkerung des Gazastreifens, geladen hatte. Israel ist sogar als
Besatzungsmacht zu einer derartigen Versorgung verpflichtet. Indem sie
sie nicht leistet, verstößt sie gegen Art. 55 ff. IV. Genfer Konvention.
Verhindert sie die Versorgung von außen durch die Blockade, so verstößt
auch diese gegen Art. 55 ff.
Israel beruft sich demgegenüber auf Artikel 7.7.1 des "Commander's
Handbook on the Law of Naval Operations" (US Navy Handbook), der u.a.
sagt:
"While the belligerent right of visit and search is designed to
interdict the flow of contraband goods, the belligerent right of
blockade is intended to prevent vessels and aircraft, regardless of
their cargo, from crossing an established and published and publicized
cordon separating the enemy from international waters and/or
airspace."
Dieses US Handbook ist in keinem Fall geltendes Völkerrecht, sondern ist
nur in dessen Grenzen gültig. Die Vorschrift mag auch in einem
internationalen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Staaten in dieser
Form Gültigkeit haben. Im Verhältnis Israel - Gaza ist jedoch zu
berücksichtigen, dass der Konflikt zusätzlich durch eine Besatzung
gekennzeichnet ist. In dieser Situation kann zwar eine Blockade aus
Sicherheitsgründen verhängt werden, sie hat jedoch Schiffe zur
Versorgung der Bevölkerung, die die Sicherheit der Besatzungsmacht nicht
gefährden, passieren zu lassen. Es kommt also durchaus auf die Fracht
an, die, soweit sie ausschließlich humanitärer Versorgung dient, im
Falle der Besatzung nicht durch eine Blockade verhindert werden darf.
Das ergibt sich auch aus Art. 102 (b) San Remo Manual, der eine Blockade
verbietet,
"if the damage to the civilian population is, or may be expected to be,
excessive in relation to the concrete and direct military advantage
anticipated from the blockade."
Damit rechtfertigt auch der israelische Einwand, es handele sich bei den
Baumaterialien Zement, Eisen etc. um Materialien, die auch zu
militärischen Zwecken benutzt werden können (sog. "double use") nicht
die Blockade. Denn abgesehen davon, ob Zement und Eisenträger, die für
den Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Fabriken bestimmt sind, auch
wirklich militärischen Zielen dienen können - Israel verweist auf die
Möglichkeit des Baus von Bunkern zum Schutz vor israelischen Raketen -,
steht der "direkte militärische Vorteil" der Blockade doch außer
Verhältnis zum Schaden für die Bevölkerung.
3. Der Überfall auf die Free Gaza Flottille
Ist schon die Besatzung des Gazastreifens wegen Verstoßes gegen die IV.
Genfer Konvention und die beiden Menschenrechtspakte von 1976
rechtswidrig, so ist die Seeblockade gegen fremde Schiffe mit strengeren
Maßstäben zu messen als bei einer rechtmäßigen Besatzung. Dies gilt vor
allem für die Durchsetzung der Blockade. Israel ist allenfalls ein Recht
auf Kontrolle zuzugestehen, ob die Schiffe Waffen enthalten, die die
Sicherheit der Besatzungsmacht gefährden könnten. Darauf hinzuweisen ist
allerdings, dass alle Schiffe unter Aufsicht der jeweiligen
Hafenbehörden beladen und daraufhin überprüft worden sind, ob die Ladung
Waffen enthalte. Es lag also objektiv wie auch nach Kenntnis der
israelischen Geheimdienste, die von Anfang an die gesamte
Mission unter Beobachtung hatten [15], kein Verdacht auf Waffenschmuggel
vor.
Ein militärischer Angriff, wie er am 31. Mai gegen die Flottille und
insbesondere die MV Mavi Marmara geführt wurde, ist auf jeden Fall
rechtswidrig [16]. Das ergibt sich schon aus dem Gewaltverbot des Art. 2
Ziff. 4 UN-Charta, der jede Gewalt, ob gegen Staaten oder Individuen,
verbietet, die nicht durch Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta)
gerechtfertigt werden kann. Zwar beruft sich die israelische Armee auf
Selbstverteidigung, sie sei durch die Passagiere der Mavi Marmara
angegriffen worden. Alle Aussagen der Zeugen auf den Schiffen, haben
jedoch übereinstimmend und glaubwürdig ergeben, dass die israelische
Marine, schon bevor sich ihre Soldaten auf die Mavi Marmara abseilten,
das Schiff mit Granaten angriffen hat und dass von den Helikoptern das
Feuer auf die Passagiere auf dem Oberdeck eröffnet wurde.
Auch wenn man das Gewaltverbot der UNO-Charta außer Betracht lässt und
der israelischen Marine ein Kontrollrecht einräumt, verletzte diese Art
der Kontrolle das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel, welches im
Völkerrecht ein wesentliches und verbindliches Prinzip darstellt. Die
israelische Marine benutzte exzessive und unverhältnismäßige Gewalt. Die
Schiffe wurden nach dem Überfall nicht kontrolliert, sondern gezwungen,
Kurs auf den israelischen Hafen Ashdod zu nehmen, sie wurden entführt.
Die dortige Kontrolle führte zu dem voraussehbaren Ergebnis, dass sich
keine Waffen an Bord befunden hatten. Das Angebot, ausgewählte Güter auf
dem Landweg nach Gaza zu bringen, war insofern nicht akzeptabel, als die
Flottille Anspruch auf den Transport der gesamten Frachtladung hatte.
Handelte es sich letztlich bei der Seeblockade und ihrer Durchsetzung
gegen die Free Gaza Flottille um eine rechtswidrige Aktion, ein
Kriegsverbrechen, so stellt sich diese auch als Akt der Aggression gegen
den Staat dar, dessen Flagge das angegriffene Schiff trägt. Dieser
Staat, hier die Türkei, wäre durchaus zu militärischen
Verteidigungsschritten gegen den Angriff berechtigt gewesen. Man kann
nur froh sein, dass das nicht geschah, weil dieser Schritt
unvorhersehbare Konsequenzen hätte nach sich ziehen können [17].
Der Angriff auf die MV Marmara ist mitunter als Akt der Piraterie
bezeichnet worden, weil über den militärischen Angriff und die
Entführung der Schiffe hinaus, sämtliches Gepäck der Passagiere
einbehalten wurde und nur einzelne Stücke wieder in den Besitz ihrer
Eigentümer gelangten. Strafrechtlich gesehen liegt insofern ein Akt des
räuberischen Diebstahls vor, der offensichtlich vornehmlich der
elektronischen Ausrüstung der Passagiere und zahlreichen Journalisten an
Bord galt: Mobiltelefone, Kameras, Laptops und Diktaphone. Bei aller
Ähnlichkeit z.B. mit der Kaperung des Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro
im Jahr 1985 durch vier Palästinenser, die den US-Amerikaner Klinghoffer
ermordeten und über Bord warfen, kann man die Entführung der Free Gaza
Flottille doch nicht als Piraterie bezeichnen, da dieser Begriff in dem
Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 auf Entführungen
durch private Personen und Gruppen angewandt wird [18]. In Art. 101
heißt es:
"Seeräuberei ist jede der folgenden Handlungen:
a)jede rechtswidrige Gewalttat oder Freiheitsberaubung oder jede
Plünderung, welche die Besatzung oder die Fahrgäste eines privaten
Schiffes oder Luftfahrtzeugs zu privaten Zwecken begehen und die
gerichtet ist
i) auf Hoher See gegen ein anderes Schiff oder Luftfahrzeug oder gegen
Personen oder Vermögenswerte an Bord dieses Schiffes oder Luftfahrzeugs;
ii) an einem Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht, gegen
ein Schiff, ein Luftfahrzeug, Personen oder Vermögenswerte;..."
Der Fall der Achille Lauro war seinerzeit der Anlass für die "Rome
Convention for the Suppression of Unlawfull Acts against the Safety of
Maritime Navigation", die 1988 geschlossen wurde und alle diejenigen
Personen wegen eines internationalen Verbrechens unter Strafe stellt,
die ein Schiff gewaltsam entführen und/oder dabei eine Person verletzen
oder gar töten. Auch diesen Akt des Diebstahls kann das israelische
Militär und die Regierung nicht mit Sicherheitsinteressen als Akt der
Selbstverteidigung rechtfertigen.
III. Resümee
Sowohl die Blockade und erneute Besatzung des Gazastreifens wie auch die
Seeblockade und der Überfall auf die Free Gaza Flottille erweisen sich
in der juristischen Analyse als schwere Verstöße gegen das Völkerrecht.
Die Verantwortlichen wären ohne Zweifel vor dem Internationalen
Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zur Rechenschaft zu ziehen, wenn
sich Israel der Rechtsprechung des IStGH unterworfen hätte. So ist es
denjenigen Strafverfolgungsbehörden überlassen, ein
Untersuchungsverfahren gegen die Verantwortlichen zu eröffnen, die wie
in Deutschland, Norwegen, Belgien oder Spanien ein Völkerstrafrecht
haben, wo die Opfer internationaler Verbrechen auch außerhalb ihres
Territoriums die Täter verfolgen können. So haben bisher Passagiere der
Free Gaza Flottille aus Norwegen und Deutschland Strafanzeige gegen die
Verantwortlichen des Überfalls eingereicht. Daneben erwägen die
Geschädigten jeweils zivile Klagen wegen des Verlustes ihres Eigentums,
welches ihnen vom israelischen Militär weggenommen wurde.
Abgesehen von gerichtlichen Aktionen ist jedoch eine internationale
unabhängige Kommission notwendig, die die immer noch ungeklärten
Einzelheiten des israelischen Überfalls und der Vorkommnisse auf den
Schiffen untersuchen muss. Die von der israelischen Regierung
eingerichtete Untersuchungskommission vermag schon auf Grund ihrer sehr
eingeschränkten Untersuchungsbefugnisse (z. B. keine Vernehmung der
beteiligten Soldaten) den Ansprüchen der Unabhängigkeit und
Vollständigkeit nicht zu genügen.
Fußnoten-
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13. Juli 2010.
- Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2. Juni 2010.
- Detaillierte Auflistung bei IHH, Flotilla Campaign Summary Report
Palestine our Route Humanitarian Aid our Load, June 2010, S. 12.
- So IHH, Summary Report, S. 19, 21.
- Vgl. Richard Lightbown, The Israeli raid of the Freedom Flotilla 31
May 2010, A review of media ressources, 28. Juni 2010, S. 10.
- Vgl. Richard Lightbown, op. Cit. S. 11, 12.
- Vgl. Scobbie, Ian, Israel's Withdrawal from Gaza, the Law of
Occupation and of Self-Determination. In: Kattan, Victor (ed.), The
Palestine Question in International Law, British Institute of
International and Comparative Law, London 2008, p. 637. International
Association of Democratic Lawyers (IADL), White Paper on the Legal
Issues Implicated in the most Recent Attacks on Gaza, Paris 2009, p. 2. 6
- United Nations 2009: Consolidated Appeal Process - Humanitarian Appeal
2009, November 2008: S. 32-33.
- Deutschland hat sich bei den genannten Resolutionen der Stimme enthalten.
- Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14. Juli 2010, S. 2: Barroso
nennt Lockerung der Gaza-Blockade wirkungslos.
- Vgl. The Home Front Command, Interception of the Gaza flotilla -
Legal aspects, June 2010; Außenministerium Israels,
http://www.mfa.gov.il/MFA/Government/Law/Legal+Issues+and+Rulings/Gaza_flotilla_maritime__blockade_Gaza_Legal_background__31-May-2010.htm (10.06.2010).
- Vgl. Bothe, Michael, Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Vitzthum,
Völkerrecht 2007, Rn. 85 ff. Heintschell von Heinegg, Blockade. In:
Wolfrum, Rüdiger (ed.), Max Planck Encyclopedia of Public International
Law, http://www.mpepil.com (10.06.2010), Rn. 28 ff., 33 ff.
- Vgl. Heintschel von Heinegg (Anm. 12), Rn. 25.
- So Posner, Eric, The Gaza Blockade and International Law, Wall Street
Journal, 4. Juni 2010, unter Verweis auf die vom US Supreme Court
gebilligte Blockade der Häfen der Konföderation durch die Union im
amerikanischen Bürgerkrieg. Dagegen Heller, The Civil War and the
Blockade of Gaza (a Reponse to Posner), 4. Juni 2010,
http://opiniojuris.org/2010/06/04/eric-posners-incomplete-editorial-on-the-blockade-of-gaza/ (10.06.2010).
- Vgl. Paech, Norman, Angriff auf Völkerrecht. Hintergrund. »Free Gaza«
- oder was die freie Welt unter Freiheit versteht. In: junge welt v. 16.
Juni 2010, S. 10 f.
- Vgl. Stuby, Gerhard, Israel am Scheideweg. In: Sozialismus online v.
4. Juli 2010.
- So auch Farhud, Elisa, "Richard Falk: The Shock Resulting from
Flotilla Attack has reinforced the Campaign to de-Legitimize Israel",
http://opednews.com
/articles/Richard-Falk-The-Shock-Resulting-from-Flotilla-Attack-06222010.html (01-07-2010).
- Vgl. Ridley, Yvonne, From Klinghoffer to the Gaza Flotilla,
http://www.counterpunch.com/ridley06022010.html (03.06.2010).
Hamburg d. 19. Juli 2010
Prof. Dr. Norman Paech
* Quelle: Website der EJDM (Europäische Vereinigung von
Juristinnen & Juristen für Demokratie und Menschenrechte);
www.eldh.eu;
dort gibt es auch eine englische Version des Gutachtens.
Israel signalisiert Einlenken
Tel Aviv will offenbar UN-Untersuchung des Überfalls auf die Gaza-Flotte
akzeptieren *
Die israelische Regierung will nun offenbar doch einer Untersuchung des
Angriffs ihres Militärs auf die Gaza-Hilfsflotte durch die Vereinten
Nationen zustimmen. Das verlautete am Montag aus Regierungskreisen.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe UN-Generalsekretär Ban
Ki Moon informiert, daß sein Land bereit sei, sich an einer solchen
Untersuchung zu beteiligen. Bei dem Überfall auf den Schiffskonvoi, der
humanitäre Hilfsgüter in den von Israel abgeriegelten Gazastreifen
bringen sollte, waren am 31. Mai neun Teilnehmer getötet worden. Dies
sei das erste Mal überhaupt, daß Israel einer UN-Untersuchung über seine
Streitkräfte zustimme, hob die Tageszeitung Haaretz hervor.
Der UN-Generalsekretär war Israel zuvor offenbar stark entgegengekommen
und hatte vorgeschlagen, vor der Bildung einer offiziellen
Untersuchungskommission zunächst ein Komitee zu bilden, das die bislang
von Israel und der Türkei durchgeführten Nachforschungen überprüfen
solle. Das bedeutet allerdings auch, daß die offizielle UN-Kommission
ihre Arbeit erst dann aufnehmen kann, wenn beide Staaten ihre
Untersuchungen für abgeschlossen erklärt haben. Als Leitung für das
vorläufige Komitee hat Ban den früheren neuseeländischen Premierminister
Geoffrey Palmer vorgeschlagen, dessen Stellvertreter soll der am
kommenden Wochenende aus dem Amt scheidende kolumbianische Staatschef
Álvaro Uribe werden.
Unterdessen sind in der Nacht zum Montag (2. Aug.) bei einer Explosion im
Gazastreifen 33 Menschen verletzt worden. In dem durch die Detonation
zerstörten Gebäude lebte ein Aktivist der Essedin-el-Kassam-Brigaden,
des bewaffneten Arms der palästinensischen Hamas. Deren
Sicherheitsdienste erklärten, das Haus sei Ziel eines weiteren
israelischen Bombenangriffs geworden. Ein Armeesprecher Israels wies
dies ausdrücklich zurück. Bereits am Wochenende hatte die israelische
Luftwaffe jedoch Ziele im Gazastreifen angegriffen. Dabei wurden ein
Mensch getötet und 17 weitere verletzt. (AFP/apn/jW)
* Aus: junge Welt, 3. August 2010
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